Alexander Estis

RESIDENCE EVIL

Über Stipendien, Preise und Anträge im Literaturbetrieb

 

»Das langersehnte Alleinsein für die Arbeit an ihrem Manuskript entpuppt sich für die Schriftstellerin Anna als Alptraum. Ein Zimmerchen mit Bad- und Kochnische in einem Fachwerkhaus einer stillgelegten Künstlerkolonie in der südwestdeutschen Provinz. Drei Monate Schreibstipendium, Anwesenheitspflicht, ohne Ausnahme. Im Zirkel um das Haus eine weiße Linie, die von den Stipendiaten nicht übertreten werden darf.« – Nur geringfügig übertrieben wirken solche Kalamitäten des Residenzlebens, wie sie die Kölner Autorin Ruth A. Müller in ihrem bald erscheinenden Roman mit dem gewitzten Titel Das Abwesenheitsstipendium (Vakant Verlag, 2023) schildert.

Aber wir Schriftsteller sollten uns doch wirklich nicht beklagen. Wir haben es gut. Wo geht es Kulturtätigen schon besser als hier? In Frankreich werden sie für Lesungen nicht bezahlt, in der Türkei verrotten sie in den Kerkern, in Russland werden sie gefoltert! Gehören wir hier im deutschsprachigen Raum nicht zur am besten abgesicherten, am höchsten honorierten Boheme? Ist es nicht so, »dass es eine noch nie dagewesene Vielfalt von öffentlichen und privaten Förderungen gibt«?[1]

Und gerade ich sollte mich doch am wenigsten beklagen. Gehöre ich nicht zu einer glücklichen Minderheit, die nicht nur für die Literatur, sondern auch von der Literatur leben kann – zumindest dank der Stipendien? Hatte ich nicht das Glück, hervorragende Stipendien zu erhalten? Etwa mein erstes einjähriges, vergeben von der Lydia-Eymann-Stiftung: Großzügig dotiert, gewährt es ein Jahr vollkommener Schaffensfreiheit – keinerlei Verpflichtungen, keine Kontrolle, keine Berichte. Diese Phase war nicht nur für meine literarische Arbeit, sondern auch für deren Professionalisierung entscheidend; nicht umsonst hieß es über dieses Stipendium in einer Zeitung: »Das Jahr, das Schriftsteller macht«.

 

Stipendien des Grauens

Doch selbst wenn man schon »zum Schriftsteller gemacht« ist: Ein einziges Stipendium genügt nicht für ein ganzes Schriftstellerleben. Kennen wir Autoren es daher nicht alle – dieses routinierte Durchforsten des Internets nach Ausschreibungen, die Freude des Entdeckers, das sich Hineinträumen ins Waldhäuschen, in die Berghütte, in die Jugendstilvilla, in die Schlosswohnung? Schon siehst du dich, den Aristokraten des Geistes, in der idyllischen Abgeschiedenheit den Stift führen; ab und an schweift der Blick durchs Fenster über die Gipfel, über die Wipfel; dem vierhundertseitigen Jahrhundertroman fehlt nur noch der Feinschliff.

Jäh reißen dich aus diesen Träumereien die Ausschreibungsbedingungen: Du bist nicht mehr 35, du hast keine drei aufgeführten Theaterstücke geschrieben, du hast kein fünfzigseitiges Manuskript zum Thema soziale Ungerechtigkeit in der Schublade rumliegen, du stammst nicht aus Hessen, du lebst nicht im Ennepe-Ruhr-Kreis und, so tragisch das ist, du schreibst nicht über Magdeburg und auch nicht über Gotha.

Vielleicht wärest du ja sogar bereit, über Gotha zu schreiben, wenn man dich dorthin einlüde, aber hättest du dazu überhaupt Zeit? Die Ausschreibung des sechsmonatigen Aufenthaltsstipendiums fordert von dir, »literarische Gesprächsrunden durchzuführen, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, wöchentliche Zeitungsbeiträge zu gestalten sowie mit literaturinteressierten GothaerInnen und Bildungseinrichtungen zu arbeiten.« Und weil mit all der Freizeit, die dir neben diesen Verrichtungen noch bleiben wird, in Gotha nichts anzufangen ist, darfst du auch noch ein Arbeitstagebuch führen. Für das Schreiben literarischer Texte ist ja nach dem Stipendium immer noch Zeit.

Das mag man in Kauf nehmen – immerhin gibt es dafür 5.000 Euro. Pro Monat? Nein, pauschal, »in sechs monatlichen Teilbeträgen ausgezahlt«. Das ist nicht nur mathematisch ein Kuriosum (warum nicht 6.000?), sondern weit unter jeglichem Mindestlohn. Doch die eigentliche Absurdität dieser Dotierung erschließt sich aus einer einfachen Additionsaufgabe: Eine Lesung sollte mit mindestens 500 Euro honoriert werden, Teilnahmen an Gesprächsrunden und sonstigen Veranstaltungen mit mindestens 300, ein Zeitungsbeitrag wird, je nach Länge, hundert Euro oder mehr einbringen – die aufsummierten Regelhonorare für die jeweiligen Aufgaben würden also den Stipendienbetrag übersteigen, je nach Bekanntheitsgrad und Auftraggeber sogar bei Weitem.

So kann sich ein Stipendium als schlechtbezahltes, befristetes Anstellungsverhältnis entpuppen. Aber – ganz vergessen – man kriegt ja noch eine Wohnung! Und eine Wohnung, das ist schon viel. Es sei denn, es handelt sich um eine Dachkammer, um ein Zimmer mit Gemeinschaftsküche, Gemeinschaftsbad und Gemeinschaftsakustik, um eine Gartenlaube, ein Baumhaus, eine Klosterzelle oder eine Bahnwärterbude. Dann wäre man vielleicht lieber in der eigenen Wohnung geblieben, die man übrigens, selbst als Alleinstehender, nicht aufgeben wird, nur weil man für ein paar Monate nach Rottweil oder Beeskow oder Eisenbach zieht; in der Regel haben die Stipendiaten daher zumindest teilweise auch die häuslichen Mietkosten zu tragen.

Doch aufgrund der prekären Lebenssituation und der verschärften Konkurrenz greifen vor allem junge Autoren nach jedem Strohhalm, der ihnen Anerkennung und Absicherung verspricht. Die Förderer können fast beliebige Konditionen verlangen – Interessenten finden sich immer. Auf diese Weise verkommen Förderinstitutionen recht eigentlich zu Forderinstitutionen.

 

Preise aus der Hölle

Zum Glück gibt es da noch die Literaturpreise. Vom glücklichen Erwählten wird nichts gefordert, außer für Pressefotos zu lächeln, Blumen zu halten und Hände zu drücken, er wird laudiert, beschenkt, beklatscht, beneidet und bewundert, das Feuilleton klopft an, Einladungen zu Talkshows flattern ins Haus, die Signierstunde dauert vielleicht noch immer keine sechzig Minuten, aber doch deutlich länger als zuvor. Auf den ersten Blick ist der einzige Nachteil von Preisen, dass sie immer dann wenig bringen, wenn man sie nicht gewinnt. Bei Lichte besehen aber bringen zahlreiche Preise auch dem Gewinner nichts – oder nehmen ihm sogar etwas weg, zum Beispiel die Nutzungsrechte an seinem Text.

Nur selten erscheint das so ehrlich formuliert wie in einer Ausschreibung, bei der »du keine Literaturpreise und auch keinen lebenslangen Verlagsvertrag« gewinnst: »Das Projekt soll deine Freude am Schreiben beflügeln und es geht darum, diese Freude mit anderen zu teilen.« Meist werden umgekehrt die dürftigen, wenn nicht gar dornigen Lorbeeren und insbesondere die höchst fragwürdigen Prämien angepriesen – ob es sich nun um ein Schreibcoaching handelt, bei dem »nur die Hotelübernachtung« zu zahlen ist, ob um Lektorate durch Personen eher zweifelhafter Qualifikation, ob – der Klassiker unter den diffusen Objekten der Schreiberbegierde – die Publikation in einer Anthologie, die keiner korrigiert, keiner kauft und keiner liest.

Das Nutzungsrecht an den dort zu publizierenden Texten wollen die Preisgeber (man verzeihe das Wortspiel) meist schon mit der Einsendung eingeräumt sehen, ohne dass man über den Kontext, den Verlag, die Nachbarschaft etwas wüsste. So kann die Anthologie auch bei ansonsten nicht zu verachtenden Ausschreibungen zum Ärgernis werden.

Es ist noch nicht lange her, da kam ich in die engere Auswahl für einen Preis. Nachdem ich mich zunächst darüber gefreut hatte, dass mein Text in der entsprechenden Anthologie abgedruckt werden sollte, wich diese Freude dem blanken Entsetzen, das ich übrigens mit einigen Kolleginnen teilte, die ebenfalls nominiert waren. Wie ich nämlich erfuhr, stand mir nicht einmal ein Freiexemplar zu. Ich schrieb dem Verleger, ich fände es unwürdig, meine eigenen Publikationen auch noch käuflich erwerben zu müssen, und ich könne es mir als Berufsautor auch gar nicht leisten – als Mensch also, der sich nicht zuletzt durch seine Publikationen finanzieren muss und ohnehin vielleicht nicht ganz an der Spitze der Einkommenspyramide steht. Daraufhin titulierte der Verleger mich nur noch als »sehr geehrter Herr Berufsautor«. Ich wiederum zog meinen Text zurück. Er antwortete, ich dürfe den Text nicht zurückziehen. Ich antwortete: »Doch.« Er antwortete: »Nein.« Ich berief mich auf das Urheberrecht. Er bestand auf einer Klausel der Ausschreibungsbedingungen, die das Urheberrecht aushebeln sollte. Ich versuchte zu erklären, was Nichtigkeit im Vertragsrecht bedeutet. Er beharrte auf seinem Recht. Ich drohte mit einer Klage. Er schrieb: »Ich werde Sie und Ihren Text streichen.«

Nach einer derart martialischen Schlussstrichattacke in dieser literarisch-juristischen Straßen- und Schaumschlägerei war meine zarte Autorenseele aufs Ärgste zerrüttet. Zum Glück hat die weite Wettbewerbslandschaft des deutschsprachigen Literaturbetriebs für alle Geisteszustände etwas zu bieten, darunter einen Selbsthilfe-Schreibwettbewerb, bei dem sich zwar »Menschen mit psycho-sozialen Beeinträchtigungen oder seelischen Leiden« bewerben können – aber keinesfalls sollten. Denn erstens dürfen »Menschen mit psycho-sozialen Beeinträchtigungen« offenbar nur über eines schreiben, nämlich ebendiese Beeinträchtigungen, und zweitens auch das nur autobiographisch. Für die Arbeit an solch sensiblen Themen bietet die Ausschreibung aber immerhin den gebotenen Schutzraum: »Anonyme oder pseudonyme Beiträge bleiben unberücksichtigt.«

Solche, wie ich sie nennen will, Themenetiketten (oder sollte man gleich sagen: thematische Stigmatisierungen?) finden sich auch bei deutlich seriöseren und höher dotierten Ausschreibungen – etwa wenn Wettbewerbe für migrantische Autoren auf die eine oder andere Weise stets auch verlangen, dass die eingereichten Texte Migrationserfahrungen thematisieren; die Autoren werden so auf ihre Rolle als Migranten fixiert, ihre Werke fetischisiert und als »migrantische Literatur« schubladisiert.

 

Das unheimliche Antragswesen

In der Regel freilich sind Preise, Stipendien und Förderungen ohnehin von Übel, eben weil man sie nicht erhält. Und dann erhält man oft nicht einmal eine förmliche Absage, geschweige denn eine Begründung. Selbst auf eine Eingangsbestätigung wartet man vielerorts vergeblich, denn das macht zu viel Arbeit. Die Arbeit hingegen, die uns die Förderer abfordern, fängt lang vor Beginn der Förderung an, ja lang vor der Kür – nämlich schon mit der Antragstellung. Jede Institution hat ihre eigenen Formulare, Vorschriften, Vorlieben. Selbst wenn das Anschreiben, der Antragstext, die Leseprobe bereits fertig sind, werden sie in mühseliger Kleinarbeit für jede Ausschreibung, jede Stiftung, jede Fördereinrichtung neu anzupassen sein: Hier habe das Exposé eine Seite, dort mindestens drei; mal sollen die Blätter geklammert, nur nicht geheftet sein, dann wieder lose, aber unbedingt einseitig bedruckt. Ganz zu schweigen von den hochkomplexen Anonymisierungsalgorithmen mithilfe von Kennwörtern, die auf einem Kuvert, im Dateinamen, in der Mail, links oder rechts in der Kopfzeile jedes Blattes erscheinen müssen, aber auf keinen Fall wahlweise den Namen, das Thema der Ausschreibung oder den Titel des Textes enthalten dürfen.

Die eine Jury erwartet, dass man sieben Buchexemplare schickt, ohne jede Möglichkeit, sie zurückzuerlangen; für die andere ist zwingend ein adressierter und vorfrankierter Umschlag beizulegen, weil sie partout darauf besteht, die losen Antragspapiere zu retournieren – sei es auch ein halbes Jahr später, wenn sie vergilbt und längst obsolet sind. Nicht selten sind es mehrere zig Seiten, die in siebenfacher Ausfertigung vorgelegt werden müssen. Wie gut, dass manche fortschrittlichen Ausschüsse heute ein »integrales PDF« an ihre elektronischen Postfächer zu senden erlauben – nur dass diese regelmäßig überfüllt sind und keine Nachrichten mehr empfangen können. Ganz avancierte Förderer wissen auch diese Schwierigkeit zu vermeiden, indem sie den Antrag über ein Online-Formular übermitteln lassen, das allerdings mit immer neuen, vorab nicht einsehbaren Eingabefeldern überrascht; in diese verteilt man den Antragstext mittels mühseliger mikrochirurgischer Vivisektion, nur damit die Eingabemaske mit der Zuverlässigkeit aller Perfidie gerade dann abstürzt, wenn alles ausgefüllt ist.

Manche Ausschreibungen üben sich in geheimnisumwobener Wortknappheit, andere wetteifern in Umfang und paragraphenreicher Pedanterie mit Richtlinien der Europäischen Union, ja warten mit diversen alphanumerisch unstrukturierten Unterabschnitten, labyrinthisch ins Nirgendwo führenden Querverweisen und verwaltungssprachlich aufgeblähten Statuten auf, die zusammen jedoch ein alles andere als juristisch scharfes Bild ergeben (oder geltendem Recht sogar widersprechen, wie die allmächtige Zauberklausel des oben zitierten Verlegers). Ohnehin sieht man gefühlt jeder dritten Ausschreibung unmittelbar an, dass sie von Fach-, wenn nicht Kulturfremden formuliert wurde – schon die formalen Anforderungen sind vage, missverständlich, nicht selten sogar widersprüchlich.

Überzeugen Sie sich durch eine kurze Suche selbst! Erst soll man entscheiden, ob das eigene Projekt eher dem »kulturell-partizipativen« oder dem »künstlerisch-integrativen« Bereich zuzurechnen sei. Dann ist ein Anschreiben mit Begründung einzureichen, daneben aber auch ein Motivationsschreiben; ein Portfolio, zusätzlich aber auch Manuskriptproben; ein Exposé, aber ergänzt um eine Projektbeschreibung; und, das Beste, ein CV – und mit ihm ein Lebenslauf. All dies kann nur einem Zweck dienen: Die Bewerber wie Buridans Esel handlungsunfähig zu machen.

Der Lebenslauf soll bald 30 Zeichen haben (das ist weniger als dieser Satz vor der Klammer), bald soll er »eine halbe Seite lang« sein – nur dass eine halbe Seite sehr unterschiedliches heißen kann, wenn es sich nicht um eine sogenannte Normseite handelt. Wie aber eine Normseite funktioniert, scheint für Förderer vollends ein unergründliches Mysterium und daher Quell endloser Spekulationen zu sein: Die einen wünschen sich Normseiten mit 2.500 Zeichen (aber Normseiten haben nun einmal nicht mehr als 1.800 Zeichen), die anderen bevorzugen Normseiten in der Schriftart Times New Roman (aber Normseiten können nur mit sogenannten Festbreitenschriften erzeugt werden, zu denen die Times-Type nicht zählt). »Leerzeichen, Tabstopps und Absätze werden nicht berücksichtigt«, teilt uns ein großzügiger Ausschreiber mit, während ein anderer unerbittlich statuiert: »Leerzeichen, unvollständige Zeilen und Leerzeilen werden mitgezählt – bitte angeben«. Das ist auch – oder erst recht – für Menschen mit vertieften typographischen Kenntnissen mehr als kryptisch.

Derartige Vorgaben sind jedoch nicht zufällig, sondern sie sollen den Gremien die Arbeit erleichtern. Das ist nur zu verständlich, sind sie doch von der schieren Fülle der Einreichungen oft überfordert und arbeiten bisweilen nur ehrenamtlich. Wenn das allerdings nicht der Fall ist, findet über den Umweg der formalen Ausschreibungsvorgaben eine – nur auf den ersten Blick mikroskopische – Verlagerung von Arbeitsaufwand weg von bezahlten Mitarbeitern ausschreibender Institutionen auf die prekär freischaffenden Künstler.

Nicht nur formale Interna, sondern auch Strukturwandelprozesse und Innovationen fördernder Einrichtungen werden bisweilen auf dem Buckel der Freischaffenden ausgetragen. So wünscht sich ein Theater die an sich sehr begrüßenswerte »Demokratisierung der Spielplangestaltung«, wobei die gesamte Belegschaft des Hauses einbezogen werden soll; wer sich mit einer Projektidee bewerben möchte, muss um dieser Demokratisierung willen jedoch drei Ausscheidungs- und Feedbackrunden durchlaufen – selbstverständlich bis auf die zuletzt auserwählten drei Personen unbezahlt. Für die Entschädigung Freischaffender reicht das demokratische Denken hier offenbar nicht, und das, so ist zu vermuten, nicht aus Bosheit oder dem Willen zur Ausbeutung, sondern weil das Bewusstsein für die Bedürfnisse freischaffender Autoren wie üblich einfach fehlt.

Diese Verschiebung von Belastungen von der Institution auf die Freischaffenden gipfelt in der Unsitte der Teilnahmegebühren, die von den Einsendern erhoben werden – und nicht selten, wenn man es überschlägt, die ausgelobte Summe decken oder sogar überschreiten.

 

What follows

Natürlich kann man immer mehr Geld, bessere Bedingungen, gerechtere Verteilung fordern – und man muss das sogar tun. Es wäre uns Autorinnen und Autoren aber schon mit den berühmten kleinen Schritten geholfen, die größere Veränderungen anstoßen mögen.

Ein kleiner Schritt, der gar nicht so klein ist, soll hier als Beispiel dienen: Die Schriftstellerverbände könnten, unterstützt von Bund und Ländern, eine einheitliche Ausschreibungsplattform lancieren, die den Aufwand nicht nur für die Bewerber, sondern auch für die Ausschreibenden enorm reduzieren würde – zum Beispiel nach dem Muster der amerikanischen Ausschreibungsplattform submittable. Schon durch die bloße vereinheitlichende Leistung eines solchen Portals könnten auf ein Schriftstellerleben gerechnet ganze Monate an Arbeitszeit gespart werden (und wer das für eine Übertreibung hält, hat noch keine Anträge bei bundesdeutschen Förderinstitutionen gestellt).

Zugleich könnte die Plattform gewisse Goldstandards garantieren, so etwa die automatische Anonymisierung der Einsendungen – und das ganz ohne Kuvertwirtschaft und Kennwortwirrwarr. Daneben wären bestimmte Mindestanforderungen einzuführen, denen zum Beispiel Aufenthaltsstipendien genügen müssten, um auf dieser Plattform überhaupt zu erscheinen. Selbstverständlich wird man nicht verbieten können und wollen, dass auch andere, problematische oder unattraktive Ausschreibungen weiterhin florieren. Doch gäbe es dank einer offiziellen Plattform erstens eine Art Referenzwert, an dem sich Ausschreibungen messen lassen müssten, und zweitens einen Filter, der professionellen Autoren die Suche erleichtern würde. Außerdem könnte die vereinheitlichende Wirkung eines solchen Portals die Austreibung der Bürokratie aus dem Geistesleben anstoßen – derzeit nämlich erleben wir im Antragswesen umgekehrt die Austreibung des Geistes durch Bürokratie.

Wenn sich Förderinstitutionen auf diese und andere Weise wieder langsam zu Förderinstitutionen entwickeln könnten, können auch wieder mehr Autoren von der – und für die Literatur leben. Denn jetzt leben die meisten nurmehr dafür, von der Literatur leben zu können.

 

* Einige Ideen und Hinweise auf konkrete Ausschreibungen verdanke ich Leni Karrer und Sean Keller.

 [1] Clair Bötschi: Digitalisierung der Kunstförderung? Zeit für neue Strukturen! Essay für die Kulturpolitische Gesellschaft, https://kupoge.de/blog/2021/05/19/digitalisierung-der-kunstfoerderung-zeit-fuer-neue-strukturen/

 

 

 

Alexander Estis, geboren 1986 in Moskau in einer jüdischen Künstlerfamilie, lebt als freier Autor in der Schweiz. Zuletzt erschien als sein sechstes Buch der Prosaband „Fluchten“ bei der edition mosaik. Für FAZ, NZZ, SZ, DIE ZEIT und andere Zeitungen schreibt Alexander Estis Kolumnen, Essays und Kommentare. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kurt-Tucholsky-Preis