Der Haiku bei Richard Wright

Ich bin für die Lektüre dieses Buchs (Titel: „Haiku“), das muss vorweg gesagt werden, durch eine großartige Rezension Nico Bleutges im Deutschlandfunk „präpariert“ worden. So ausführlich und präzis vorbereitet, dass ich, was ich dort las (hier der reine Text), gar nicht wiederholen, sondern lieber darauf verweisen will. Bleutge beschreibt, was es mit diesem Autor Richard Wright, der ja vor allem als Aktivist der Bürgerrechtsbewegung und kämpferischer Literat bekannt geworden war, auf sich hat.

Schon zu seiner Zeit zeigten sich etliche LeserInnen Wrights verwundert, warum sich der Autor gerade dem Haiku zuwendet, dieser vermeintlich privaten, zumindest zeitlosen Form, die alle sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen nachgerade ausschließt oder zumindest Zusammenhänge kaum darstellen kann.

Fragen wir also erst einmal, was der Haiku überhaupt ist. Der Haiku, diese der japanischen Tradition entstammende Dreizeiler mit fester Silbenzahl (5-7-5), die auch Wright einhält, sagt je im einzelnen Gedicht recht wenig. Deshalb ist so wichtig, was er nicht sagt. Der Haiku lädt dazu ein, sich etwas auszumalen, hinzuzudenken. Gerade weil er nicht zu viel sagt, verführt er zwar zur Projektion, bezieht sich aber durchaus meist noch auf Eindrücke oder Impressionen, beruht seltener auf reinen Gefühlszuständen. Er lebt davon, die Dinge nicht zu Ende auszusprechen, nur anzudeuten und Hintergründe höchstens schwach zu skizzieren. Alles hängt davon ab, wie man ihn auslegt. 

 

Von weit her, draußen

Über das bleierne Meer,

Der Ruf eines Schiffes

 

Denkt man zu viel hinzu, tut man ihm Gewalt an, zerstört seine Balance, lässt ihn in banale Narration oder gar Gefühlskitsch münden. Kontextualisiert man ihn indes gar nicht, und sei es durch Bilder, Assoziationen, bleibt er seltsam fragmentarisch, schemenhaft, banal. Die Kunst ist, ihn als nüchterne Beschreibung zu lesen, aber diesen beschreibenden Ausschnitt in seiner Größe zu begreifen, die sich gerade in dieser Schwebe erhält: Es ist, als würde ein Stückchen Welt in die Schwarzweißwelt der Buchstaben für ein Miniaturmonument metamorphisiert. Es sind Wort-Shilouetten für die Ewigkeit. Die Kunst ist also, den Haiku nicht zu viel sagen zu lassen, aber gerade noch so viel, dass ein reales Szenario aufscheint, in dem sich jeder wiederfinden kann auf je seine Weise. Wer dem Haiku Kitsch oder Einfachheit vorwirft, wird dann an sich selbst zurück verwiesen.

Diese Kunst der Schwebe beherrscht der Autor Wright, von Jonis Hartmann übersetzt, grandios und es ist zunächst gut und verständlich, dass der Verlag die Gedichte ohne Erklärungen, Vorworte und Fußnoten publiziert. 

 

Lichtlanze des März

Sticht in modriger Scheune

In feuchten Hafer

 

Oder? Hier muss ich zu meinem Eingeständnis vom Anfang zurückkehren. Dadurch, dass ich nicht unbelastet in die Lektüre gegangen bin, habe ich vielleicht ein zu großes Augenmerk auf diesen „universalistischen“ Aspekt der Haikus gelegt. Denn ich war verwundert, wie dieser Aktivist Bilder finden könne, in denen die ganze Menschheit friedlich zusammenfinden könnte: Gerade weil keine Politik, keine Vorurteile hineinspielen und die Welt in der Beschreibung von allen Vergiftungen der Parteinahme und der Indienstnahme entschlackt wird. So vollzieht unter der Hand durch die Präparierung von Bleutges Rezension, die nur das hinzufüttert, was der unmittelbare Haiku je verschweigt – ein Paradox in meiner Auslegung: Durch die Intentionslosigkeit und Konkretheit werden die Haikus im Kontext zu einem Signum der Universalität, ja zu einer Utopie und damit indirekt doch politisch und wirksam über das Konkrete hinaus. 

 

Der Schnee ist getaut

Und nun sind alle Felder

In Schienenbesitz

 

War es nun also gut, Kontexte zu erfahren, sollten wir die unschuldige Haikuwelt wirklich durch politisch-gesellschaftliche Kontexte „beschmutzen“ und sie zu Zeichen für Größeres verbiegen? In diesem Fall aber weist die Universalität ja nur umso stärker zurück zur erfahrbaren Welt in der Wortstruktur. Ich würde sagen: wir müssten nichts wissen, um diese Haikus zu lesen, aber es färbt die Lektüre ein klein wenig, es ist ein surplus, das ich nicht missen will. Es ist dann am Ende des Tages eben doch ein Unterschied, ob ein priviligierter Adliger sich der Kunst der Dreizeiler melancholisch hingibt oder ein um seine Rechte kämpfender Schwarzer das Leben feiert. Die Aussage, die Struktur des Gedichts mag dadurch unberührt bleiben, aber der Lektüre, dem Ort-Zeit-Geschehen des Lesers fügt es ein Feuerwerk der im Hintergrund laufenden Mutmaßungen hinzu, die dem Ganzen einen winzigen utopischen Schein gewähren, in dem die Liebe des Autor zu den Gegenständen der Welt blüht. Es ist ein nochmal schönerer Schein, wenn wir wissen, dass hier ein Gedemütigter sich erhoben hat und uns alle einlädt. Man könnte fast sagen: Hier erst kommt der Haiku, in dieser unbescholtenen, unpolitischen Zärtlichkeit zu sich selbst, indem gerade diese Geste etwas politisch Hoffnungsvolleres hat, als jeder Aktivismus je haben könnte. Natürlich, wo wenig gesagt wird, findet wenig Abgrenzung statt und alle können leicht hinzutreten. Es mag ein wenig zu leicht erscheinen, den Haiku so über die Hintertür für einen angenehmen moralischen Impact zu politisieren – und wenn man es zu sehr auf diese Lesart hindächte, würde man diesen Haikus auch wieder Unrecht tun. Und dennoch ist dieser kleine Widerspruch zwischen Universalität, Konkretion und Freiheit, der in ihnen zum Ausdruck kommt, einer, der die Welt erst Recht in den Zeilen aufblühen lässt. Erst in den Kontrasten spüren wir die Welt ganz.

 

Eiszapfen, lang, spitz,

In einem alten Schuppen

Verschärfen den Wind

 

In diesem Sinn wäre es vielleicht doch wertvoll gewesen, hätte die Ausgabe Informationen und womöglich gar das Original hinzugegeben, das einem doch manchmal fehlt (das von Bleutge zitierte „i am nobody“ erscheint mir zum Beispiel trotz Bleutges raffinierter Ehrenrettung der Übersetzung an dieser Stelle im Original doch kraftvoller). Aber dann wäre vielleicht diese leicht dahinschwebende Universalität in der Konkretion verweht worden, hätten wir die Beschreibungen doch als Beginn von Narrationen, Gefühlsausdrücken und privaten, geschichtlich bedingten Empfindungen gelesen – oder gar als Verlautbarung, nichts könnte schlimmer sein. 

So aber blüht die Welt und nur die Welt, sei sie noch so imaginär ergänzt durch Gefühlsfärbungen, in heilig-nüchterner Lakonie auf, stets bereit zum poetischen Sprung. Kleine Schwarzweiß-Scherenschnitte des Moments, von dem man nicht mehr sagen kann, ob er für immer ist oder bereits gerade durch und durch vergänglich ist. Dann aber doch so, als gäbe es ein Gedächtnis, dass diese je einen Moment für ein Erbarmen aufzeichnete. Was er sich an minimalinvasiven Poetizismen erlaubt, über die fast bukolischen Szenerien hinaus, sind Personalisierungen. 

 

Des Hahns Kikeriki

Schlitzt graue Wolkendecke,

Lässt Regen rieseln

 

Doch weiß er diese meisterhaft dezent anzuwenden, sodass sie sich nicht wie expressiver Ausdruck des Dichterichs über das Tableau legen, sondern dieses nur sanft zu sich selbst kommen lassen. Denn ganz raushalten kann man den humanen Blick natürlich nicht aus der Beobachtung. Auch verrät sich am Arrangement selbst die Feinfühligkeit des Dichters und womöglich gar sein Hang zur Idylle. Alles atmet (meist ländliches) Leben und Schauenwollen. Zugleich hat, der Tradition gemäß, der Haiku durch die Zurücknahme der Autorenposition, immer auch einen sanft resignativen Charakter, zumindest aus der westlichen Sicht. Hier spielt vielleicht eine Rolle, dass Wright die Haikus am Lebensende schrieb. Eine Resignation mit utopisch-poetischen Streiflichtern. Danke, möchte man oft dem Autor zurufen, Danke für diese fast kindliche Zutrauen, das du uns in der Tiefe des Abschieds wieder schenkst. Und obwohl diese kleinen Texte alles andere als „Träume“ oder Visionen sind, eher kleine Realien, mag man bei der Lektüre hin und wieder vor sich hinmurmeln: „Now i have a dream…“


Hendrik Jackson