Briefe aus der Roten Wüste, Lettere dal deserto rosso (Borio/Schulz)

– Maria Borio und Tom Schulz schreiben im poetischen Dialog – 

Gedichte sind Lebenszeichen. Nicht selten aus Gebieten, die als Lebensraum eher feindlich wirken, berichten sie hier von jenem manchmal winzigen, einsamen Dort: „Sono un punto solo nel deserto rosso:/ oggi è questa la mia dimensione (…)“-“Nur ein Punkt bin ich, allein in der roten Wüste“ hebt eine Stimme an und vermißt beinahe philosophisch-abstrakt ihre Gegenwart, ihre Solitude, „illusionslos im frühesten Frühling des Millenniums“: „(…) das Rot hat den leeren neutralen / Raum erfüllt, ausweglos“, wo jede und jeder Einzelne „ein Punkt/ ohne Dimensionen ist“ . Und doch: vielleicht liegt gerade hierin auch der mögliche Ausweg – „weil er sie alle in sich vereint?“ Und so ein Ort des An-“einander(-)denken“(s) wird?

Von einem solch vagen, fast nicht existierenden Stand- oder Wendepunkt aus beginnt die 1985 in Perugia geborene Maria Borio – die in Italien mit Gedichten, Essays und wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch als Herausgeberin und Festivalgründerin hervorgetreten ist – langsam ein Denken zu entfalten, was in die Welt, zu den Dingen und Menschen hinaus führen könnte, zu all dem Disparaten, was bereits da ist und wie zufällig in den Sinn kommt.

Gleich im ersten Gedicht Maria Borios „schreib(t)“ und wisper(t)“ sich eine leise, hoffnungvolle Stimme ins Freie auf ein anderes Du hin und verwandelt den Einsamkeits-Punkt in alter neuplatonischer Manier auch in ein allumfassendes Liebeszeichen, mit „etwas Gute(m), das es vorher noch nicht gab“-„e un bene, come mai, nuovo.“ Vielleicht sind Gedichte also Passagendokumente einer Scienza Nuova, die von Überlebens- und Übersetzensstrategien in Wüsten zeugen und vermittelt von ebenda Nachricht geben in andere, hoffnungsvollere Zeiten und Zonen?

In seinem jüngst erschienen Band „Die Erde hebt uns auf“ widmet der Dichter Tom Schulz den ersten Zyklus der Dichterin Maria Borio, sucht darin ebenso vorsichtig wie bestimmt seinen und den gemeinsamen Ort in den adriatischen Marken, in den Literaturen, im Leben, geerdet: „Und dies: Eins werden/ mit der Landschaft in einer Nacht mit dir und mir/ und gehen in eine Nacht, die uns ganz gleich ist.“

Einige der Gedichte wandern nun ein in den gemeinsamen Band „Briefe aus der Roten Wüste/Lettere dal deserto rosso“ und überwinden hier in der Konstellation mit Borios Gedichten ihr Monologisches. In den 47 titellosen, 15-zeiligen, in fünf Zyklen angeordneten Briefgedichten paaren sich, vom gutleut-Verleger und Gestalter Michael Wagener schön gesetzt, auf Doppelseiten überkreuz ihre Stimmen und öffnen sich so hin zu einem neuen Gesprächsraum, zu einem poetischen Dialog, in dem sich durch Sprache(n) hindurch – oben das Original und die jeweilige Übersetzung darunter, die deutsche von Pia-Elisabeth Leuschner und die italienische von Paola Del Zoppo – Fremdes im Eigenen sedimentiert und Neues im Selbstverständlichen entdeckt wird.

Für das Layout des der „staben“-Reihe zugeordneten Bandes montiert Wagener außerdem Handschriften von Borio und Schulz sowie grob gerasterte Standbilder aus dem Film „Die Rote Wüste“ (1964) von Michelangelo Antonioni, wodurch nicht nur allein über die Titelverwandtschaft verschiedene zeitliche und räumliche Ebenen einander berühren, durchdringen und reflektieren. Denn ohne die inhaltliche Verbindung von Film und Gedichten zu strapazieren, werden vor der Folie des Films existenzielle Grunderfahrungen kenntlich und Fragen aufgeworfen nach den Verhältnissen, in denen Leben stattfindet.

Antonionis erster Farbfilm nach dem gemeinsam mit Tonino Guerra verfassten Drehbuch erzählt von Menschen in einer öden, winterlichen Industrielandschaft und ihrer brutal geschädigten Natur, von „radikale(r) Sinnkrise und dem Verlust jeglicher Bindungen“ (Wagener). Die äußere Umwelt, die hinzeigt auf das von der Moderne beschädigte und entfremdete menschliche Innere, ist ein lebensfeindlicher Unort und gewiß das Gegenteil eines Locus amoenus, wie er seit der Antike  das harmonische Leben in einer schönen Natur idealisiert und wo Liebende sich begegnen.

Nicht mit der gleichen Drastik, aber doch beunruhigt belauschen und beleuchten die Briefe/Lettere von Borio und Schulz die krisenhaften Unterströme der in Unruhe geratenen, zunehmend unwirtlichen Verhältnisse der Welt, wie sie sich zeigt um sie her. Denn deutlicher noch und paradoxerweise unsichtbarer stört und bedroht die Realität der Gegenwart das vermeintliche Idyll und zeigt es in seiner ganzen Verletzlichkeit, als am 9. März 2020 per staatlichem Dekret ganz Italien zur „zona rossa“ erklärt und das öffentliche Leben radikal eingeschränkt wird.

Im ersten Kapitel wird die oft bizarr deformierte Lebenswirklichkeit in der Corona-Pandemie zum Resonanzboden für einen sowohl gesellschaftlich wie intimen neuen Erfahrungsraum, in dem sich angesichts der verstörenden aktuellen Ereignisse Maria Borio und Tom Schulz Briefe und Gedichte schreibend zurecht zu finden suchen: mit ihren persönlichen Erinnerungen, Stimmen und Sprachbildern, den zu erforschenden Gemeinsamkeiten einer neuen Liebe, die sich ihrer selbst zu vergewissern und zu versichern sucht. „Alles, was/ hinter den Lidern liegt, alles was dunkelt, fragt nach dir.“

Im Begleitwort erkennt Wagener in der „Maske“ das „Sinnbild“ der Pandemie, in den Gedichten „Briefe aus Atem“ – dieses sinnfällige Bild weiter auf Existentielles hin befragt: Ist es nicht auch die durchlässige Maske, gr. “persona‘, die hindurch gesprochene Sprache filtert und die Person dahinter allererst sich selbst erkennbar werden läßt an ihren Atemzeichen als Passagiere in Zonen der Leb- und Lieblosigkeit?

Könnte etwas kontrastiver sein ‚angesichts‘ realer Gefährdung? – wo administrativ Expertise in hilflos lebensfeindliche Regeln resultiert, zwei lapidare Verse: „In der Roten Wüste gibt es Haltestellen und Schnell-/Züge fahren zu einem Punkt ohne Wiederkehr. Der Tod/ ist praktisch.“ Was wie poetisch verbrämte, überhöhte Zynik klingt, beschreibt prosaisch heruntergebrochen nackte Wirklichkeit, ohne in leugnende Anklage zu verfallen. Hier schaffen die Liebenden sich sprachliche Rückzugs- und Überlebensräume, um ihre Individualität und Intimität zu schützen. Und sei es im Traum, ein „Delphin“ zu sein in einem geheimen, weltumspannenden Flußnetz.

Zurückgezwungen ins Private und auf Distanz zu den gewohnten sozialen Umgangsformen wird jedoch Natur zum umso (lebens-)wichtigeren, allgegenwärtigen Bezugspunkt. Sei es auf dem Land mit seinen Gärten und Weinbergen, Kaninchenställen und jahreszeitlichen Rhythmen, wo das Großelternhaus nicht nur Geckos und Fledermäuse beherbergt, sondern wo auch die Liebenden „hineinschlüpften/ wie in die letzte Zuflucht des Planeten“; „eine( ) gestillte( ) kleine( ) Welt“, wo das Meer nicht weit ist und „vielleicht (…) alle Menschen Waldrosen“ – „der Planet kann dein Gesicht sein, etwas/ das zu umsorgen ist, das Leben heißt – nur das?“ Oder in den Städten, wo Pflanzen und Tiere wahrgenommen werden: in der „ewigen“ Stadt Rom Kastanienschalen und Gras; (in Venedig?) ein angeleinter Hund auf der Ponte della Malvasia „ein Gedicht (bellt): von Woken, von der Pracht“; oder (in Ravenna?) das Psalm 42 illustrierende Mosaik von S. Appolinare, das „Hirsch und (Hirsch)Kuh“ an der „Quelle“ zeigt und zum Spiegelbild wird, in dem sich Grenzen erweitern und aufzulösen beginnen zwischen „Herkunft und Ziel“, zwischen Geschlechtern und Gattungen, „von mir zu dir“.

„La stanza è un eden selvatico. Ti scrivo?“-„Der Raum ist ein Wildwuchs-Paradies. Schreib ich dir?“ Im imaginären Raum des Liebes-Gedichts scheint ein Konkretes, ein Zusammenwachsendes auf, vielleicht das Potential jenes Locus amoenus, im Einklang mit der Natur zu leben. Weil aber nicht zu übersehen ist, daß diese selbst in albtraumhafte Bedrängnis durch den Menschen geraten ist, gilt es das Verhältnis zur ‚Natur‘, deren Teil der Mensch ist und bleibt, immer wieder neu zu befragen, zu sondieren, wie Verortung gelingen kann, vielleicht sogar etwas wie Heimischwerden und Lebensdauer.

In seinen fünf Kapiteln reflektiert der Band subtil die instabile, diffuse Gemengelage, in der sich die Einzelnen mit ihrer individuellen in den kollektiven Geschichten verorten, ihre Zeit-Raum-Punkte stets aufs Neue ‚be-stimmen‘ müssen, in der Dichtung zum Test wird für alte und neue Gefühle und Erkenntnisse, für tragfähige Sicherheiten und bedrohliche Ungewissheiten, für eine vermittelnde Verständigung und unmittelbares (-mitteilbares?) Verstehen. Doch was heißt schon Verstehen?

Einander suchen in der Anwesenheit, aber auch in der Abwesenheit des Anderen. Beide Male wird die jeweilige Muttersprache in Briefen und Gedichten an ein imaginiertes Du gerichtet, wo in der Wirklichkeit, „gekettet an unser Englische, unwirkliche Lingua franca“, nur die Umgangs- oder Umgehungssprache funktioniert. Auch das Gedicht wird zum Umweg. Aber es entsteht beinahe traumwandlerisch Nähe und Vertrauen in eine ‚poeto-logische‘ Balance der Stimmlagen und Bedeutungsebenen zwischen nüchterner Alltagsprache und sprachmagischer Poesie, im sich gegenseitig Themen und Motive weiterreichenden Variieren ein geduldiges Gleiten statt harter Fügung: „Wir möchten (…) erzählen, daß/ wir leben. Daß wir träumen, daß wir wissen:/ Wir werden geträumt. (…) Wir wachen plötzlich auf. Der Brief liegt ungeöffnet auf dem Tisch.“

Maria Borios und Tom Schulz‘ Gedichte öffnen und bewegen sich in Transitzonen des Bewußtsein. Sie sind Such- und Findebewegungen, die manchmal fast ins Erzählerische anheben und aus Erinnerungssplittern eine Vergangenheitsmosaik zusammensetzen, das mit seinen Reflexionen in den flüchtigen Moment der Gegenwarten hinüberschillert und sich ausdenkt, was Wirklichkeit sein könnte. Vieles vermischt, „verwandelt“ und verwischt (sich) in diesen Gedichten, wird „Wolke“, „ein Etwas aus Atem: du bist ich“. Trotzdem bleiben auch im liebenden, seelenverwandten ‚Über-setzen‘ Unterschiede erkennbar, jenes Unauflösbare aller Beziehung zwischen Freiheit und Treue. Manchmal kann ein Fragezeichen entscheidend sein.

Vielleicht verdanken sich gerade diese vor unseren Augen geöffneten und entfalteten Brief-Gedichte der Roten Wüste? Vielleicht weil – bei genauerem Hinsehn und -horchen – auch die Wüste lebt. Und die Farbe Rot doch wieder Liebe symbolisiert. Auf Dauer: „Das Land ist beständig/ es träumt nicht, und die Äste wachsen weiter.“ Die Gegenfarbe ist grün.


Andreas Kohm

Maria Borio, Tom Schulz; Briefe aus der Roten Wüste, Lettere dal deserto rosso; Gutleut, Frankfurt 2024