Ästhetische Vielfalt?

Weil die Ausführungen Breygers ziemlich vehement sind, könnte man auf den Gedanken kommen, es gehe hier nur um persönliche Wahrnehmungen. Ich weiß auch nicht, wie gut oder schlecht die Gedichte Czolleks ihrem Thema gerecht werden. Darüber möchte ich ausdrücklich nicht befinden.

Dennoch offenbart sich vermutlich an dieser Differenz in der ästhetischen Auffassung Wesentliches. Dies vorweg: ich teile Czolleks Unbehagen an bestimmten (atavistischen) Denkweisen europäischer, insbesondere auch deutscher Tradition, gerade auch in der Praxis. Da klingen sehr grundlegende, berechtigte Probleme an. Wie aber sollen sie gelöst werden? Dazu sagt Czollek in seinem Aufsatz sehr wenig – es steht aber zu vermuten (wenn man sein Umfeld und seine Tätigkeiten und bisherigen poetologischen Statements liest), dass ihm (und da steht er nur symptomatisch für eine sehr weit verbreitete Position) die Berücksichting migrantischer und diskriminierter Positionen bereits die fällige Veränderung bedeuten.

Was heißt das? Große SchriftstellerInnen wie Yoko Tawada, Farhad Showghi und Rainer René Müller sind vermutlich nicht nur nicht mitgemeint, da sie zu unmittelbar an eben diese Hochkultur anschließen, sondern werden nahezu unterschlagen. Das ist schon bemerkenswert.
Vermutlich geht es also um Positionen, die migrantische Probleme und Lebenserfahrung der Diskrimierung in den Fokus rücken. So weit, so gut. Die Formfrage scheint zu entfallen. Doch wer statt sozialistischem Realismus nun mehr oder weniger einen migrantischen, antidiskriminierenden Realismus fordert, das zeigt die Geschichte, ist eben nicht vor reaktionären Rückschlägen gefeit. Im Gegenteil, diese Verengung auf inhaltliche Aspekte ist bereits in Teilen problematisch. Es beginnt mit harmlosen, gut gemeinten Forderungen (die wie gesagt bestimmte MigrantInnen exkludieren), es endet mit Verdikten und Dekreten, die nicht nur oberflächlich urteilen, sondern eben auch genau an der Wirklichkeit, die sich eben keinem einfachen politischen Konzept fügt, scheitern. Und dies ist kein „slippery slope“ Argument, das zeigt sich in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder an Beispielen.
So einfach entkommen wir nicht unseren Aporien, so einfach gewinnen wir keine ästhetische Divergenz: auch Minderheiten sind abendländisch infiziert (und in der Vorstellung eines besseren Schreibens von Minderheiten schwingt manchmal sogar noch verbrämt die Vorstellung vom edlen Wilden mit). Das bedeutet nicht, dass strukturelle Asymmetrien reproduziert werden sollten, im Gegenteil öffnet diese Erkenntnis hin auf eine fundamentalere Gerechtigkeitsvorstellung. Es wäre schon traurig, wenn wir hier hinter die ganzen vielschichtigen Analysen von Foucault über Adorno bis Hamacher zurückfallen. Man muss sie nicht parat haben, aber ihnen gerecht zu werden, indem man etwas komplexer denkt, sollte doch möglich sein.

Breygers Kritik weist, unabhängig von der Frage, ob an Czollek das sich so exemplarisch zeigen lässt, auf eine Gefahr hin, die eine simplifizierende, (vermeintlich) politische Ästhetik mit sich bringt: die der Doktrin, die künstlerische Totgeburten zeitigt und unter Umständen komplexere Wahrnehmungen verdrängt und ihrerseits auszuschließen sucht.

Hendrik Jackson

 

Kleines PS, das nur indirekt zur Sache tut, aber um nicht missverstanden zu werden:
Dass der Lyrikbetrieb total verschlafen ist, stimmt schon auch (und Breyger wie Czollek würden dem wohl zustimmen). Verbeamtet, richtlinientreu, oder, wie es in einem alten Aufsatz auf lyrikkritik, den ich aus diesem Anlass hier zitieren möchte und auf ihn verlinke (auch weil er inzwischen schwer zu finden ist), heißt: „Neben ihnen [den großen, wichtigen, weißen Werken] soll alles wie Stückwerk aussehen, wie halb gar, hingeschmiert und kaum zu Ende gedacht.“ Ja genau, und solide soll es sein, und jetzt auch noch gerecht und divers, aber bitte nicht zu sehr. Kurzum: alles auf Seriösität, auf Schlafbaumlyrik gepolt. Ach, Stiefelhoff!