17.10. Protokoll

einige hastig mitgeschriebene Protokollversuche vom 17.10. einer zu zwei Drittel realpersonalen und ein Drittel virtuellpersonalen Session

vier Themen

  1. Celan
  2. Mayröcker
  3. neuste Hermetik


Flaschenpost

– Warum erreicht einen das Gedicht wie eine Flaschenpost?

– in der Flasche ist eine Karte drin

– Sammlung von Flaschenpostnachrichten in der Niederlanden: das meiste waren persönliche Mitteilungen, Liebesnachrichten etc.

– ist Dichtung dialogisch?

– das Spielerische der Flaschenpost, das Alte der Karte hat man als Kind simuliert, das „Haptische“

– der Flaschenpostbegriff zuerst bei Mandelstam, hat er die Auslegung mitgemeint?

– der Adressat sind alle, aber nur einer liest es (Nietzsche: „für alle und keinen“)

– Celan übernimmt das und akzentuiert das anders: Zeugenschaft

– das Dialogische wird eher verhindert durch die zeitliche Distanz

– Flaschenpost ist eine verzögerte Kommunikation, das war für Celan wichtig. vielleicht gibt es in der Zukunft Leser, die einen verstehen

– in 30 Jahren wird der Dialog erst stattfinden

– in der Jetztzeit verstanden zu werden, wäre das Schlimmste, was einem Avantgardetext passieren kann

– das Meer ist nicht unschuldig

– die Flaschenpost diente doch einst dazu, auf Hilfe zu holen

– die Idee für eine Zukunft zu schreiben, beruht auf einer metaphysischen Illusion?

– die „Wiedervorlage“ ist doch das wesentliche Geschäft der Literaturwissenschaft

– die Punkte ausmachen in der Literatur, die „bleiben“

– Höflichkeitseinwand gegen das „Bleibende“ der Literatur. es muss doch Mitmenschen geben, an die ich mich wenden kann

– die Germanistik will sich die Literatur als Material zum Ausbeuten aneignen („Kapitalismus“)

weggebeizt

– Entstehungsgeschichte, Begriffsgeschichte des Gedichtes „weggebeizt“. die Grundlage sind tatsächlich geologisch Beschreibungen

– Hintergründe: Plagiatsaffaire Goll/Celan, Briefkorrespondenz von Celan mit seiner Frau, Illustrationen der Frau; Reichert: Ich habe nichts verstanden

– Celans Notiz an der Stelle Bergsons: „Atemkristall“

– terminologische Qualitäten von Celans Gedichten, große Frage: gewinnen oder verlieren die Gedichte durch diese Kommentare, wenn sie verlieren: lässt man es sein, wenn gewinnen, warum hat uns Celan das verschwiegen? komm ich der Bedeutung näher?

– wenn man weiß wie „Büßerschnee“ aussieht, wird die Vorstellung, die vorher fröhlich-allgemein war, präziser

– bürgerliche Vorstellung von Dunkelheit als Qualität

– Erklärung ersetzt nicht die Metapher, die Hermetik, die Komplexität

– man bewegt sich auf dem harten Boden wie Celan, man darf sich um den Leser keinen Kopf machen

– darf ich bei solch hermeneutischen Texten als KritikerIn überhaupt kritisieren, man hat ja nie genug gelesen = Immunisierungsstrategie; aber woher kommt die kritische Einstellung: alles hat ja Vorlauf, was wird von der Germanistik erschlossen, was nicht, hunderttausend Fördergelder etc.

– ein idosynkratisches Urteil kann man immer abgeben, aber inwiefern trägt das zum Diskurs bei
– Beispiel der Schulklasse: sie kommen von selbst drauf, sogar „Viertklässler“

– aber inwiefern gewährt einem ein unbefangenes Lesen einen Einblick in so etwas wie „Engführung“, also sein „Schreibkonzept“

– inwiefern wird Dunkelheit zelebriert, kann ich mich in einem dunklen Resonanzraum einrichten, gerade das Unverständnis wird so das Wesentliche, das große Rätsel

  bei Minus 40 muss man Masken tragen wegen der Atemkristalle

– Axel Gelhaus: Atemkristall = Zyklon B hat Kristallstruktur (aber die Bergsonstelle nicht vergessen!)

– das Hermetische verleitet dazu, alle möglichen Schlüssel zu applizieren (aber die Engführung?)

– erst wenn der Dichter im sprachlichen Prozess sichtbar wird, kann ich das Thema Holocaust angehen, man sollte ihn nicht so stark darauf zurückführen

– Verhandlung von Sprache, ihren (Un)Möglichkeiten, nach einem Ereignis, was kann ich sagen, wie kann ich weitersprechen, aber auch Begriffe wieder verhandelbar machen

– Einspruch Celans gegen seine Einordnung in die Tradition, neue Begründung der Dunkelheit, die nichts mit der z.B. alchemistischen zu tun hat

– was ist das Gegenteil von Hermetik: Gebrauchsanweisungen? Wittgenstein: man kann keine Gebrauchsanweisung so schreiben, dass sie alle gleich verstehen

– Hans Georg Gadamer: wer bin ich und wer bist du, Celan im Zentrum einer großen geistigen Auseinandersetzung: Hermeneutik vs Dekonstruktion, Derrida hat Gadamer den „guten Willen zur Macht“ vorgeworfen, weggebeizt ohne die Kenntnis der Termini interpretiert, Verschmelzung im „guten Gespräch“; Gadamer: Hermeneutik lebt ohne die Kenntnis solcher Termini weiter; Derridas Shibboleth, worauf deutet es? in jedem Celanschen Gedicht steckt ein Datum, ein Ort, ein Unwiederholbares, das sich am Körper eingeschrieben hat, Irreduzibilität. (Hütteneintrag bei Heidegger: die Hoffnung auf ein kommendes Wort)

– for more information re-read


Mayröcker

– Skrupel für eine Beschäftigung mit dem Text so formulieren, dass es eine interessante Beschäftigung mit dem Text verspricht

– Kritik an Mayröcker: changiert im Laufe des Lebens, früher: eher Unverständlichkeit, dann ab 2000 eher: zu viel Persönliches

– was muss man wissen, um eine Rezension zu schreiben, auf wieviel Vorgeschichte Bezug nehmen. darf man die Geschichte der Rezeption ignorieren? der Betrieb als gereatrische Anstalt, die Frischfleisch braucht. dennoch kann Unwissen neue produktive Zugänge eröffnen, aber welchen Preis zahlt man dann im Betrieb

– Hermeneutik, findet sie überhaupt noch statt im alltäglichen Rezensionsbetrieb

– Mayröcker obwohl internetfern ist sie im Schreiben zeitgenössisch: sample, Offenheit gegenüber sprachlichem Aufschnappen. extremes Kommunikationssystem, offen für außen, das sich natürlich persiflieren lässt

– das Herausfallen aus einem konventionellen Rahmen führt zu einem nächsten

– wie wird ein Mayröckerband gesetzt: was Mayröcker sagt wird bei Suhrkamp gemacht

– Unterschied Schrift Mayröcker und von ihr vorgelesen: alle Manierismen und avantgardischen Mittel fallen sozusagen weg, es kommt sehr gut an, Aura, „Charisma“, es gehen ihr alle „auf den Leim“, sie ist der „Urmeter“

– Verantwortung des Kritikers gegenüber der Position aus der er spricht

– Rückkehr des Avantgardistischen in dem Spätwerk

– irgendwann liest man sie einfach ergeben (oder nicht): bitteschön, da ist sie

– Eskapismus? wenn in der Küche Аrzneimittelstapel umfallen, was ist daran interessant, ist das nicht parasitär?

– auf einer Mayröckerkonferenz ist es die ganze Zeit um Frauenthemen gegangen, Verfall des Körpers, Haare ausfallen  etc und sie konnte anscheinend das Thema über die Gendergrenzen hinaus setzen

– das Politische kann natürlich auch gerade anwesend sein, wenn es vordergründig nicht anwesend sein

– das Publikum hat immer seine schlechten, klar, Gründe, aber natürlich auch seine guten: und plötzlich kann jemand wie Mayröcker, durch die ja auch die Sprache spricht (und ihre Verben wie „weinen“ sind ja nicht rein sentimental, sondern beschreiben durchaus auch sublim einen politischen Weltzustand), vor 700 Leuten lesen und alle hören gebannt zu. aber kann so ein Eindruck nicht täuschen, ist sie nicht avancierter und wer sitzt denn da, das sind ja auch interessierte Leute.


hermetische Gedichte

– ein Gedicht, das altmodisch wirkt, wird zur ungewollten Flaschenpost

– muss ich bei Poesie nicht immer alles verstehen (als Antwort auf die Klagen der Bürger und sogar Intellektuellen: Poesie ist so schwer!), anderes Lesen: nicht immer alles gleich einordnen. auf der anderen Seite: die bequeme Haltung, ist halt Poesie, da muss man nicht alles verstehen, wirkt auch falsch

– inwiefern verdecken rätselhafte Gedichte Schwächen? welche Bedürfnisse werden da befriedigt, wenn man „den Schleier“ nicht ganz lüften kann?

– je kürzer ein Gedicht, desto besser kann man die Rätselhaftigkeit durchhalten

– alte Texte, die dunkel sind, weil man die Kontexte nicht mehr hat, die aber mal „klar“ waren

– eine andere Art der Hermetik, die eher frustiert, „privatissima“, die einen nicht reizt, zu entschlüsseln

– das Geheimnis muss eingekleidet sein in die Vorstellung, worauf es eine Antwort verbirgt, es muss eine interessante Lösung versprechen. bei Alchemie geht es um Geburt, wie können Verbindungen entstehen?

– die berühmte Geschichte Borges (oder war es Papini), in der ein Dichter sein Riesenepos auf zwei Wörter zusammenkürzt

– ist keinen unmittelbaren Sinn ergebende Konzeptkunst nicht gerade das Gegenteil von hermetisch? inwiefern steckt in jedem Gedicht Konzeptkunst, die von Aussagen wegstrebt, von dem, was Czernin nennt: „was das Gedicht mir zu bedeuten“ gibt

– der eine (Celan) der von Irreduzibilitäten spricht, aber selbst reduziert, der das in den Körper, die Zeit, den Ort singulär Eingeschriebene beschwört in einer Dichtung, die weit über das hinausgeht auf eine zeitlose Dichtung. anders dagegen Egger, der gerade nicht reduziert, sondern barock ausufert, beschreibt, detailliert, aber wörterbuchhaft-konzeptuell in einer Überzeitlichkeit der Ornament-Schrift, aber gerade einen Spaziergang, einen konkreten Ort simuliert. ich komme nie zu einer Perspektive. anders als im Barock aber, wo ja alle Engel die Herrlichkeit Gottes singen.

– Egger als Endpunkt einer postmodernen Sprachauffasung, die mehr und mehr die Beziehung zum Bezeichneten und Ding lockert und die Sprache ihrer Eigenbewegung überlässt und schließlich die letzten Taue kappt – das knüpft natürlich über Schestag an Dada an und den Beginn des letzten Jahrhunderts, geht aber über in eine frei flottierende Konzeptdichtung, die aber Spaziergänge à la Südtiroler Naturbursche simuliert

– die Grenzen der Wissenschaft und Kritik: diese „magischen Momente“, auf die gewisse Arten von Hermetik auf einmal rekurriert

– nochmal abschließend die Frage: wie spricht ein Gedicht eigentlich zu uns? wie spricht es, obwohl es dann auch wieder sich dem gängigen Gespräch verweigert? ist es besser, je mehr Wege es anbietet? inwiefern ist es ein Kommunikationsgegenstand. akademische, kritische, kreative, poetische Antworten auf diese Fragen …