die schönsten Bücher sind Fundstücke in der Welt der Literatur

begeben Sie sich nicht direkt dorthin. ziehen Sie nicht über Los, streichen Sie keinen Gewinn ein, don‘t follow function. jeder und jede kennt es, was in Lektüreauftrag gegeben wurde, funkt oft nicht richtig, was bewertet werden soll, zieht unwirsche Strenge nach sich, hingegen was beiläufig über den Weg läuft, erscheint als Überraschung und seine Skurillitäten werden verziehen, die schimmernden Goldklümpchen aber aus dem Lauf der Zeit gefischt und prachtvoll gegen das Licht gehalten, so findet man unversehens einen Zeitstrahl zurück in andere Jahrhunderte.  

auch ich begab mich nicht direkt zu meinem Ziel. das Ziel war Abschluss und Neuanfang, gerichtlich terminiert. ich machte eine Art geistige Tournee daraus, mit den Stationen Freundschaft, Sex, Liebe, Tod, Trennung und Geburt. freilich nicht ich war der Protagonist, hier und da Mitspieler, meist Kondolenzbezeuger, Beobachter, Flaneur. über die Städte Frankfurt, Stuttgart und Wien. es war ein herrlicher Nachsommer, die Götter, wie lange nicht mehr, begaben sich auf die Erde, alles war Neuanfang, jetzt und jetzt konnte die magische Begegnung stattfinden, die Haut glättete sich zu 20 Jahren, Erinnerungen kamen auf an früheste Eindrücke, an Kindheit Gärten Gesellschaften, gesättigte Sommer und Lebensfreude. Bücher lieben diese halkyonischen Tage des Sommers, sie sind ihnen günstig. in Frankfurt bog ich ein in die Straße, benannt nach meinem zweiten Vornamen. nichts geschah. in Stuttgart bog ich ein in die Straße, benannt nach meinem zweiten Vornamen, dort fand ich ein eigenartiges Buch von Reinhold Schneider. „Winter in Wien“, oh Menetekel! der Winter in Wien hatte mir so viel Leid gebracht. der Autor hatte außerdem ein Buch über das späte Mittelalter geschrieben, wie ich es im Verbund damals, gedacht zumindest, auch versuchen wollte, es eröffneten sich also Verbindungen.

weiter: es war ein nach dem Weltkrieg hoch respektierter katholischer Autor, der unter den Nazis Schreibverbot hatte. was zunächst abschreckte, seine viel zu pathetischen Gedichte, seine hin und wieder schwülstigen konservativen Gedanken zu Geschichte, Fürstentum, Wien und Geschick – machen aber gerade den Reiz aus: so erfährt der Leser, die Leserin viel mehr über die Zeit als jede vereinnahmende auktoriale Erzählung aus dem Jetzt. 

darüber hinaus ist in so einer überraschten Lektüre etwas zu erleben, was in nachträglicher, kritischer Betrachtung oft verloren geht. natürlich: von heute aus scheint die Blindheit selbst noch eines Mannes der innerer Emigration fatal. die katholischen Glaubensbekenntnisrahmen können den Albtraum des Geschichtlichen nicht angemessen erfassen, vor allem nicht seine Profanität (ich umgehe das Wort „banal“). doch scheint darin ein Glaube an die Menschen auf, der trotz allem berührt. diese Unfähigkeit, diese auch enge Begrenzung erscheint aus dem ihm eigenen Rahmen eben nicht als eine solche, im Gegenteil erwuchs sie aus einer Heile und Gesättigtheit des Aufgehobenssein in einer Fülle der Bezüge und tragenden Bindungen (Glaubenssätze, Katechismen des Alltags, Zeit, als es noch Biographien gab, der Untergang und die Zerstörung noch im Gange war (also vor dem Zustand der Zerstörtheit, der noch gar nicht recht begriffen scheint)).

und noch darüber hinaus: unglaublich schöne, melancholische Sätze, feine Beobachtungen, kluge Reflexionen, die aber nur auf falschen Prämissen aufzuruhen scheinen (aber auch wir werden ja einst überführt werden des Irrtums!). und das ist das Aufregendste an der Lektüre, dieses Energiefeld zwischen katholischem Glauben, Treue, Aufrichtigkeit (wie sie heut selten zu finden ist) und Schwulst, überkommenen Vorstellungen von Geschichte und Größe, unflexibler Schwerfälligkeit – in dem sich eine schwarze Schwermut breitmacht, die wirkliche Größe hat. ein Feingefühl für Bewegungen und Proportionen, für über den Alltag Hinausgehendes, für Fernbezüge, für historische Skizzen und Tableaus des Seele, Beschreibungskunst durchaus.

Verehrung für Geschichte und große Gestalten brachte den Katholik und Vertreter der „inneren Emigration“ der Nazizeit nach Wien, dem heimlichen Sehnsuchtspunkt all seiner Jahre. es war zugleich die letzte Reise, die ihn nicht nur außergewöhnlich aufwühlte, sondern auch stürzen ließ: an den Folgen des Sturzes starb er kurz darauf. das alles kann man einschlägig nachlesen, bei den Recherchen dazu stieß ich vor allem auf diesen schönen Aufsatz von Michael Braun, der eine sehr gute Übersicht gibt über Leben und Bedeutung von Schneider (sodass ich mir hier eine Einordnung erspare).

wie so oft, überleben jenseits der wirklich ganz großen, breit aufgestellten Dichter nicht die schmaleren, innigeren Inselbegabungen, sondern die Breite simulierenden, selbst wenn sie dabei polarisierend, einseitig, oder, je nachdem gefällig sind. in den einen Communities Ernst Jünger, in den anderen Stefan Zweig, irgendetwas jedenfalls auf das man sich aufstützen kann. sicherlich hat dieser Autor nicht die scharfe Kontur eines Ernst Jünger. er sichert seine Entgleisungen und Irrtümer auch nicht, wie andere, durch Pathos der Distanz und Grenzgängertum ab, durch heroische Gesten und Distanziertheit zu seinem eigenen Schreiben. gerade das macht ihn aber weniger stilisiert, kapriziös, affig, selbstverliebt, verschwurbelt und steif. sicherlich streift auch er, wie alles Charismatische, den übertriebenen Manierismus – aber es ist empfunden und fließt aufrichtig dahin. es gilt also einen Konservativen wieder zu entdecken! warum überhaupt vergleichen? weil wir kaum noch einen konservativen Autor von Rang haben, der im öffentlichen Gedächtnis präsent ist, außer Ernst Jünger, der aber eine wirklich sehr spezielle Gestalt war und eben gerade nicht der große Stilist, zu dem er ausgerufen wurde (durchaus aber der große Stilisator und Anarch).

und trotzdem, ähnlich wie bei dem fast ebenso vergessenen Claudel, zieht der katholische Konformismus die Werke tiefer hinab, als es vielleicht nötig gewesen wäre. wie bei Claudel finden wir lange, mühsame Überzeugungsbekundungen, naive Ehrung der Monarchie, unter denen kluger Zweifel sich doch noch verstecken muss. und trotzdem ist das Buch ungeheuer überraschend.

ja, es ist zu vermuten, dass diese günstige Beurteilung dem zufälligen Fund, den schönen Tagen, die ihn gerahmt haben, entspringt. aber soll man einen Autor nicht doch eher an seiner günstigsten noch möglichen Lesart (jenseits von Verbrämung natürlich) messen? lassen wir öffentliche Taxierung, Rangfolgekontexte, zeitkritische Analyse einen Moment lang ein bißchen in den Hintergrund treten, ein Buch kann auch für abseitige Inspiration, seine Abgründe und sein Reservoir geschätzt werden, für die Abschweifungen und sogar gegenläufigen, nicht intendierten Einsichten, die aber nur dieses ermöglicht. Schneider spricht paradoxerweise, bei aller Schwermut, aus einer Treuherzigkeit, die wir nicht mehr kennen, in ihm liegt mehr echte bürgerliche Welt geborgen, als in Stefan Zweig. 

allein sein Schrecken gegenüber Gogol, bei dem alle Figuren „schlecht“ sind, ist erstaunlich (aber irgendwie auch berührend) für einen Autor, der gerade aus einer Zeit der absoluten menschlichen Hölle kommt. dabei bleibt er durchaus wach, den erwähnten Paul Claudel, der unbedingt auch und ebenso zum Teil gegen seine Intentionen wiederentdeckt werden muss, kritisiert er gleich zu Beginn, aber nicht herablassend: er versteht die religionsspezifische Hybris Claudels nicht und geht zum zweiten Akt seines Stücks lieber im leeren Foyer umher – ohne ihn vulgär zu kritisieren.

„In einer jeden Bindung suche ich eine Freiwerdung. Es kommen dunkle Nächte, während die Stadt einschläft und widerwillig unter Schneegestöber aufwacht. Seit Jahr und Tag bin ich in Völkern, Zeiten versunken, in Wahrheit nur in der Gegenwart, wie ich sie nun einmal zu verstehen vermag: Kreuzung über Kreuzung, ein Strahlenbündel, das in die Kälte schießt. Das Verlangen nach Gestalten, die doch allein Antwort wären, wenn auch nicht ausdeutbare, ist eingeschlafen. Ich existiere in imaginären Gesprächen, der Kunst gegenüber ohne Leid resignierend. Was im Innern dieser Welt geschieht, was erkannt, gedacht wird, übt noch Faszination aus; es fiele mir nicht schwer, sie abzustreifen; was die Zukunft bringen könnte, ist ja da.“ das ist weniger raunend als es zunächst erscheinen mag. wenn man den Text nur minimal von seiner zeitgenossenschaftlichen Hülle befreit, zeigt sich ein erstaunlich tiefer Blick. die Aufzeichnungen, die als „aus den Notizbüchern 1957/1958“ firmieren, zeigen einen verwundbaren, suchenden Autor. gleich zu Beginn erfahren wir beiläufig von einem Sturz, den Schneider auf die Unerfahrenheit des Reisenden, der seiner gewohnten Umgebung entrissen ist, zurückführt. er soll nur einen Monat nach seiner Rückkehr nach Deutschland an den Folgen sterben. 

aber nicht nur deswegen und wegen der Nachkriegsapokalyptik schwebt über seinen Aufzeichnungen ein sanfter resignativer Ton: Wien offenbart sich Schneider als die Stadt seiner Bestimmung, als der Ort, zu dem er ein Leben lang strebte und ihn erst viel zu spät aufsuchte und dann auch zu kurz. er kann sich kaum fortreißen. nur einen düstern Winter lang erfüllt er sich. was ein Panorama! und gesättigt mit Erfahrung, Anspielungen, Verweisen auf Stücke, Historie, Gedenken, geschichtsträchtige Orte, „Kreuzungen“. zum Beispiel im Zitat Karl Kraus: „die Wunder der Erde wirtschaften ab.“ wir leben, wird einem da klar, längst im Abgewirtschafteten, was die Wunder und die Erwartungen abgeht. was bleibt ist Individualismus und Dienstleistungskomfort, sofern man nicht, wie die große Mehrheit, diesen Komfort auf der anderen Seite erst einmal abgelten muss, um überhaupt in den Genuss zu kommen. was den räuberischen Machthabern die konservativen Wertvorstellungen, ist den Umstürzlern der Idealismus. die Ausbeuter der Treuherzigkeit wissen diese Vorstellungen nutzbar zu machen zu ihrem Vorteil. der Schleier einer noch größeren Melancholie liegt so über diesem schon an sich schwermütigen Buch. zu durchschaubar ist inzwischen das autoritäre Gerüst des Konservatismus. 

doch finden sich bei Schneider schwarze und dann wieder kristalline kleine Edelsteine, polierte Wortkombinationen, die einem langjährigen, sei es naiven, sei es reflexhaften Glauben entwuchsen und Vertrauen injizieren. Vertrauen worein? in Kultur, in Würde, in Größe der menschlichen Aufgabe – gerade durch das Angeschlagene, das selbststilisierte Martyrium hindurch.

das alles dachte ich bereits nach hundert Seiten. dann wurde ich gerufen, zu einem ganz anderen Winter, Winter in Moskau. und vielleicht recht so. dies noch wundersam aufgeladene Bild von Reinhold Schneider will ich mir erst einmal bewahren bis zur nächsten Lektüre.

Hendrik Jackson