Die 1985 in Berlin geborene Lyrikerin Rike Scheffler hat mit Lava. Rituale einen beeindruckenden und anspruchsvollen Gedichtband zusammengestellt. Wir dürfen, ja, wir müssen mit allen Sinnen in diese Lyrik buchstäblich eintauchen, wollen wir die Bewegungen nachvollziehen, die sie erzeugt. In insgesamt sieben Zyklen nimmt uns Rike Scheffler mit zu unseren Ursprüngen. Endlich ruhige Bewegung. Schöpfung / bahnt sich durch Teilung. Bäche aus Blättern. / In manchen Sprachen ist Urwasser / dasselbe Wort wie Zwilling (…) (S. 25).
Das lyrische Ich geht auf in Wasseratomen und überschreitet zugleich in Jahrhunderten gewachsene historische Rollenmuster: Warum noch heldenhaft festhalten an Speeren und Stöcken? Vielmehr will das Ich in diesen Netzen aufgehen, die gesponnen werden in Datenströmen, Tragetaschen für Zeit (alle Zitate, S. 26). Ihre Gedichte changieren zwischen weit auseinanderliegenden Zeiten, reichen zurück bis ins 1. Jahrzehnt, voraus bis ins Jahr 2210 oder verweisen auf unsere Existenz in einer unbestimmten Zeit. Vergangenheit und Zukunft schallen als Echos zu uns in die Gegenwart.
Jede Idee von Linearität und Chronologie wird in diesem Archiv von Materialitäten, Mythen, Bedeutungsmustern obsolet. In sich abgeschlossene Körper und Identitäten werden aufgebrochen. Das Ich ist immer ein anderer: da ist Wildnis in m:r (S. 83). Es spricht nicht allein, sondern die Welt spricht mit ihm. Ich erkenne mich selbst im Anderen, wir sind in diesem Punkt eins (S. 24). Für diesen Dialog mit der stofflichen Welt wendet sich Scheffler den kleinsten pflanzlichen Organismen, dem Phytoplankton, zu. Im brodelnden Schlamm (S. 29) lösen sich hierarchische Ordnungen auf und werden neue, zeitlose Allianzen geschöpft. Alles gerät in Bewegung in diesen Tiefenbohrungen. Rike Scheffler beginnt bei uns zu Hause im fixen Türrahmen und öffnet den Raum bis zur Lava, einem vulkanischen Förderprodukt, das aus den Tiefen unseres Planeten an die Erdoberfläche dringt – und fließt. In den Tiefen der Welt werden neue Seinsmöglichkeiten geschöpft und Kräfteverhältnisse ausgelotet: – Wurzeln durchdringen Stein / spalten ihn auf, fassen ihn ein (S. 41).
Gebrochen wird auch mit den Ordnungen der Sprache, um Zuschreibungssysteme und Bedeutungshorizonte infrage zu stellen: Codes biegen sich / am Morgen noch / leichter als Wimpern (S. 71). Bedeutung wird erforscht und neu geborgen: bergen – die Freiräume, aufgeblähte Nähte / von Bedeutung – aber auch Un-bedeutung (…) (S. 51). Ein teilweise fast kryptisches Sprach- und Zeichensystem, das das Sprachmaterial selbst erzählen lässt, fordert uns auf, unsere Identitäten tiefgründiger zu entschlüsseln: Scheffler beginnt noch einmal mit Konsonanten, Vokalen – mit mma, ma, matter, madre, mutter, moeder, modder, moder, matsch / Materie – einer mächtigen, achtsamen Arbeit. (S. 74) Mit jeder Entschlüsselung verbunden ist die Rätselhaftigkeit, die zu bewahren und zu würdigen Vorbedingung jeden Seins ist: Regen auf Wasser_ / MW MW WM Wh / f:::ui (S. 28). Das Unbekannte darf sein, genau wie die Un-Bedeutung.
der Wind ist schön,
weil er frei ist von Absicht
kein Mensch
könnte fassen,
wie er durch den Wald geht
egal wer hier hinhört
Krallen, Härchen
Wimpern, Bauch
er geht
wieder und wieder durch
uns durch
(S. 12)
Neben Wasser, Blut, Plankton, Pflanzen und anderen Stofflichkeiten transportiert in mehrerenGedichten der Wind ein Bewusstsein für die Wunden in unserer Welt und ist zugleich buchstäblich Motor für Veränderungen:
es steckt Angst in allen Regeln, Terror
in Erinnerung. Wind sagt m:r, :ch träume voll Blut.
seh noch immer yhre Gesichter
– kein Wesen kann zu nichts werden.
der Tod folgt m:r – uns? wie ein Hund früher
der präverbalen Markierung von Affirmation.
Habe Angst, die Affirmation wandelt m:ch samt
Meiner Trauer in etwas Fasriges – eine Tischpflanze
Ohne viele Trieben. :ch stocke,
bekomme – eine Art Logbuch?
Wind lockt –
immer hinein in Zerfall, Transformation
(S. 66)
Im sechsten Zyklus Ankunft, pastell wird der Wind zum tröstlichen Medium der Verständigung des lyrischen Ich inmitten einer schmerzhaft empfundenen Welt:
(…)
Fragen trommeln auf m:ch ein:
Wo warst du, als die Welt in Schutz ging?
Wie lang kanntest du keine Berührung?
:ch berichte nur so viel :ch muss.
bekomme Wind an die Seiten m:ch zu besachten.
Winds Singsang – hell wie Muschelklacken
Versteht m:eine Sprache aus Zungen und Luft
(S. 65)
Zwischen Werden und Vergehen liegt ein nur schmaler Grat, liegen unbeantwortete Fragen. In den Phasen des Übergangs, an den Schwellen, diesen vermeintlichen Nicht-Orten, die uns oftmals Angst machen und uns zweifeln lassen, webt Rike Scheffler ihre Gesellschaftskritik ein, stellt Fragen an Globalisierung, Technologisierung, Geschlechterrollen, dem Umgang mit dem Klimawandel oder der Flüchtlingspolitik: ich lerne, ein Boot begreift sich als Anker / Bedrohung aus Schilf // wie biegsam weiße Moral ist / am Kältepunkt – Europa (S. 39). Sich verletzlich machen und zugleich widerständig zeigen, ist das ethische Programm dieser Lyrik. Dabei geht es nie darum, etwas Neues zu setzen, sondern immer darum, die Ungewissheit am Leben zu erhalten, werd :ch je begreifen, ob in Wind L:ben liegt? (S. 69), denn Wind sträubt m:r den Sinn (S. 73).
So ist der Gedichtband Lava. Rituale Form eines überlebenswichtigen Protests. Mittels Zitaten, die jedem Kapitel vorangestellt werden, verortet Rike Scheffler die dargestellten Auflösungs- und Veränderungsprozesse in posthumanistischen Diskursen und tritt in einen produktiven Dialog mit anderen Lyriker*innen wie Renee Gladman und Jeanette Christine Armstrong, mit Evolutionsbiologen und Biologiehistorikern wie Scott F. Gilbert, Naturwissenschaftshistorikerinnen und Frauenforscherinnen wie Donna Harraway oder mitQueer- und Performance-Theorien von Paul B. Preciado oder José Esteban Munoz.
Dieser Dialog macht die drängenden Themen unserer Zeit einmal mehr sichtbar, schenkt den Leser*innen aber auch die Hoffnung, Gleichgesinnte zu finden und inmitten der Abgründeunserer Realität mit Welt verschmelzen zu können und in ihr aufgehoben zu sein. Differenzen rauen sich auf (S. 80). Nur so können sich Strukturen neu vereinen. Rike Schefflers Protest ist nicht nur ein Aufbäumen, sondern bereits ein schützendes Gehäuse, in dem wir einander aushalten, in dem wir leben können. Doch sie macht mit ihren Versen Kreuze, da, wo es schon zu spät ist und da, wo noch etwas zu retten ist.
»Gemeinsam finden wir Rituale, üben wir uns in Revolution«, schreibt Rike Scheffler selbst über ihre Gedichte, die sich im Geiste mit dem Kulturtheoretiker und Dichter Fred Moton verbindet: »What is time, if not – activism.« Rike Schefflers Gedichtband ist eine stille Rebellion, weil er eines vermag, was uns in der heutigen Welt viel zu häufig abhandengekommen ist: die Fähigkeit einander zuzuhören, einander zu betrachten und zu achten, losgelöst von hierarchischen Systemen nicht nur zwischen Menschen, sondern allem, was der Mensch in der Welt erschafft und sinnlich wahrnehmen kann. Wer zuhört, schöpft Leben, denn »Listening is Survival«, zitiert Rike Scheffler die Komponistin Pauline Oliverso.
Auch über den besonderen Klang, die Rhythmen und Dissonanzen fordern diese Gedichte uns auf, in einen Dialog zu treten. Rike Scheffler lässt Sprache rauschen und schafft eine eigenwillige Polyphonie über die Wiederholung einzelner Wörter und Konsonanten. Es rauscht immer wieder, Wind zieht durch die Zeilen, immer wieder bergen wir Welten. Verbendokumentieren Brandherde und mahnen zu Verantwortung: bergen, raubbauen, notbeatmen, wabern, trotzen, toben, hören, durchdringen, schwellen, wachsen und verbinden.
höre an Küsten
Körper – Hände
verknoten, notbeatmen –
ich lerne, ein Boot begreift sich als Anker
Bedrohung aus Schilf
wie biegsam weiße Moral ist
am Kältepunkt – Europa
Noch immer mit der Axt einfällt
jahrhundertlang, in ein anderes Land
(S. 39)
Die Kritik dieser Lyrik ist offensiv. Jede Silbe, jeder Laut ist Sinnlichkeit und Angebot zum Diskurs. Substantive werden neu geschöpft und machen die Welt zu einem Körper: Brustblumen, Kühlrippen, Wassermelonenlippen, Lauschen mit der Haut, Gehörsand. Denn Verantwortung blutet unter unser aller Nägel. Transformation ist nur möglich in Sprachreflexion und Sprachschöpfung.
Abbildungen von Stoffen und Strukturen begleiten die sieben Zyklen und werden in einzelnenGedichten visuell verarbeitet. Das Sprachbild selbst entgrenzt sich, Wortzwischenräume werden aufgelöst oder eingefügt, Zeilenumbrüche und Versgestaltung visuell rhythmisiert, Anomalien erzeugt, um Metamorphosen in Gang zu setzen. So übersetzt sich ein komplexes Welterleben ins Bild und können die Leser*innen gleichzeitig in der Welt sein und mit der Welt sein, dass der Mensch nicht schwindet (S. 24).
Die Gedichte in Lava. Rituale sind Ausgangspunkte für ein tieferes Verständnis der Welt. Siestellen einen ersten fundamentalen Schritt in einem großen Veränderungsprozess dar. Gleich der erste Zyklus dieses Gedichtbandes steht unter der Überschrift to do. Wenn wir den Mut haben, uns aufzulösen, haben wir die Chance, mit einem neuen Sehen aus dieser Lyrikhervorzugehen. Schon dann haben wir etwas verändert. Schon dann haben wir etwas verändert. Diesem Anspruch wird die mehrfach ausgezeichnete und in mehrere Sprachen übersetzte Lyrikerin auch in ihren Lesungen gerecht, indem sie ihre Texte in sinnlich einnehmenden Performances international in Szene setzt.
Friederike Römhild