Eine Geschichte der Prüfungen

Panik Paradies – Carl Christian Elze

Möglicherweise hörte das Paradies mit dem Wort auf. Oder jedenfalls mit der Fähigkeit, die Dinge nicht nur zu benennen, sondern auch zu hinterfragen. Die in zehn Caput aufgeteilten Gedichte von Carl Christian Elzes neuem Gedichtband jedenfalls könnten eine derartige Vermutung nahelegen.

Wie bereits in vorangegangenen Bänden heißen die Kapitel bei Elze Caput. Und vielleicht war diese Begrifflichkeit niemals so stimmig wie in diesem Band. Denn der Inhalt von Panik Paradies legt die Erinnerung an Heines Winterreise nah, schließlich handeln viele der Gedichte Elzes dieses Mal auch vom deutschen Staat. Und gleichzeitig sind die Gedichte erneut eine Einladung in den Kopf des Dichters, der nicht so viel anders ist als unser aller Kopf. Ein von Panik überwuchertes Paradies, in dem, allem und jeder Panik zum Trotz, immer wieder Fetzten des Paradieses erkennbar werden.
Das fängt mit der Ambivalenz an, mit diesem absoluten Gegensatz zwischen Panik und Paradies, die bei Elze zusammen gedacht werden, nicht nur im Titel, sondern, so möchte ich behaupten, in jedem einzelnen der Gedichte.

Den Auftakt macht ein „Mysophobia“ überschriebener Zyklus.
Dass ausgerechnet die Gedichte dieses Zyklus den Band öffnen, ist kein Zufall. Angst, vor den kleinsten Teilen, da spielt womöglich auch die Pandemie hinein, sowie allgemein das Phänomen Angst, die ja selbst eine Art Virus ist, das uns befällt. Angst ist vielleicht das, was der Panik die Tür zum Paradies öffnet.

Das Kind, um das es im ersten Kapitel geht, darf man nicht vorschnell auf Elzes leibliches Kind reduzieren, es steht vielmehr im Kontext der Corona Pandemie für uns alle, die wir ohnmächtig diffusen Ängsten ausgesetzt gewesen sind, befallen von einer teilweise irrationalen Angst vor Bakterien, und schlimmer noch von einer Angst vor Umarmungen und körperlicher Nähe.
Bei Elze klingt das so:

das kind wäscht sich
wäscht sich jeden einzelnen finger
wäscht sich mehrmals jeden einzelnen finger
eine minute, zwei minuten, schrubbt sich
seine rauen rissigen hände wie ein großer chirurg.
aber was will es operieren, das kind?
es will die sorge herausoperieren aus seinem körper
die angst herausschneiden aus seinem kopf
[…]

Elze schreibt derart eindrücklich von dieser noch nicht so lang vergangenen Zeit, weil er sie gleichzeitig analysiert und noch einmal spürbar macht. Indem die Gedichte so aneinander anknüpfen, dass sie eine Geschichte erzählen. Der ebenfalls auftretende Vater macht den Zyklus ebenso wenig wie das Kind zu einer innerfamiliären Geschichte; auch er steht sowohl für den Einzelnen als auch für die Tatsache, dass unser erwachsenes Denken und Handeln lahmgelegt waren.
Kein Zauberspruch war der Panik gewachsen, von der unsere Angst sich während dieser Zeit ernährt hat. Wir haben alle miteinander und jeder für sich nach Nachrichten gesucht, die uns endlich beruhigen würden, nichts hat uns erreicht. Bei Elze schlägt sich das darin nieder, dass ausgerechnet dort, wo kein Zauberspruch wirkt, zum ersten Mal das Paradies auftaucht.

Während Elzes Gedichte also ausführlich von der Angst berichten, ermächtigt ihn seine eigene Angstfreiheit beim Schreiben dazu, zu experimentieren. Im Band finden sich neben Sonetten, Terzinen, Listen, Anagrammen, Elfchen und vielem mehr auch scheinbar naive, liedhafte, einfache gereimte Gedichte, die vielleicht den Aufruhr, das Chaos und die Unruhe, die vorherrschen, einzufangen und zu befrieden versuchen.

Es ist ein bunter Reigen von Themen, die dazu geeignet sind der Panik Einlass ins Paradies zu verschaffen, und ebenso vielfältig sind die Details, die es dem Dichter wie der Leserin ermöglichen, in all der Panik immer wieder Teile des Paradieses wieder zu entdecken. So handeln die Gedichte in Panik Paradies u.a. von Bakterien und Lieferketten, Liebe und Gesang, einer sterbenden Hündin, Träumen und der Geschichte Deutschlands, die gleichzeitig als ein Stück Familiengeschichte auftritt, die wiederum übergeht in einen Teil Nachkriegsgeschichte. Dieser Band, so wie ich ihn lese, ist vor allem das: eine Geschichte der Prüfungen.

Nicht zuletzt ist Panik Paradies eine originelle und sehr gelungene Zusammenarbeit zwischen Nele Brönner und Carl-Christian Elze.
Der Illustrationsteil findet sich gebündelt in der Mitte des Buches, es ist ein wenig so als würden die Zeichnungen von Nele Brönner die Gedichte Elzes weniger spiegeln, als ihnen vielmehr eine eigene Geschichte hinzuzufügen. Sie funktionieren wie ein eigenes Kapitel, in dem Brönner auf ihre eigene Weise auf Elzes Gedichte eingeht. Zwar verweisen die Illustrationen auf bestimmte Gedichte, indem sie Kapitel- und Seitenzahlen angeben, aber sie machen sich unabhängig davon.
Einige der Illustrationen sind durchgestrichen, blieben aber trotzdem stehen. Sie folgen einer eigenen Logik, gehen nicht chronologisch durch die Kapitel, sondern weisen voraus und verfolgen zurück.
Motive wiederholen sich. Dinge brechen, Gemütszustände ändern sich. Wir sehen Eiskristalle, geometrische Formen, einen Kopf, der auftaucht und wieder untergeht. Die sich wiederholenden Gegenstände verändern, verwandeln sich, Formen vermischen sich miteinander.
Da ist der selbe Reichtum an Gestaltungsmöglichkeiten, wie in den Gedichten Elzes. Der Spiegel unserer Empfindungen ausgebreitet mit dem Besteck der Illustratorin in fast verzweifelter, auf jeden Fall immer wieder scheinbar verwerfender Weise.
Von manchen Menschen sagt man, sie seien durch Krankheit oder vom Leben gezeichnet, und diese Illustrationen sind vielleicht gezeichnet durch die Lektüre der Gedichte.

Gemeinsam erzählen sie in Panik Paradies eine Geschichte der Prüfungen. Prüfungen die weder bestanden werden noch dazu führen, dass jemand kapituliert. Vielmehr stellen sowohl Carl-Christian Elze als auch Nele Brönner den Leser:innen ihr Handwerkszeug zur Verfügung, um fertig zu werden mit der Wirklichkeit, sie in Bilder und Verse zu gießen, sie zu bannen und weiterzuspinnen, statt sich geschlagen zu geben.

Elke Engelhardt