Kein Platz für weisse Männer?

Der Dichter Philip Larkin wird vom britischen Lehrplan gestrichen

Philip Larkin ist in Grossbritannien kein Schulstoff mehr. Wurde er gecancelt? Kritiker und Übersetzer Florian Bissig blickt auf einen unbequemen Nörgler, der nicht mehr in den Zeitgeist zu passen scheint.


Was auf Lektürelisten kommt, ist politisch. Diese Erfahrung machte auch das Komitee, das in Grossbritannien für den Lehrplan des Sekundarschulabschlusses in Englischer Literatur zuständig ist. Der Lyrik-Kanon sollte erneuert werden. So fügte man Werke von Frauen, Schwarzen und «LGBTQ+-Stimmen» hinzu und musste dafür andere streichen. Über die Klinge sprang auch ein Gedicht von Philip Larkin, ausgerechnet kurz vor dessen 100. Geburtstag. Die Streichung stiess manchen Lesern sauer auf und wurde als identitätspolitische Abrechnung mit einem weissen alten Mann und Konservativen kritisiert.

Larkin ist einer der wichtigsten englischen Dichter der Nachkriegszeit. Als Bibliothekar im nordenglischen Hull führte er ein zurückgezogenes Leben. Sein schmales Werk schrieb er zwischen Büroschluss und Pub. Der Stil seiner Lyrik ist geprägt von einer scharfen Beobachtungsgabe für das Alltägliche und Allzumenschliche; die Grundhaltung ist oft pessimistisch oder zynisch. «Entbehrung ist für mich, was für Wordsworth die Narzissen waren», sagte Larkin, der persönlich als Miesepeter galt. Als nach seinem Tod Briefe mit rassistischen und anderen wüsten Ansichten auftauchten, erhöhten sich die Hürden zur Wertschätzung seines Werks.

Vulgär? Gewiss, aber den Engländern vom Mund abgeschaut

Wird nun Larkin zu seinem 100. Geburtstag durch die Streichung aus dem Curriculum ein zweites Mal beerdigt? Dann wäre Gelegenheit, auf sein Gedicht «This Be The Verse» zurückzukommen. «Dies sei der Vers», den ihr auf meinen Grabstein meisseln sollt, heisst es in Anspielung an ein Requiem von Robert Louis Stevenson. Anders als im gestrichenen Gedicht «Ein Arundelgrab», das man mit Blick auf die Schlusszeile («Was von uns überlebt ist Liebe.») als romantische Feier der Liebe lesen kann, lässt sich hier das Unbehagen erahnen, das manche Leser bei Larkin beschleicht.

«They fuck you up, your mum and dad», geht das los. Vulgär? Gewiss, aber den Engländern vom Mund abgeschaut. Mami und Papi machen dich fertig. Sie wollten’s vielleicht nicht, aber so ist es. Denn «they were fucked up in their turn». Ihnen haben ihre eigenen Alten den Rest gegeben, diese Narren in alten Hüten. Und so geht das Elend immer weiter, wie nach einem Naturgesetz: «Man hands on misery to man.»

Trotz der Kraftwörter und des schnoddrigen Tons ist das kein Wutausbruch. Wie bei Wordsworth ist die Emotion ruhig verarbeitet und geht in tadellosen kreuzgereimten Strophen auf, in denen auch Humor aufblitzt. Larkins Analyse auf Missstände im frühen 20. Jahrhundert zu reduzieren, greift zu kurz. Wer sich fortpflanzt, hat eine Verantwortung, die er nicht tragen kann. Das ist eine Wahrheit, die heute, während die Weltbevölkerung über acht Milliarden steigt und der Klimakollaps bevorsteht, in neuen Korollaren gültigbleibt.

Jeder Optimismus, der eingewendet werden könnte, war nicht Larkins Sache. Und so schliesst das Gedicht: «Get out as early as you can, / And don’t have any kids yourself.» Reitet der Junggeselle und Miesmacher hier einen Angriff auf das bürgerliche Familienidyll und verabsolutiert seine eigene Lebensform? Der Schluss auf die Biografie wäre unzulässig und falsch. Auch Larkin litt am Gedanken der Auslöschung. Seine kühlen Verse hat er den eigenen Sehnsüchten abgerungen. Was von ihm überlebt, ist nicht schlechte Laune, sondern die Wahrheit des Pessimisten in erstklassigen Versen. Auch jenseits von Lehrplänen.

Florian Bissig

Text vom 25. November 2022 aus der Aargauer Zeitung, mit Dank an CH Media