46 Minuten im Leben der Dämmerung – von Irina Bondas

Das Aufgreifen antiker Stoffe birgt eine eigentümliche Brisanz. Bei der Entstehung nationalistischer Perspektiven diente das Altertum als Flucht- und Fixpunkt. In Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurden gefährliche Fragestellungen in mythologische Gewänder gehüllt. Heute, in einer sich selbst entwachsenen Historizität, geprägt von Globalisierung und Ideenkrisen müssen wir uns erneut fragen, welche Bedeutungen die Wiege der europäischen Kultur haben kann.

Seit vielen Jahren gehört Alice Oswald zu den bekanntesten englischsprachigen Lyrikerinnen der Gegenwart. Mit 46 Minuten im Leben der Dämmerung liegt nun erstmals ein gleich zwei preisgekrönte Gedichtbände umfassendes Buch in deutscher Übersetzung vor. Antike Topoi sind nicht nur Kopf und Fuß im Schaffen der Altphilologin, auch formell führt und denkt sie die Dichtung der Archaischen Zeit weiter. Das Epos-Substrat MEMORIAL Eine Ausgrabung aus der Ilias rezitiert Oswald auswendig, selbst auf dem Papier entwickelt der nicht metrische Text einen melodischen Sog und ebnet seinem Publikum den Weg zu Homer weniger durch die Performanz als durch das Performative, die Geste. Eine Übertragung der Ilias soll MEMORIAL sein, und ist viel eher eine Mimesis. Oswald verengt den Fokus auf die geradezu zahllosen Krieger und ihr Verschwinden. Auf Namenslisten folgen knappe Lebens- und Sterbeberichte, umrahmt von Homerischen Gleichnissen. Allmählich kommt bei diesen Ausgrabungen anachronistisches Wortmaterial zum Vorschein, Brechungen der getragenen Verse mit der Ironie kognitiver Dissonanzen, als würde man in der Toilette eines Archäologiemuseums auf einen Kondomautomaten stoßen: Zigeuner, Meerjungfrauen, Astronauten und geblendete Teenager mischen sich unter das trojanische Volk; Othryoneus der Träumer, Verlobter der „strahlendäugigen neurotischen“ Kassandra „ging errötend in die Schlacht und starb / Und alle lachten bis sie nicht mehr konnten“; der Tod Satnios‘, des „durchschnittlichen“ Sohns des Wassers, lässt den Fluss kalt: „Kaum zu glauben dass es seine Mutter war“.

Voller Selbstzweifel erzählt sich das Epos, die Figuren werden zu Museumsexponaten, die neben sich stehen, zu Post-Archetypen. Sie ziehen vorbei und gehen dahin. Das Gedicht schließt den Kreis zu seinem eigenen Ursprung: dem Epitaph. Die Gleichnisse bringen Struktur, Distanz und Gewichtigkeit, bis sie zunehmend anfangen als rhetorische Figuren im Leerlauf den Ton anzugeben. Und in der Vergeblichkeit des Nachrufs kristallisiert sich der ganze Ernst der Lage heraus. Die Inventarisierung des Vergessens ist vorerst abgeschlossen.

Wie wenn Gott einen Stein wirft

Und ein jeder blickt auf

Um das Stieben der Funken zu sehen

Und dann ist es vorbei

Auch FALLEN – ERWACHEN widmet sich mythologischen Themen, aber vor allem Naturgedichten als Kontemplationsflächen für das Ephemere. Taktile Beobachtungen von Flora und Fauna, Momentaufnahmen aus der Erinnerung und das immer wiederkehrende Motiv des Wassers fangen atmosphärische Stimmungsbilder ein, das lyrische Ich ist distanziert, zieht sich hinter den großen Fragen in die Rolle eines Mediums zurück. Gleichzeitig ist der Zugang zu dieser Welt ist niedrigschwellig: Der Leser kann sowohl mit Orpheus Kopf auf dem Fluss entlangtreiben als auch in dunkle Tiefen hinabtauchen. Mit wenig Experimentierfreudigkeit aber viel stilistischer Finesse und distinktiven Tropen schafft die passionierte Gärtnerin Bewegung, mal stromförmig, mal stockend, „allzu feinfühlig / als gäb es nun / herz aus der / dose“. Nichts wuchert hier, die Sprache des Organischen ist kultiviert wie ein Klostergarten: Entstehung und Verfall in einer Möbiusschleife, der Tod als Keimung. Der Band schließt mit dem deutlich evokativeren Zyklus TITHONOS 46 Minuten im Leben der Dämmerung, einem geradezu Beckett‘schen Ringen um das Ende. „darf ich aufhören bitte“ sind Tithonos letzte Worte auf den sich lichtenden Seiten, bevor auch sein Epilog Strophe für Strophe verblasst.

In ihrer behutsamen Übersetzung lassen Melanie Walz und Iain Galbraith, dessen Nachwort ein großer Gewinn für das Buch ist, das Deutsche klingen und fließen und oftmals an passenden Stellen das Original durchscheinen. Viel Mut haben die übersetzerischen Entscheidungen kaum erfordert, eher Geduld, Sorgfalt und Können – wie Ausgrabungen oder Hortikultur. Und genau das brauchten die Texte auch. Wer kathartische Wirkung erwartet, wird enttäuscht. Oswalds Antike verspricht keine neuen Erkenntnisse, sie versucht sich nicht an einer Übersetzung in die Gegenwart, aber praktiziert auch keinen Eskapismus. Viel eher wirkt diese Lyrik wie aus ihrer Zeit gefallen – und damit zeitlos.

Irina Bondas