Es hat schon angefangen – Det er begyndt

Inger Christensen lesen, schreiben, übersetzen *

 

Ich bin noch ein Kind, als mir meine dänische Großmutter zum ersten Mal ein Buch mit Gedichten schenkt. Zu dieser Zeit interessieren mich aber eher Drachengeschichten – und überhaupt: Auf dem Buch steht zwar etwas mit Schmetterlingen, aber es sind gar keine Bilder von Schmetterlingen darin. Das Buch landet in der hinteren Reihe des Bücherregals. Erst Jahre später, mittlerweile im Teenageralter, hole ich es zufällig hervor. Ich schlage die erste Seite auf und da flattert es mir entgegen:

 

De stiger op, planetens sommerfugle

som farvestøv fra jordens varme krop,

zinnober, okker, guld og fosforgule,

en sværm af kemisk grundstof løftet op.

 

Sie steigen hoch, die Sommervögel des Planeten

wie Farbenstaub vom Erdenkörper, warm

die Zinnober, Ocker, Gold und Phosphorgelben,

es hebt sich aus chemisch Grundstoff ein Schwarm.

(Ü: Liv Thastum)

 

Es war die erste Strophe aus Inger Christensens Sonettenkranz Sommerfugledalen (Das Schmetterlingstal), die ich damals zum ersten Mal las. Mit dieser Lektüre begann die Auseinandersetzung mit den Gedichten Inger Christensens, die mich seitdem faszinieren und mein eigenes Schreiben inspirieren. Die dänische Lyrikerin wäre dieses Jahr 90 Jahre alt geworden. Mit ihren Gedichten und ihrer unverwechselbaren Lesestimme hat sie die Literatur weit über die Grenzen Dänemarks hinaus geprägt. Das Werk der dänischen Schriftstellerin umfasst sechs Lyrikbände, zwei Romane, eine Vielzahl an Essays sowie einige Theaterstücke und Kinderbücher. Charakteristisch für ihr Schreiben ist das Spiel mit strengen formalen Strukturen. Sei es die Form des Sonettenkranzes (Sommerfugledalen), oder die Fibonacci-Folge (Alfabet) oder die Zahl 8 (Det) usw. Faszinierend ist, dass Inger Christensen, die zudem existenzielle Themen wie Tod und Krieg verhandelt, es immer wieder schafft, strengste formale Gebilde mit einer sprachlichen Leichtigkeit zu füllen, die mich bei jeder Lektüre immer wieder aufs Neue verblüfft und eine Nähe zu den Gedichten herstellt, die den Tod der Lyrikerin überdauert.

Oft spreche ich mit großer Begeisterung von Inger Christensens Gedichten und wenn man mich fragt, was genau mich an diesen Texten fasziniert, versuche ich diese sprachliche Leichtigkeit genauer zu beschreiben. Diesen leicht schwebenden, runden, manchmal fast unseriösen Klang meiner Muttersprache. Diesen Klang ins Deutsche zu übertragen, scheint unmöglich. Gepaart mit dem Dilemma, formale Strukturen und Semantik gleichermaßen zu übertragen, macht es unglaublich schwer, die Kernpunkte Inger Christensens Dichtung zu übersetzen. Diese Unmöglichkeit der Übersetzung beschäftigt mich. Für mich als Deutsch-Dänin liegt darin auch dieSchwierigkeit, auf Deutsch zu beschreiben, was mich in dänischen Texten beschäftigt. Es trotzdem zu versuchen, mich an eigenen Übersetzungen zu wagen, um das beschreiben zu können, was mich an dem dänischen Gedicht fasziniert, Übersetzung als close reading zu verstehen, dadurch kann ich der Sprache, dem Gedicht so nah kommen, wie es sonst nur im eigenen Schreiben geht.

Die Unmöglichkeit eine klangliche oder rhythmische Bewegung von einer in die andere Sprache zu übertragen und die Schwierigkeit, etwas in nur einer Sprache zu sagen, wo ich eigentlich immer zwei brauche, um mich auszudrücken, das ist es, was mein Schreiben vorantreibt. Aus dieser Unmöglichkeit entsteht es. Etwas. Etwas, das ein Text wird. Es entsteht. Ein neuer Text. Es fängt an bei Inger Christensens Worten. Aber dann wächst es immer weiter. Die Worte dehnen sich aus, wachsen in andere Texte hinein. Werden zu neuen Texten. Da ist es. Es hat schon angefangen.

 

Det. Det var det. Så er det begyndt. Det er. Det bliver ved. (Inger Christensen).

 

Det. Es. Es wird. Es wird wuchern. Es wird wuchern in seinem Welken. Es wird wachsen, sich ausdehnen, ausbreiten, wird es. Es wird gewesen sein: Herbst. Gewesen sein wird: Herbst. Herbst wird es werden. Jetzt ist es Herbst. Herbst ist es und immer wieder wird es Herbst sein. Herbst seiend, gehen wir am Acker entlang. Wir, wandern im vind, den wir immer noch Herbst nennen. So wie wir alles um uns herum Herbst nennen: Den Boden, die Erde, den Himmel, Herbst nennen. Wir wandern, laufen, seiend als Herbst und sehen: die Straßen, die Menschen und Häuser an denen wir vorbei laufen und sehen sie doch nicht. Sehen in ihnen nur das Sterben. Die Häuser, die Menschen, die Straßen. Stehen sterbend und sehen den Acker, der vom Sand überzogen wird. Sehen den Wind und in ihm die Erinnerung an das Wort vind, das wir so lange Herbst nannten, bis wir den Klang des Wortes vind vergaßen. Da stehen wir. Stehen sterbend mit der Vorahnung eines Herbstes, auf den ein Herbst folgt, auf den ein Herbst folgt.

Ohne etwas anderes dazwischen als Herbst. So stehen wir in der Erde des Ackers, wissend, dass Herbst gewesen seien wird. Es. Es wird. Es wird wuchern. Es wird: der Himmel, der Herbsthimmel wird es sein. Der Herbsthimmel der an uns vorbeirennt, während wir wandernd laufen. Wandernd und laufend, laufend und wandernd, während wir laufen, versuchen wir zu greifen: den Tag, den Tag an dem es Herbst wurde. Während wir greifen nach dem Herbst, nach dem ersten Herbst, den wir kannten, wird es: der Himmel. Der Himmel wird es sein. Während wir rennend, flüchtend vor diesem Jetzt-Herbst, der immer Herbst bleiben wird und uns erinnert an das Sterben der Häuser, der Menschen, der Straßen, da wird es der Himmel sein. In Erinnerung an den vind stehen wir und greifen nach einem Herbst ohne Herbst. Wir werden da stehen und greifen nach einem Herbst, während es in Wahrheit der Himmel sein wird. Es wird der Himmel sein, nach dem wir greifen.

(…)


Liv Thastum

 

*ein Text zum Podcast: dieser Text entstand innerhalb einer Kooperation von Litradio, zæsur-poesiekritik und lyrikkritik: den Podcast mit Liv Thastum und Gudio Graf (Moderation: Hendrik Jackson) finden sie hier