Alexander Weinstock über Heaney

Im Dreischritt

Über Seamus Heaneys Electric Light

Natur, Geschichte und Dichtung – Seamus Heaney führt in Electric Light (2001) eine kunstvolle Entfaltung dieser durchaus topischen Themen- und Motivkomplexe der Literatur vor. In zwei Teilen versammelt der Band dabei ebenso lyrische Reiseberichte und Kindheitserinnerungen, wie Nachrufe auf Dichter*innen und Freund*innen, aber auch Adaptionen und Übersetzungen.

Toomebridge ist eine Ortschaft, gelegen am nordwestlichen Rand des Lough Neagh, mitten in Nordirland. Toomebridge ist aber auch Schauplatz des Gedichts, das Electric Light eröffnet und sogleich jenen thematischen Dreischritt etabliert, der den Band grundiert: Hier wird eine buchstäblich ausufernde Naturkulisse, in der Lough Neagh und der Fluss Bann ineinander stürzen, aufgerufen, an die blutige nordirisch-britische Geschichte erinnert und die poetische Energie der Gegend beschworen, für deren Beweis nicht nur das Gedicht selbst einsteht, sondern auch der mitgeführte Verweis auf ihren Platz in Heaneys Werk.

Was sich dabei andeutet und im weiteren Verlauf des Bandes immer deutlicher zu Tage tritt, ist die Verwobenheit dieser Komplexe. Die von Heaney evozierte Natur, die oft und gerne im Modus der Reise erschriebenen Landschaften Irlands (Ballynahinch Lake), Spaniens (The little Canticles of Asturias), Jugoslawiens (Known World) oder Griechenlands (Sonnets from Hellas), sind niemals unberührt. Sie sind angereichert, aufgeladen, bisweilen entstellt durch Geschichte, durch Ereignisse, die sie geprägt haben und die von dem sie bereisenden Ich der Gedichte erinnert werden – aus fremder wie aus eigener, aus verbürgter wie erfundener, tradierter wie erlebter Erfahrung.

Natur ist in Heaneys Gedichten daher immer in Kontakt versetzt zu einer Sphäre der Kultur, so, wie eine Spielart von Geschichte immer auch die einer individuellen Biographie, und Dichtung die von vorbildhaften Autoren wie Heaneys eigene ist, die im Bezug auf ihre Vorbilder entsteht. Und es gelingt den Gedichten in Electric Light in besonderer Weise, diese vermeintlichen Dichotomien nicht nur zu unterlaufen, sondern ihre Elemente in verschiedenen Konstellationen im besten Sinne poetisch aufeinander zu beziehen. In Out of the Bag überlagern sich Aspekte der eigenen Herkunft und Sozialisation mit dem Portrait eines Arztes und Fragen nach historischen Orten und Praktiken der körperlichen wie seelischen, aber auch spirituellen Heilung. The Real Names verknüpft die Theateraufführungen einer Schulzeit mit Skizzierungen von Mitschülern, Shakespeares Dramen, seiner Prägekraft für das lyrische Ich und biographischen Spekulationen.
Alexander Weinstock

Anders als in den beiden genannten, Zeit- und Erlebnisebenen umfangreicher gestaltenden Gedichten, verdichten sich diese Bezüge in einigen kürzeren Texten in einzelnen pointierten Bildern, wo sich etwa die Hände der Schüler, gedrillt beim Sport, denen „Francis of Assisi’s / In Giotto’s mural“ (Vitruviana) anverwandeln, oder die Spiegelung eines Berges im See sich in ihre Betrachter*innen einsenkt „like a wedge knocked sweetly home / Into core timber.“ (Ballynahinch Lake)

Electric Light beleuchtet so die verschiedenen Facetten dieser zwischen den Kernthemen des Bandes samt ihrer Variationen und Verzweigungen sich entfaltenden Zusammenhänge von Landschaften, Traditionen, literarischen Formen und Lebensverläufen
– Zusammenhänge, die als solche vielleicht erst im Gedicht sichtbar und das heißt: überhaupt nur poetisch erfahrbar gemacht werden können.


Sing meinen Song

Über Seamus Heaneys Electric Light

Wer kann eigentlich Gedichte schreiben? Und woher? Oder warum? Ohne sie je direkt zu stellen, verhandelt Seamus Heaneys Electric Light (2001) Fragen nach literarischer Autorschaft und der Rolle des Poeten. Im Zentrum des Bandes stehen Modelle und Vorstellungen von den Voraussetzungen der Dichtung, ihrer Kraft und ihren Grenzen, die dargestellt, aber auch ausgehandelt werden in ihrem ureigensten Terrain: dem Gedicht.

Es wird viel gesungen in Electric Light. Zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib, zur Rettung oder zur Erinnerung und Bewahrung – zum Vergnügen also und aus purer Not. Wo aber gesungen wird, da ist die Dichtung nicht weit, als Form und als Funktion, wie sie von Dichtern seit je her aus einer gleichermaßen hübsch idealisierten und poetisch produktiv gemachten Vorstellung der Antike, elegant um sich selbst kreisend, an ihre Gegenwart geknüpft wird. Mit einem Band, das Tradition heißt und um das man sich mindestens genau so hübsch und produktiv streiten kann, verhandelt doch, was wir heute Literatur nennen, immer schon auch seine eigenen Bedingungen, Anlässe und Ansprüche mit, was wiederum meist und gerne mit ihren Urheber*innen in Verbindung gebracht wird. So auch bei Heaney, der diese Zusammenhänge insbesondere dort noch weiter treibt, wo er sie in einer Reihe von Text- und Formadaptionen zur Darstellung bringt. Die drei im Band versammelten Eklogen führen nicht nur Vergil mal implizit als Gattungsahnherren, mal explizit als Vorlagengeber und als Figur in ihrer Dialogstruktur mit, sie thematisieren auch Vorstellungen von Autorschaft, die Poetik und Poesie miteinander verschränken: Die Bann Valley Eclogue hebt an mit einem klassischen Musenanruf, der Bitte um „a song worth singing“, wofür in diesem Fall Vergils IV. Ekloge das Vorbild liefert. In einer Adaption von dessen IX. Ekloge wird diskutiert, wie und was zu singen ist, angesichts einer Katastrophe, und wie Überlieferung zu gestalten ist, wenn zudem die Lieder selbst in Vergessenheit geraten, und die, die sie singen könnten, an ihrer eigenen Kraft zweifeln. Etwas versöhnlicher wiederum liefert nach Aufforderung der „Poet“ in der Glanmore Eclogue schließlich einen „summer song for the glen and you“.

Nicht nur die Musen werden in Heaneys Texten für diese Texte spielerisch verantwortlich gemacht, es sind, in vielleicht sanfter Verwandtschaft zu genialischen Dichtungsverständnissen, die Dinge selbst und insbesondere die Natur, die inspirierend wirken, indem sie sich „like a wedge knocked sweetly home / Into core timber“ (Ballynahinch Lake) in entsprechend aufnahmebereite Betrachter*innen senken. Wesentlich dominanter ist in Heaneys Band jedoch eine andere, ebenfalls klassische Quelle dichterischer Tätigkeit: „Book-learning is the thing“, heißt es in der bereits genannten Glanmore Eclogue. Und insbesondere solche Gelehrsamkeit, in der Tradition der in Out of the Bag explizit adressierten poeta doctus-Tradition Voraussetzung der Dichtung, durchzieht Electric Light – nicht nur als thematischer roter Faden, sondern auch als poetische Prinzip, speisen sich Heaneys Gedichte doch immer wieder aus unterschiedlichen historischen, kulturellen und künstlerischen Wissensbeständen, deren möglichen Mangel auf Seiten der Leserschaft abzumildern ein Anmerkungsapparat am Ende des Bandes wenigstens ein wenig ermöglicht. Explizit wird diese nie ausschließliche, aber doch prägende Selbstverortung in einer Tradition poetischer Gelehrsamkeit nicht nur in der genannten Formaufnahme der Ekloge, sondern vor allem in jenen Texten, die in der Tradition der Elegie eine Reihe von Nachrufen und Klageliedern für Dichter*innen und Freund*innen enthalten, für die und von denen zu singen Heaney im zweiten Teil des Bandes anhebt. Damit aber wird eine der drängenden, in den unterschiedlichen Autorschaftsverständnissen mitlaufenden und in den Gedichten mitunter selbst aufgeworfenen Fragen denkbar eindrucksvoll beantwortet: Das Vermögen der Dichtung, so lässt sich Heaney lesen, ist es, zu bewahren, zu erinnern und zu überliefern, Wahrnehmungen, Erfahrungen und Ereignisse – auch neu und in verunsichernder Weise – zusammenzufügen und dabei gegen ein Vergessen anzusingen.

Dass Seamus Heaney über ein entsprechend großes Songrepertoire aus Covern wie Originalen verfügt, stellt er in Electric Light unter Beweis. Dass er sich, während er die unterschiedlichen Verständnisse der eigenen Tätigkeit und Zunft nicht nur aufruft, sondern auch zum Antrieb der eigenen poetischen Produktion macht, keinem dieser Verständnisse dogmatisch verschreibt, sondern sie als unterschiedlich dominante Register seiner Dichtung miteinander in Kontakt und, um im Bilde zu bleiben, zum Klingen bringt, macht den besonderen Reiz des Bandes aus.

Alexander Weinstock