Fake-News und Poesie

der Wille zur Lüge*: in Zeiten von Fake-News und Trollen und Verschwörungstheorien ist die Idee einer reinen „Argumentationslogik“, wie sie in den letzten Jahren im Fahrwasser der Diskussionskulturen in den sozialen Netzen postuliert wurde, eine sich mit Logiken bewaffnende sprachliche Kriegskunst, die jede Frage nach unterschwelligen Motiven oder vertuschten Absichten als „Psychologismus“ zu diskreditieren geneigt ist, gescheitert. nicht nur, weil sie sich ihre eigenen Interessen nicht eingestehen kann, sondern weil sie im Kampf mit der Hydra den nachwachsenden Einwänden erliegt, selbst wenn sie Recht hat: es gibt nie genug “Fakten“, Wirklichkeit ist nie faktisch genug, als dass man sie nicht endlos argumentativ entstellen könnte.** die Figur des „stillen Mitleser“, die daraufhin als wenn schon nicht dritte, objektive Instanz, so doch als die Erträge der Diskussion Erntender ersonnen wurde, wirkte als rettender Schachzug dabei eher hilflos, indem sie das Problemfeld nur um eine Teilnehmerfigur erweiterte, die letztlich auf die Funktion des Kronzeugen zurückfallen muss. ihn (bzw sie) braucht es gar nicht: wahrheitsgemäß Wirklichkeit zu (re)konstruieren und mit Argumenten zu arbeiten, bleibt unabdingbar. nur wäre es zuweilen unter Umständen zielführender, auf Überzeugung und eine Evidenz zu spekulieren, die niemanden verletzt, anstatt auf Urteil und Recht. wo dies an Grenzen stößt, kann es wichtig werden, über die Motive des Anderen zu spekulieren, so heikel das philosophisch anmuten mag. denn alle Erkenntnis ist interessegeleitet, dem ist schwer zu entkommen (und glücklich, wenn es ausnahmsweise mal „nur“ das Interesse an der Wahrheit ist, das maßgeblich treibende Kraft ist – aber schon da schwer vorzustellen, wie diese Kraft aseptisch umzusetzen wäre). aber gibt es nicht einen Willen zur Lüge, der über die Verzerrungen der eignen Interessen hinausgeht? jede und jeder erkennt ihn freilich zu allerst nur bei anderen und ist zugleich selbst nicht davor gefeit. und doch macht, wie in vielen Dingen, hier ab einem gewissen Punkt eine Quantität eine Qualität aus. es ist ein Unterschied, etwas nur auszublenden oder ob aktiv an Lügen zu arbeiten oder gar an einem umfassenden, alles einwebenden Lügengespinst. ununterscheidbar bezüglich der Vermischung von absichtlicher Lüge und der je eigenen unbewussten bias mögen diese Ausformungen sein – aber eben doch unterschiedlich in der Stärke ihrer Verlogenheit.

noch wichtiger scheint aber fast, aus welchem Interesse gelogen wird: um sich einzuspinnen in eine weltferne Parallelwelt, oder um – eines von vielen Beispielen nur – einem ganz und gar realen Nationalwahn als Ersatzidentifikation anzuhängen. um nur eine eigene Schuld nicht zugeben zu müssen (und wie gravierend oder wiederum nur eingebildet die ist, wäre die daran anschließende relativierende Frage) – oder um einen Anderen, der einem unangenehm ist (indem er z.B. an diese Schuld erinnert), vernichten zu wollen? da sind doch deutliche Unterschiede zu zeichnen. ob es im Disput dabei zu einem gegenseitigen Austausch kommt oder zur alten Freund-Feind-Unterscheidung (dem man noch den Gegner als Figur, die man nicht vernichten will, sondern die man benötigt, weil sie die eigenen Argumente verdeutlicht, hinzufügen könnte) – ist eben auch eine Frage der Mittel der Diskussion. der Feind muss dabei nicht immer, wie im vielzitierten Schmitt-Ausspruch, die eigene Frage als Gestalt sein. er kann sich auch als ungefragter Vernichtungswille von außen aufdrängen, eben weil man für ihn Feind als eigene Gestalt ist. dennoch drängt einem ein solcher Gegner in der Auseinandersetzung eine Frage auf: die Frage nach der Entscheidung, was ich für real halte (jenseits der Realien der Zahlen). wer im Namen der Fakten den Zweifel beseitigen will, ist vielleicht voreilig. es ist ja gerade der fehlende Zweifel am Zweifel selbst, die absolute störrische Selbstgewissheit des einseitig zweifelnden Trolls, der man irgendwann eine Absage erteilen muss.

was hat das mit Poesie zu tun? auf den ersten Blick argumentiert Poesie nicht (es liegen aber gleichwohl Argumente in ihr eingefaltet). sie bewegt sich aber oft in einem Raum, der von diesen ureigensten Interessen bestimmt ist und ihn ausfüllt. und sie geht genau der Frage nach dieser Entscheidung auf den Grund, der Entscheidung, was ich für real halte, für wirklich, nicht nur für wirksam. je versonnener, je eigenbrödlerischer die Poesie ist, desto dringender gesellt sich ihr, sofern sie nicht nur einfach schrullig, spleenig oder abstrus sein will, ein zu absorbierender Wahrheitswert der Erfahrung und Aufmerksamkeit zu, der keine Lüge erlaubt (und der manchen Argumenten eher einen Weg ebnet und anderen nicht). indem Poesie dem eigensten Interesse*** zu einem Ausdruck (und dann womöglich sogar zu seinem Recht) verhilft, und sich nicht, wie allzu oft die Argumentation, dem Willen dieses Interesses ergibt, handelt sie sogar zuweilen schmerzhaft gegen das eigene Interesse. doch nichts ist befreiender, als den adäquaten Ausdruck zu finden und zu fassen, was uns erfasst hat, noch vor aller Entscheidung. Poesie geht dabei noch vor die Entscheidung aus Interesse zurück. vor das Instrumentarium der Rechtfertigung, ins Offene, wo sich sowohl das Wirkliche als auch inwendig Wirkende überhaupt erst bildet und entfaltet, bis es dann wieder funktionalisiert wird.

Hendrik Jackson

Drei Anmerkungen:

* auch wenn der Krieg Anlass für die verschärfte Frage nach der Möglichkeit, Fakenews zu erkennen, ist, so berühren diese Skizzen doch nicht die (sicherlich dringliche) Frage, wie sich Poesie in Zeiten des Kriegs verhalten soll

** aber wie hängt Argument mit Realität zusammen? das lässt sich hier nicht beantworten, aber ich denke, das Problem des Dissens liegt weniger in dem schlechten Gebrauch von Argumenten, als in der Unmöglichkeit oder eben dem Unwillen, eine gemeinsame Basis der Wirklichkeitsperspektive herauszubilden. ohne die Klärung dieses Verhältnisses scheint mir einstweilen auch das „gute“ Argument ins Leere zu laufen. das müsste freilich genauer gefasst werden

**es könnte ein Merkmal privatistischer Literatur sein, dass sie Interesse mit Affekt verwechselt