Ausflug nach innen

Die erste Auseinandersetzung mit Text ist unumgänglicher Weise das Lesen. Für mich gab es zwei Begegnungen, zwei Sprachen, also zwei Anfänge, so schien es, die sich schlussendlich als ein und derselbe herausstellten. Diese zwei Anfänge zu verbinden, sollte mir ermöglichen, den einen, für mich inzwischen gültigen Weg zu finden, den Zugang zu meinem Inneren, zum Schreiben offenzulegen. Zunächst das Lesen in der Muttersprache: Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam, Anna Achmatowa – eine Wanderung durch die Klassiker der russischsprachigen Moderne des 20. Jahrhunderts im Kindesalter, damit treffend auf ein kindliches, freudiges Erleben von Text als Bühne von Wahrnehmung. Zudem – russische Übersetzungen von Heine, Goethe, Baudelaire, Hafis, die mich ebenso uneingeschränkt erfreuten und etwas später erste Leseversuche im Deutschen in einer zweisprachigen Ausgabe von Mandelstams „Hufeisenfinder“ mit Übertragungen von Paul Celan und Rainer Kirsch. Ich erinnere mich, wie mir anhand der wenigen doppelt abgedruckten Übersetzungsversionen derselben Mandelstam-Ausgangsgedichte von Celan und Kirsch bewusstwurde, wie wenig verlässlich Lesen und Verstehen von Text zu sein vermögen, und wie hilfreich das Erleben der Anderen dabei werden kann, mein eigenes Erleben in Differenz zu setzen. Ich changierte in meiner anfänglichen Begeisterung zwischen den stark abgewandelten Versionen Celans und Kirschs wortgetreuen Übertragungen, um zum vorläufigen Entschluss zu kommen, beide Varianten dürften ihre ausgesprochene Gültigkeit beanspruchen. Es folgten erste Schreibversuche auf Russisch, in denen ich frühe Gedichte Mandelstams, wie mir heute scheint, zu imitieren versuchte. Letztendlich bildeten für mich die Gedichte damals einen von wenigen Referenzpunkten und es soll nicht weiter verwundern, dass der Suche nach eigenem Erleben von Welt und dem Fassen dieser Weltanschauung in Sprache kein originärer Ausdruck zu Grunde liegt. Wer Originalität behauptet, lügt – hinein in die Leere des eigenen Körpers, in dessen unzulängliche Bewegungen, in die Tollpatschigkeit der Augen beim Sehen der Dinge, wie sie sind. Die Originalität als solche muss hart erarbeitet werden, erlesen, erfahren und eingelebt. Sie kann sich bloß an sich selbst messen, unabhängig von Referenzen, unabhängig vom eigenen Text, der im Eintreten in die Welt einen autonomen Raum, eine Behausung für sich allein beansprucht.

Mit dem seinerzeit unkontrollierten Ausgesetztsein an die deutsche Sprache durch die ausschließlich deutschsprachige Umgebung, abgerundet durch das Ausliefern meines Verstandes an deutsche Fernsehkanäle, das Kinderfernsehen, das Privatfernsehen mit Talkshows, Soaps und Reality TV, veränderte sich die Sprache meiner Gedanken und mit ihr meine Traumsprache. Ich dachte und träumte auf Deutsch und dieser entscheidende Registerwechsel, der sich bald ebenso in der Sprache des schriftlichen Ausdrucks spiegelte, verlief organisch, für mich gänzlich unbemerkt. Ich las Gesamtausgaben von Brecht und Rilke, ekelte mich vor Brechts Eindeutigkeit und bewunderte Rilkes Kompromisslosigkeit. Mein glücklicher, kurzsichtiger Blick ermöglichte mir im Schreiben einen ebenso kurzen und direkten Weg, eine Abkürzung in mich hinein, nach der ich heute jedes Mal aufs Neue suchen muss, wenn ich mich vor der Überwindung hin zum sich möglichst bald artikulierenden Gedicht befinde. Etwa im Jahr 2006 verfasste ich, im Eindruck von Mandelstam und Rilke folgenden Text –

 

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Wenn Augen sich in Lidern spiegeln,
verwandelt sich mein Traum in Teer,
lässt Trauma sich in Traum versiegeln,
wird Raubtiertrauer, leer.

Die Spiegel formen mich in hellen Flecken.
Es Tag zu nennen wäre Übertreibung.
Ich will mich in mein Tier-Ich stecken,
Ein Nackter ist zu faul für Kleidung.

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Diesem Gedicht allerdings fehlt die zweite Strophe, an die ich mich beim besten Gewissen nicht erinnern kann. Was mir vor Augen ist, ist die Tatsache, dass ich das Gedicht in einem Rutsch geschrieben hatte, vom Anfang bis zum Ende in wenigen Minuten und mir selbst aus einem Originalitätsanspruch heraus verbot, nachträgliche Änderungen vorzunehmen. Später haderte ich mit dem Ausdruck „Tier-Ich“ und wollte ihn in „Tiersein“ umschreiben, beließ es aber glücklicherweise dabei. Was mich im Nachhinein zum Lachen bringt, ist die Tatsache, dass um diese Zeit bereits einige derjenigen Werke erschienen sind, die für mich bis heute zu den grundsätzlichen Referenzwerken meiner Dichtung zählen. Und die Gedichtbände, von denen ich spreche, verwandeln Wahrnehmung auf eine gänzlich andere Weise in Sprache. Sie begriffen schon damals, dass Sprache ein unzulängliches Werkzeug darstellt und nutzten die Unzulänglichkeit mit Hilfe unterschiedlicher praktischer Methoden, um das dehnbare, biegsame, formbare Material Sprache in lyrische Substanz umzuwandeln. Über einen Bekannten aus einer Schreibwerkstatt für Schüler*innen stieß ich, im wahrsten Sinne des Wortes, auf den kookbooks-Verlag und den Gedichtband „die räumung dieser parks“ von Daniel Falb. Zu sagen, dass sich mein Bild von Lyrik änderte, wäre vollkommen untertrieben. Mein Weltbild geriet aus den Fugen. Ich erkannte in Falbs Gedichten eine neue Möglichkeit zu sein – überhaupt eine Möglichkeit. Ich las –

 

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die messbare tiefe der organisation, die uns animierte. den urmeter
prüfen. die häuser bestehen aus kuchen.

montagne sainte-victoire´s twenty four expiring versions per time
unit. 
beachte das frischedatum der umgebenden dinge.

die natur produziert fertiggerichte. durch öffentliche ämter mithin
geht das geerntete, geht das körpergewicht bekleidet hindurch.

wir lagen übereinander, in der generationszeit. auf mir befand sich
ein präsident und die endlose reihe seiner lebendigsten darsteller.

sagt eine erbse zur andren. die nachschublinien sind über und über
mit wohngebieten bedeckt. rasen von bürgerbüros.

wenn strukturen auf die straße gehen, was ist dann die straße. und
das obst, am strauch sekundenlang optimal konserviert.

ich zahlte in der lebensmittelabteilung und bekam das geld am automaten zurück, das an den bäumen wächst.

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Solche Menschen gab es also, solche Gedanken wurden gedacht. Imitationsversuche scheiterten. Weitere Gedichtbände folgten. „Wie Alpen“ von Steffen Popp und Hendrik Jacksons „Dunkelströme“ warfen mich aus der Bahn. Hier wurde mit Sprache umgegangen wie mit einer Skulptur und das Skulpturale war augenscheinlich handwerklich meisterhaft. Ich fasste den Entschluss, dieses Handwerk zu erlernen und nahm ein Schreibstudium an der Universität Hildesheim auf. Bald darauf erschien der poetologische Sammelband „Helm aus Phlox: zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs“ von Cotten, Falb, Jackson, Popp und Rinck im Merve-Verlag. Ich las es und brachte mich damit einmal mehr aus der Fassung. Die Schönheit dieser poetologischen Einlassungen berührte mich und demotivierte mich im selben Maße, da mir bewusstwurde, wie viel Substanz meinem Schreiben, meinem Verstand fehlte, wie stumpf die Axt war, mit der ich anhob, das gefrorene Meer zu durchschlagen. Ich machte mir damit Mut, dass mein geistiges Alter nicht meinem sprachlichen Alter im Deutschen entspräche, feierte ich doch beim Erscheinen des Helms aus Phlox meinen zweiundzwanzigsten Geburtstag, innerhalb des Systems Gesprochenes-Deutsch allerdings erst den zwölften. Mir stand also die sprachliche Pubertät erst bevor.  Zu meinem Glück folgte ein entscheidender Einschnitt. In einem Hildesheimer Antiquariat fiel mir der Band „kochanie ich habe brot gekauft“ von Uljana Wolf in die Hände. Die bisherigen neuen Leseerfahrungen hatten mein Verständnis davon, was ein Gedicht sein kann erweitert und mein Empfinden von Genregrenzen aufgeweicht. Beinahe schien mir, ein Gedicht könne alles sein, außer ein Gedicht. Das Nichtgedichthafte würde ein neues Gedicht erst zum solchen machen, das substanzielle Einfassen von Erlebtem in die Gegenwart, einschließlich des Alltäglichen, des Basalen, des Niederen wie des Gehobenen und des Wissenschaftlichen. Zudem hatte ich unzählige handwerklich stümperhafte neue Gedichtbände renommierter Autor*innen in renommierten Verlagen gelesen, die diese Sicht zwar zu teilen schienen, denen es aber, meiner Meinung nach, eindeutig an Fähigkeiten fehlte, derartige poetologische Überlegungen ins Reale, ins Gedicht zu überführen – wie eben auch mir. Nun las ich Uljana Wolf –

 

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meine väter

sind einfache männer

 

sie haben töchter

wie ich eine bin

 

wir fragen geschickt

wir tragen gestickt

 

unseres vaters wort

noch in die dunkelsten wälder

 

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Es war eine Offenbarung.

 

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meine münder

sind keine einfachen väter

 

der erste spricht

ich habe vergessen

der zweite schweigt

ich wurde vergessen

 

der rest ist sich uneins

der rest setzt sich durch

 

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Eindeutig. Es waren Gedichtegedichte. Und ich hatte in meinem Leben solch schöne nicht gelesen. Die Kategorie Schönheit blitzte neu auf, verwandelt in einen Hybrid aus Vergangenem und Zukünftigem. Die „flurstücke“ von Wolf veränderten mein Lesen, ich entdeckte darin Gedanken, die ich mir selbst bereits gehorsam verboten hatte. Die Einfachheit und Klarheit von Wolfs Gedichten war unausweichlich, heilend. Wieder nahm ich Gedichte von Falb, Jackson und Popp zur Hand und entdeckte in Ihnen das, was ich nicht bereit war darin und auch in mir anzuerkennen. Waren also Falb, Jackson und Popp bei all ihrem Erneuerungswillen keine Traditionsbrecher? Waren sie die gleichen sentimentalen Dichter, wie ihre Wegebner*innen? Und was war überhaupt mit denen? War der Graben zwischen der Dichtung von Mayröcker und Jandl etwa nicht so groß, wie von mir empfunden? Und was schrie eigentlich Kling heraus? Ich hatte missverstanden. Mit Wolf wurde mir bewusst, wie klug und geschickt Tradition in neuer Lyrik weitergeführt wurde. Natürlich gibt es kein Neues, das in Luft gebaut seine Wurzeln in den Wind pendeln lässt.  Zur Hölle mit dem Neuen, es lebe das Neue! Sicher war ich mir nicht. Auf einer Lesung hörte ich zum ersten Mal, wie Daniela Seel ihre Gedichte vortrug.

 

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ich habe mir ihren körper dann einfach

umgebunden wie eine schürze.

 

distanz gewinnen, eine bewegung,

die nur in der zeit existiert, nicht im raum.

 

wie sinne verhalten steuern. ihrer stimme

habe ich immer vertraut, nicht den augen.

 

ich kann nicht aufhören, das zu wiederholen.

einträge von ausrichtung. diese bewegung,

 

die meinen körper konstituiert. ihre stille,

dressierte präsenz. ich will diese schürze

 

nie wieder ausziehen.

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Berührung war nicht zu leugnen. Ihre Vortragsweise war unnachahmlich, der Klang der Gedichte überwältigend, unheimlich und zart zugleich. Die Begegnung mit Seel und ihren Gedichten prägte mich nachhaltig. Als ich nach Leipzig zog, um das Schreibstudium am Deutschen Literaturinstitut weiterzuführen, lernte ich schließlich Jan Kuhlbrodt und Martina Hefter kennen. Ich bekam die Möglichkeit, mich über Gedichte und Poetologien auszutauschen und fühlte mich im Gespräch ernst genommen, angenommen. Bis heute sind mir keine zwei Dichter*innen bekannt, die so radikale und durchdachte Poetiken verfolgen. Einerseits Kuhlbrodt, der das Gedicht als Erzählraum auffasst und auf virtuose Weise vermag, geschichtliche Fakten, wie auch das autobiographische Narrativ in den Text zu tragen, um daraus wertvolle zeitgeschichtliche Dokumente, Chroniken zu entwickeln. Andererseits Martina Hefter, die mit nicht weniger als Wahrhaftigkeit operiert und sich selbst ins Zentrum der Überlegungen stellt, von dem aus sie Welt begreift und aus dem heraus sie osmotische weltdurchlässige Texte baut, die unvergleichlich klug zwischen klassischen Formen, dramatischen Strukturen und Essays zu changieren wissen. Wohl gemerkt – zu sagen, das private „Ich“ nähme bei Hefter und Kuhlbrodt eine wichtige Rolle ein, wäre zu kurz gegriffen. Beide vermögen es auf ihre eigene Weise das „Ich“ zu einem erstaunlich uneitlem Subjekt zu formen, das sich in den Dienst der Welt, der Literatur zu stellen weiß. Beide reformieren das „Lyrische Ich“, sie revolutionieren es kontinuierlich und bieten jeweils ihre eigene poetologische Stoßrichtung dafür an. Es sei an dieser Stelle wärmstens empfohlen, ihre im Verlagshaus Berlin – Kuhlbrodt – und bei kookbooks – Hefter – erschienenen Gedichtbände nachzulesen und die Rolle des Wahrhaftigen, Ehrlichen, Privaten innerhalb der Kunst an der Spiegelung dieser Gedichtformen neu zu betrachten.

Einen Schritt zurück – für alle, die meinen, Schreiben könne man nicht lernen, weil sie nicht begreifen, dass sogenanntes Schreiben wie jegliche Kunstformen ein Fundament an Eindrücken, Wissen und strenger sozialer Praxis bedarf. Schreibschulen bieten Studierenden einen Raum für Wissensansammlung und versuchen, die angenehmsten möglichen Bedingungen für einen derartigen Raum bereitzustellen. Meines Erachtens, gibt es keine effektivere Methode, mit Gleichgesinnten in Austausch zu treten, neue Anstöße zu erhalten und die eigenen Ansichten auf den Prüfstand zu stellen. Es sei wiederholt, das originäre Genie ist nicht gestorben, es hat nie gelebt und existierte lediglich in den Köpfen der Unwissenden und der Ängstlichen, die nicht bereit waren, ihrer Existenz auf den Grund zu gehen. Es mag eine Seele geben, aber die Seele ist ein Fundus an Seelen. Nur diejenigen werden errettet, die ihr „Ich“ zu jeder Zeit auf dem nächstbesten Marktplatz verramschen und die Überreste als Einsatz ins Spiel werfen, um beim Pferderennen auf ein lahmes Pferd zu setzen. Diejenigen, die ihr armes „Ich“ daraufhin mit Fleiß, harter Arbeit und Selbstzensur zurückverdienen, um es in die Freiheit zu entlassen. Diejenigen, die ihre Fehler anerkennen, zugeben, aber nicht zelebrieren. Die in sich Lauten und Stillen im Leben. Hört auf, zu Schreien. Schreit euch selbst an und vertragt euch wieder mit euch, damit das nie mehr vorkommt. Seid aufmerksam, klar und fein. Der Text ist keine Bühne. Die Welt ist keine Bühne. Alles ist Spiel. Alles ist ernst.

 

Am Deutschen Literaturinstitut waren Lehrende, die meine Weltwahrnehmung ins Wanken brachten. Michael Lentz besitzt einen schier unerschöpflichen Fundus an Wissen über Literatur, Musik, Film, bildende Kunst und ihre Zwischenformen und jede*r, der ihm zuhört, wird gestärkt als Wissende*r aus seinem Unterricht hervorgehen. Werner Fritsch lässt Studierende an seinem Zugang zur Transzendenz teilhaben und eröffnet Perspektiven auf Kunst als energetisches, pulsierendes Objekt. Nadja Küchenmeister weiß mit wachsamen Augen, Kritik dort anzusetzen, wo es schmerzt und hat stets das Werkzeug parat, um die Texte genauer, ehrlicher und gehaltvoller zu machen. Küchenmeister war diejenige, die mir meine Schwachstellen aufzeigte, ohne zu verletzen und Lösungsvorschläge anbot, die für mein heutiges Schreiben essenziell geblieben sind. Sie zeigte mir Gedichte von Thomas Rosenlöcher und Hertha Müller, die mich erstaunt zurückließen und brachte mir die Schmetterlingssonette Inger Christensens in Übertragung von Norbert Hummelt nahe. Ich halte diesen Sonettenkranz und Hummelts deutsche Umdichtung für mit das Schönste, was Literatur zu schaffen vermag. Zumindest von der deutschen Hummeltschen Variante kann ich sagen, sie ist mir noch wichtiger als Christensens „Alphabet“. Das fünfzehnte Meistersonett aus dem Sonettenkranz soll hier nicht unerwähnt bleiben –

 

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Da steigen sie, die Falter des Planeten

In des Brajčinotales heißer Mittagluft

Aus ihrem bittren Erdloch hochgebeten

Hat sie das Berggebüsch, mit seinem Duft.

 

Als Bläuling, Trauermantel, Admiral

Als Pfauenauge flattern sie umher

Und taumelnd tun sie so, als ob im All

Ein Leben wäre und nichts stürbe mehr.

 

Was für ein Seelenzauber wird mir hier geboten

Mit Friedensanhauch, der mich süß betrügt

Und Sommerahnung von verschwundnen Toten?

 

Mir sagt mein Ohr mit seinem tauben Klingen:

Das ist der Tod, der dich mit Augen blickt

Im Flügelschlag von allen Schmetterlingen.

 

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Die Frage nach Zeitgenossenschaft stellt sich nicht. Ich denke nicht, dass ein gutes Gedicht seine Gültigkeit mit der Zeit verlieren, mit der Zeit veraltet sein kann. Ich stelle die Vorstellung von einer chronologisch gerichteten Entwicklung in Literatur und Kunst in Frage und mit ihr die Ansicht, Zeitgeist würde sich zwangsläufig in zeitgemäßen Formen oder Inhalten ausdrücken. Lediglich das Tagespolitische scheint mir im Augenblick des Verfassens veraltet. Das plumpe zeitkritische Gedicht, die Medienkritik im Gedicht, das Engagement und die politische Meinung werden selbstverständlich auf gleichgesinnte Ohren treffen – denn diese halten sich vornehmlich im Zielpublikum auf – und auf Zustimmung stoßen, werden also Zustimmung ernten und herzlich wenig auslösen, denn Zustimmung ist der Tod alles Denkens, des Diskurses und der Kunst. Womit nicht der Fehler gemacht werden sollte, das aktuelle Material an sich aufgrund seiner Aktualität zu verdammen. Dagmara Kraus vermischt auf natürliche Weise unzählige Sprachen auf kleinstem Raum und verhandelt dabei das Thema Identität, nicht ohne es in maximal verdichtete Gebilde sprachlicher Schönheit hinein zu manövrieren. Daniel Falb zeigt mit der von ihm entworfenen Poetik des Anthropozäns und den zugehörigen Gedichten weiterhin eindrücklich, wie aktuelles Material in Form von wissenschaftlichen Daten aus der Klimaforschung oder Statistiken zu geopolitischen Entwicklungen im Text ihren Platz finden sowie den Diskurs und die praktische Veränderung anregen können. An dieser Stelle sei allerdings ebenso der vorherrschende und von mir aufgegriffene Begriff von „aktuellem Material“ zur Disposition gestellt. Schließlich umgeben uns gerade in diesem Moment nicht bloß nanotechnologische Genscheren, sondern auch Gräser, Farnkraut, Wölfe, Seen und kreisende Himmelskörper. Das Wichtige ist doch, dass es die Zeitgenossenschaft in sich selbst, im Inneren findet, oder etwa nicht? Dass es spricht als würde es in aller Ruhe um sein Leben rennen. Als würde es kein gestern geben, denn gestern sei morgen. Als würde es am Devisenmarkt mit Kryptowährungen spekulieren, um sich von den Gewinnen ein Haustier zu leisten. Als würde es sich stolz schämen, still schreien, laut denken und sich mit ausgestreckter Hand verbeugen. So lebt mein liebstes Gedicht im Freiheitsgehege und artikuliert sich exklusiv an alle. Was erwarte ich nun von ihm? Dass es spricht, wie Orsolya Kalász in ihren heraldischen Aufzählungen, wie Elke Erb in ihren Notaten, wie Kim Hyesoon in ihrem Tagebuch –

 

Kleine alphabetische Liste 13 gleichaltriger Zeitgenossen

Berwing, Ines

Burkhardt, Sandra

Heidrich, Christiane

Kappe, Alexander

Leß, Georg

Kohm, Katharina

Scheffler, Friederike

Stachler, Alke

Stauffer, Verena

Stripling, Robert

Vričić Hausmann, Sibylla

Warsen, Charlotte

Warzecha, Saskia

Westermann, Levin

Christoph Meckel ist soeben von uns gegangen, Oleg Jurjew ist soeben von uns gegangen, Paulus Böhmer ist soeben von uns gegangen.


Yevgeniy Breyger

In der ersten Fassung erschienen im Verlag Ulrich Keicher im Auftrag des Literaturhauses Stuttgart. Mit herzlichem Dank!