Das Heim in der Unheimlichkeit – Eine Spurensuche in Lucas Rijnevelds Gedichten

„In Gesprächen taue ich immer im falschen Moment
auf, dann wieder ist das Herz ein Kühlelement.“

Obiges Zitat sind Zeilen aus dem den Lyrikband Phantomstute eröffnenden Gedicht von Lucas Rijneveld. Zusammen mit dem Band Kalbskummer bilden die beiden Gedichtbände, aus dem Niederländischen übersetzt von Ruth Löbner, eine 2022 bei Suhrkamp erschienene Doppelausgabe. Ähnlich schwer wie im Zitat scheint es, einen einzelnen, „richtigen“ Moment als Einstieg in eine Auseinandersetzung mit Rijnevelds Werk auszuwählen angesichts der Vielfalt der Themen.
Liest man mehrere seiner Gedichten hintereinander, verfließen sie, schließen sich um die Lesenden, und eröffnen ihnen gleichzeitig eine ganze, eigene Welt. Es gibt Muster in der Sprache, den Motiven, den Themen, die ein Eintauchen in diese Welt möglich machen.

Immer wieder verallgemeinern die Gedichte Erfahrungen zu Regeln, die oft einer kindlichen Logik zu folgen scheinen. Eigene Erinnerungen werden zu Gesetzmäßigkeiten – so wird auch eine gewisse Ohnmacht gegenüber dem Geschehen deutlich. Das Trauergedicht Hier wird jemand vermisst besteht sogar fast ausschließlich aus solchen: Die Nachbarn bestreuen ihre Einfahrt mit Kokosraspeln: / Winter im Herzen erträgt sich besser wenn die Außenwelt dazu passt“ heißt es dort beispielsweise, und „jeder Haushalt hat einen Kummerhund“.

Inhaltlich kehrt die Lyrik ständig an dieselben Orte zurück, bildet so eine Ablagerung von Heimsuchungen. Wer Rijnevelds Romane Was man sät und Mein kleines Prachttiergelesen hat, wird nicht überrascht sein von den Themen, um die seine Gedichte kreisen. Auch das Haus, der Hof, der Stall in all ihrer Heimeligkeit und Unheimlichkeit sind bekannt.

Ein zentrales Motiv über beide Bände hinweg ist die Kindheit – entweder spricht eine kindliche Stimme oder es wird aus erwachsener Perspektive auf diese Zeit zurückgeblickt. Fragen werden gestellt und so das Aufwachsen in einem Umfeld verhandelt, in dem über gewisse Dinge nicht gesprochen wird, beispielsweise Sexualität:

Ich wollte über Dinge reden, die in der Puppenecke
besprochen wurden, zum Beispiel: woher kommen die Kinder, wenn Eltern sich gar nicht
küssen, sind Pimmel wie Austernpilze, die erst im Herbst zu wachsen anfangen? Warum
darf man nachts nicht auf dem Bauch liegen und sich hin– und herbewegen, während man
an das beschleunigte Wachstum von Champignons denkt, das Klima, die Struktur.

Die Eltern, die sich nicht küssen verweisen auf die zärtliche und zugleich fast brutale Klarheit, mit der die Gedichte Familienbeziehungen offenbaren:

Papa sagt, Übung macht den Meister, ich denke, wenn ich die Arme weit genug öffne
kommt irgendwann eine Tochter aus mir. Dann würde ich ihn wecken und flüstern:
Übung
macht die Tochter, jetzt du noch den Vater.

In diesen Zeilen klingt ein weiteres Thema an, das sich durch die gesamten zwei Bände zieht.

Als das Entpuppen kurz bevorstand, machtest du mich darauf
aufmerksam, dass Raupen geschlechtsneutral sind und erst als
Schmetterling ein männliches oder weibliches Farbmuster zeigen
[…] du hieltst deine
Arme wie einen Kokon und in der Mitte ich, zwei Formen des
Aufbrechens, flüstertest du

Fast obsessiv beschäftigt sich das lyrische Ich mit dem Geschlecht verschiedener Tiere und spiegelt so, wie sich im Aufwachsen so viel um die eigene Identität dreht, immerzu konfrontiert mit Projektionen und Einordnungen von außen und zugleich mit dem, was sich als Dysphorie lesen lässt, von innen. Dabei kommt es aber auch immer wieder zu befreienden Momenten, in denen es sich ereignet: das Aufbrechen der Körper und das Ausbrechen aus dem Körper.

Dagegen scheint die Form der Gedichte eher konventionell, eine Eingrenzung, aus der im Gegensatz zur inhaltlichen Ebene visuell kein Ausbruch stattfindet. Die Sätze aber entwischen oft dem Konstrukt, breiten sich über Verszeilen und ganze Verse hinweg aus. So wirken die Zeilenumbrüche meist zufällig und auch die Strukturierung der Gedichte, die teils ohne Absätze, teils in zwei bis siebenzeiligen Versen existieren, erschließt sich nicht sofort. Ein Ansatz wäre möglicherweise, sie als Hinweis auf das Tempo oder die Lesart zu verstehen – die absatzlosen Texte sind gleichzeitig auch die atemlosesten.

Es ist vor allem die Bildsprache, die Rijnevelds Lyrik besonders macht, denn die Bilder sind ungewöhnlich spezifisch, die Details originell. Oft sind es organische Metaphern, noch häufiger Vergleiche – je nach Fokus des Gedichts eher animalische, körper- oder nahrungsbezogene. Da liegen „Beutel mit Möhrensuppe […] wie dralle Goldfische“, „Arme werden zu Apfelschalen“, ein Kopf „zu einem Siphon, gebogen wie ein Schwanenhals“ . Angesichts der Dichte der Bilder stellt sich die Frage, ob deren Wirkung sich noch mehr entfalten könnte, wären sie ein wenig sparsamer eingesetzt? Gleichzeitig ist das Betreten der überquellenden Gedichte eine Rückkehr in ein Heim, wo eine*n in jeder Ecke etwas an die Kindheit erinnert, und das entspricht den Erfahrungen so sehr, dass es nur schwer anzufechten ist.

Die Figuren, die in den Gedichten auftreten, fangen an zu leben. Immer wieder tauchen die scheinbar gleichen Familienmitglieder auf, darüber hinaus Liebhaber*innen, wenn das lyrische Ich älter ist und verschiedene Fantasiegestalten, wenn es jünger ist. Sie alle beeinflussen, beschwören es. Doch die Stimme, die aus diesen Figuren spricht, erinnert sich auch an ihre Autonomie in der eigenen Erzählung. In Bis mich jemand durchpaust beobachtet sie einen Jäger, um am Ende festzustellen, sie könne ihn „jederzeit ziehen lassen […] denn ich und nur ich habe ihn skizziert.“

Wahrscheinlich sind es genau diese Spannungsverhältnisse, die Rijnevelds Lyrik so einnehmend machen, zwischen Fremd- und Selbstbestimmtheit. Eine konservative Welt, aus der sie sich immer wieder in die Fantasie flüchtet. Eine konventionelle Form, aus der die Sprache ausbricht. Regeln neben Fragen. Ein Sich-fremd-Fühlen im eigenen Zuhause, im eigenen Körper. Sich in dieser Unheimlichkeit einzurichten, sie aufzubrechen, zu betrachten und zu nutzen – das ist die Möglichkeit, die Rijnevelds Gedichte aufzeigen.

Jetzt bloß kein
Geräusch verursachen, nicht knacken, nicht husten, nicht um einen Pfefferminztaler bitten
die Landschaft stellt sich taub und wir ruhen, Heimweh in all unseren Arten des Sitzens.

Clara Maj Dahlke