Gastbeitrag von Werner Weimar-Mazur

Große Gesänge und subsongs als Geschenk an sich selbst und die Leser*innen – über Ulrike Draesners hell&hörig, Gedichte 1995 – 2020

es war so: hell (…) und saugte die bilder von ihr. Mit diesen Versen aus dem vorangestellten Gedicht kontaktlinsen beginnt der neue Gedichtband hell&hörig. Ulrike Draesner lässt keinen Zweifel daran, wie sie die Welt poetisch betrachtet: vor einem Spiegel stehend, hell, tastend tränend mit einem veränderten/verändernden, im wahrsten Sinne des Wortes „verrutschten“ Blick voller Bilder.

es war so: hell / die augen tränten ich stolperte / … / sie vergaßen mir zu erklären, dass die dinger / verrutschen zwischen glaskörper und lid / tastend tränend … / … ich vorm spiegel / die linse dieses kleine grüne boot / mit all ihren bildern schon durch mein gehirn gleiten / sah – // pulte sie raus / setzte sie auf die fingerkuppe / und saugte die bilder von ihr (kontaktlinsen, Seite 5)

Poesie als Antwortspektrum auf die Welt. Und als Fangfrage an sich selbst und die Leser*innen. schauen – nachschauen, denken – nachdenken, sprechen – nachsprechen als poetologische Methode und als deren künstlerisches Medium. Alle fünf sechs sieben Sinne in einem Buch, ein Wahrnehmen der Mitwelt. Das alles und viel mehr ist hell&hörig auch. Dazu ein kleines ästhetisches Tableau mit Hühnern als Design auf einer Einkaufstasche auf dem Buchcover. Über dem Titel schwebend ein Ei, wie die berühmte Frage nach dem Huhn und dem Ei.

ich löffele an meiner / mutter … / jeden / morgen aus // der dünnen / eischale // … // als schädelchen / (nach oben geöffnet) / gezackt // … // jeden tag esse ich / von ihr (mère détachée, Seite 147)

Nach ihrem Opus Magnum doggerland, einem Anfang Oktober 2021 erschienenen Langgedicht über eine versunkene Welt, macht Ulrike Draesner mit ihrem neuen Gedichtband hell&hörig zu ihrem 60sten Geburtstag im Januar 2022 sich selbst und den Leser*innen ein Geschenk. Der Band versammelt Gedichte aus 25 Jahren (1995- 2020), angefangen vom Debutband gedächtnisschleifen (1995), über to change the subject (2000), für die nacht geheuerte zellen (2001), kugelblitz (2005), berührte orte (2008), subsongs (2014) und nibelungen.heimsuchung (2016) bis hin zu 31 bislang unveröffentlichen Gedichten. Die ausgewählten Gedichte sind in 11+1 Kapiteln zu Tonspuren und inneren Korrespondenzen zusammengestellt und thematisch gruppiert.

mund? / wie viele sind das nochmal? / zählt der bauch dazu? / das, was ihr gern die scham nennt? / und was soll daran weiblich sein? / … // ich poeme das hier nicht ich / habe da ein mundproblem go- go eine rosaprosa / nämlich „weibliche zunge“ / ah die ist es also? / die zunge hinten vorm muskel potnia potnia / theron die (zunge) sich dreht / … die ist es nicht (sag’s mit deinem ganzen weiblichen mund, Seite 255)

Πότνια θηρῶν oder Potnia theron, deutsch ‚Beherrscherin des Wildes‘, eine weibliche Gottheit aus der Antike, die als Herrin der wilden Tiere, aber auch Fabelwesen und Zwittergestalten, auftrat und für den Schutz der wild lebenden Tiere zuständig war (Quelle: Homer Ilias, bzw. Wikipedia) wird im nachgestellten Schlussgedicht bzw. Kapitel go- go- gorgeous, einem sogenannten selbstporträt mit biene bzw. einer Art „Credo“ der Autorin beschworen und der „Herrlichkeit“ gegenübergestellt, ihr entgegengesetzt, in einer „weiblichen“ oder „Muttersprache“, der „Mundart“ der Dichterin, in der Hoffnung auf ein gemeinsames, gleichberechtigtes Miteinander von Frauen und Männern, von Natur und menschlicher Zivilisation. Ulrike Draesner führt auch hier ihre feministischen Ansätze und Konzepte weiter.

Mit dem Titel des Bandes und den Gedichten in ihm verweist Ulrike Draesner auf die subsongs, die Lieder unter den Liedern, Stimmen, die man gemeinhin nicht hört, wie es in der Verlagsankündigung zum Buch heißt. Die Hellhörigkeit gehört, einem spirituellen Verständnis nach, neben der Hellsichtigkeit, Hellfühligkeit, dem Hellwissen und dem Hellriechen/-schmecken/-tasten, zu den sogenannten „Hellsinnen“. Das sind intuitive, durch Verfeinerung der physischen Sinne ausgebildete besondere Vermögen der menschlichen Wahrnehmung. Ohne Ulrike Draesner nun direkt „spirituelle“ Intentionen zu unterstellen, geht es doch auch ihr um ein erhöhtes Sensorium durch die Poesie. Hellhörig: das ist laut Wörterbuch (DWDS) die Fähigkeit, aus nicht Ausgesprochenem etwas herauszuhören, zu erraten, zu erahnen. Ulrike Draesner verschiebt aber durch das „&“-Zeichen zwischen „hell“ und „hörig“ die Nuancen und betont damit das Synästhetische dieses Kompositums. Dichtung als Zusammenführung besonders empfindsam in sich aufgenommener Sinnesdaten, aber auch als eine Form der analytischen Trennung und Reflexion. Hell (ahd./mhd. hel), mit viel Licht erleuchtet, leuchtend, licht, tönend, von hohem Klang – und: hörig (von hören), sich dem Willen eines anderen unterwerfend, historisch auch unfrei, leibeigen, bzw. hörig, mit dem Ohr wahrnehmen, vernehmen. Das Ausstellen dieses Begriffs, der doch negativ besetzt ist, macht, ja genau: hellhörig. Das ist ungewöhnlich. Geht es um eine Umwertung des Begriffs? So einfach ist es also nicht mit dem helleren Hören. Sie scheint kleine Fallstricke einzubauen. Ja, Ulrike Draesners Lyrik ist, wie es Margrit Irgang im SWR2 sagte, Lyrik, für das Hören gemacht. Doch auch für ein Horchen in sich selbst hinein und ein Überprüfen der begrifflichen Konnotationen.

Es entstehen so auch weitere Wortverbindungen: Man kann zum Beispiel das Wort „hell“ mit dem phonetisch und etymologisch ähnlichen Wort „Hall“ verknüpfen. In den Gedichten entstehen, im Vorgang einer geschärften Aufmerksamkeit, eines genauen, verfeinerten Hörens oder eines Hörens hinter dem Hören, hinter dem Gesagten, Hallräume, leuchtende, von hohem Klang.

wie viele mensch / eine ist in sich / wie silbergrün / der ginster sticht / wie viele / steine so ein weg / die amseln stelzen / winde hier wie du / den weg entlang mir / kommst du stein / erinnerung du / rund gewaschenes ich (st. john‘s gardens, Seite 237)

aber verhängt / in der tiefe gebreitet, unsichtbar / weit, feindselig nicht, niemals taub / nur zu rufen bei welchem namen / nur (herrlichkeit, Seite 212)

In den Zwischenrufen, wie sie die Dichterin nennt, welche die einzelnen Kapitel 1 bis 11 einleiten und jeweils über ein bis vier Seiten gehen, aufgelockert und ausgeschmückt mit roten Zwischen-Überschriften und kleinen, meist eigenen Tableaux, Skizzen, Zeichnungen der Autorin, legt Ulrike Draesner erste eigene Literaturerfahrungen dar, entwirft sie poetologische Randnotizen oder kleine, tagebuchartige Betrachtungen über das Meer, die Küste, die Rolle der Pronomen und des „lyrischen Ichs“, das Denken und den Zustand der Sprache, deren Erfindung, über die Muttersprache, die Mehrsprachigkeit und das Übersetzen, über die Schönheit von Poesie, über Wald, Landschaft, Tiere … und über die Liebe, auch die Liebe zur Poesie!

Hier sagt die Dichterin Sätze wie:

Die Erinnerung ist körperlich … Die Welt wächst (1 girls).

Jedes Schreiben kann als eine Form des Übersetzens verstanden werden. (2 to change the subject)

Das „lyrische Ich“ ist eine irreführende Erfindung. … Es kann sprechen: das Gras. Der Baum. Eine Schale. Ohne dass dieses Sprechen gespenstisch wird. (3 bläuliche sphinx)

Jedes Gedicht: eine eigene Suche nach Form. (4 vokabeltrainer)

Ist Sprache der Filter, durch den Welt überhaupt erst wahrgenommen wird, leben verschiedene Sprachgemeinschaften in verschiedenen Welten. (5 how dire – commen tier)

Der Augenblick des Gedichteschreibens: hyperwach – löscht sich, noch während er geschieht. (6 wald)

Die Schönheit von Poesie als das Gegenwärtig-Sein von etwas, das anders nicht sein kann als in diesen Worten (7 heim(s)tücke)

Sie (die Tasche) erlaubt einzusammeln, mitzunehmen, etwas bei sich zu tragen. Hilfe, Nähe, Nahrung werden mitgedacht. (8 mère détachée)

etwas Lebendiges ansehen gehen, in anderen Sprachen (9 tierbelieb)

Sprache, in Erfindung gekippt. (10 der unsichtbare bart der räuber)

Liebe – schon hat sprache recht (11 hot hott roast)

Und, man muss als Leser*in Ulrike Draesner Recht geben. hell&hörig ist ein schönes, ist ein gutes (im Sinne von gelungen, im Sinne von wertvoll), und ein sehr persönliches Geschenk!
Dem bleibt fast nichts mehr hinzuzufügen

als:

ich gedichte ohne mousa kein andra ennepe moi … warum blieb ich so lange / warum bin ich noch da (ich gedichte: ferse & fresse, Seite 223)

und:

Herzlichen Glückwunsch Ulrike Draesner zum 60sten Geburtstag!

Werner Weimar-Mazur

Ulrike Draesner: hell&hörig. Gedichte 1995 – 2020. 272 Seiten, München (Penguin Verlag), 2022.

Erscheint am 17. Januar 2022
Buchpremiere, geplant: 26.01.2022, Haus des Buches / Literaturhaus Leipzig e.V.