Gastbeitrag von Meinolf Reul

Anja Utler: kommen sehen. Lobgesang

War es Theodor W. Adorno, der den geschwindigkeitsbegeisterten Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti bescheinigte, ihre typographisch zerstückten, als sprach-bildliches Dahinrasen intendierten „parole in libertà“ glichen einem Schlachtfeld nach Granatenbeschuss: über und über Löcher, und keinerlei Bewegung?

kommen sehen, der neue Gedichtband von Anja Utler, vermittelt genau diesen Eindruck der Starre, er ist sogar – wenn auch mit anderer Intention – vergleichbaren Ursprungs, weil typographische Mittel (wie z.B. Sperrsatz) auch bei Anja Utler eine bedeutende Rolle spielen. Bei ihr werden sie allerdings denkbar fein eingesetzt, gemäß einer Ästhetik der Zurückgenommenheit und Andeutung, die der virilen Pose der Futuristen blank widerspricht. Anders auch als bei diesen, deren Idee allumfassender, heroischer Beschleunigung in ihrer literarischen Umsetzung ins Stottern geriet und zum Motorfraß führte, haben die sequenzierenden, textstrukturierenden Leerzeichen in den ausgekämmten Versen von kommen sehen gerade nicht das Ziel, Dynamik zu simulieren – im Gegenteil. Die Welt, in die das Buch entführt, ist immobil geworden: „fortbewegen / sich fortbewegen   sind immer die größten  Lügen von / allen gewesen.“

Eine kleine Familie: Mutter, Tochter und deren „Mädchen“ – einen männlichen Teil gibt es nicht – ist im Freien rund um ein „Sandloch“ versammelt. Einige wenige Stichworte genügen der Autorin, um den Ort zu skizzieren (ein altes Eisenwerk, eine Birke, verlassene Häuser, ein Flussufer, ein Garten). Die Mutter, eine alte Frau, sitzt abseits auf einer Bank, die Tochter tut geschäftig, die spielenden Kinder sollen nicht mitbekommen, dass „Groms! Gromi! Gromama!“ wieder da ist, denn sollte sie nicht tot sein?

„Mutter  um Himmels willen Mutter / Warum bist du hier“, fragt die Tochter dann auch in grotesker Umkehrung der Worte Jesu Christi: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Die Mutter möchte sich von einem Geheimnis befreien, das sie gegenüber ihrer Tochter lebenslang verschwiegen hat. Doch es fällt ihr schwer zu reden, und auch die Tochter ist unwillig.

Der private Mutter-Tochter-Konflikt ist eingebettet in das weltumspannende Drama der Klimakatastrophe und eng mit dieser verknüpft. Der Kollaps, den die Wissenschaft so lange schon vorausgesehen hat, ist Wirklichkeit geworden. Der worst case ist eingetreten und nimmt weiter seinen Lauf. Gleich zu Beginn, auf der ersten Seite, wird er als „drei // Jahre Sommer“ beschrieben – ein Fanal, das eine andauernde Epoche der ‚Verwüstung‘ einleitet: Unter der Knute der Sonne („und dann kommt die Sonne Stück / Kieferleiste das lodert den Horizont zu be- // saugen beginnt”) formiert sich eine neue, Schaudern machende Welt.

Der Zwang, die erhitzte Atmosphäre herabzukühlen, fordert ein drakonisches Regime, Fortpflanzungsverbot hier, „Verjüngungsempfehlung“ da: für die Alten – ein Beispiel für das propagandistische Sprachregister, das hin und wieder aufscheint und sich durch Euphemismen, Wortneuschöpfungen und Großschreibung von Subjekt, Prädikat, Objekt und Pronomen zu erkennen gibt, von welch letzteren besonders alle Variationen von „Uns“, Unser“, „Die Unsrigen“ wichtig zu sein scheinen.

Schatten wie Wasser den Unsrigen“, wird eine Parole zitiert (wer sind die anderen?).

Oder: „Dabei  kann gerade bei Pools  die Verschlankung ge- / boten sein  Zu ihrer durchgreifenden Auffrischung  Der / erwünschten Re-Kalibrierbarkeit  Ja  Vertiefung / Unserer Optionen“.

Beiläufig fällt die Bemerkung: „Es gab lange noch Männer“.

Wasser ist in Utlers Welt ein rares Gut geworden. „Flüssigkeitsanteil”, „Tau”, das lässt sich noch sagen, aber ein Glitzern in der Landschaft verweist im Zweifelsfall auf Sand. Das sprichwörtliche, aus der bukolischen Dichtung vertraute, erquickende Nass ist ersetzt durch „eine Gestanksgravur des ver- / trockneten Wehrs”. Kühn ist von „skelettierten Wasser[n]” die Rede – ein geologisches Datum: „Steine mit Wasser- Quellverbiss”, „Bissspuren vergangener Flüssigkeit”.

„Ex-Garten“, „Ex-Haus“, „Ex-Knospen“ – nichts ist mehr so, wie es war. Die Worte stehen noch als Fassade, werden aber zunehmend unbrauchbar.

Immerhin, Schlamm gibt es weiterhin. Mit der Freiheit ist es schwierig – ein Streitpunkt zwischen den Generationen.

Trotz fataler Ausgangslage halten sich Reste von Hoffnung: „Später  da wird’s / wieder reichen  Es gibt ein ganzes Leben für alle“. So weit ist es freilich noch nicht, und ob es dahin kommen wird, bleibt zumindest fraglich. kommen sehen bietet eine düstere Spielart des Nature Writings, mit Schnittstelle zur Apokalypse.

Die neue, (post-) apokalyptische Welt ist in eine bizarre Mischung aus protokollierendem Benennen, Wissenschaftssprache und expressiver Sprachgeste gefasst, übersetzt überdies in die brüchige Faktur des Textes selbst. So wird beschrieben, „wie Flecken um Flecken das Gras kollabiert”, besser: kollabiert ist. Bäume stehen noch, doch vertrocknet und kahl. Zugleich scheinen die geschorenen Zweizeiler in ihrer typographischen Gestalt, als Zeichenform, konkret in einem mimetischen Verhältnis zum „dörrenden / Gras“ zu stehen, wirken selbst wie das „gedünnte Gelände“, auf dem nichts anwächst.

Die Frage, wie vom Unbenennbaren, von einem im Ganzen Unvorstellbaren gesprochen werden kann, hat die Dichterin zu einem hybriden Realismus geführt, der immer wieder ins Abstrakte kippelt, in dessen Überhelligkeit Konturen und Begriffe verschwimmen. Zuweilen in seiner Dissoziiertheit rundweg unverständlich, ergibt dies ins Extrem geführte Idiom im Gesamtbild Sinn als Widerspiegelung eines Zustands, der (unrettbar?) aus den Fugen geraten ist. – Wie Epiphanien sind vereinzelt sinnliche Haltepunkte eingestreut, angeknackste Idyllen, weil sie sich auf eine ebenfalls unvorstellbar gewordene Vergangenheit beziehen: „[…] wie Pappelblätter  sehr / viele und zitternd ein  dichtes Geraschel aus Schatten // Silber verwildertem Licht“.

Die Stimme des Buches gibt die Rede von Mutter und Tochter wörtlich wieder. Oft ist sie ein Stammeln und Stottern, ein Ansetzen und Wiederabbrechen. Das zeigt sich schon im allerersten Vers:

„Man konnte die Sonne ich  konnte die Sonne ja / kommen sehen  sagt sie  als sie alt ist […]“. Vieles bleibt, nach innerer Abwägung, unausgesprochen. Weil die Wörter falsch klingen würden? Weil sie verletzen würden? Weil es merkwürdig wäre, über etwas zu sprechen, von dem so lange geschwiegen wurde? Weil ihnen die Zunge im Mund verdorrt ist?

Umgangssprachliche Ausdrucksweisen wie „immer nie“, „Echt jetzt“, „Sorry“ unterstreichen den dialogischen, beinahe szenischen Charakter des Texts, ohne dass dies Stilmittel überstrapaziert würde.

Auf den ersten Seiten ihres großen Gedichts hat Anja Utler – nicht unironisch – die Wendung „zur Sonne zum Schlamm“ versteckt, wohl eine Anspielung auf das bekannte russische Revolutionslied („zur Sonne, zur Freiheit“). Mag das Buch im Untertitel als „Lobgesang“ ausgewiesen sein: es ist darin doch jedwede Zuversicht, dass bessere Zeiten anbrechen, zerstoben. Die Zukunft geht schlecht aus. Abschied, Abbruch liegen in der Luft und sind mit Händen zu greifen. Die kümmerlichen Kräuselungen auf dem Buchumschlag zeigen „einen möglichen Lauf der Naab in der Gegend um Schwandorf, dem Geburtsort der Autorin, um das Jahr 2093“. Man vergleiche sie mit der Umschlagzeichnung ihres Debüts münden – entzüngeln, die gleichfalls die Naab zeigt, dann ahnt man, wohin die Reise geht.
Neulich war im Radio zu hören, dass der Sommer des Jahres 2100 fast ein halbes Jahr dauern könnte.

kommen sehen ist ein herausforderndes Buch, das formal und inhaltlich heutiger nicht sein könnte – „auf den ersten Blick ungefähr paranussschalenhart“, wie die Kritikerin Beate Tröger anmerkt. Wirkt der Text beim ersten Lesen plan und glatt, offenbart er mit jeder weiteren Lektüre eine größere Plastizität, die Sprache zeigt ihre Stofflichkeit, ihre Widerhaken und Verästelungen. Als gälte es, sich vom Lauten, Lautsprecherischen erst ganz freizumachen, um dann die zahlreich über das Gedicht verstreuten sinnlichen Signale aufzunehmen, das Knistern und Knacken der vertrockneten Flora, das „Strohlicht“, ganz zuletzt auch, in einer überraschenden und nicht mehr für möglich gehaltenen Volte, „ein Schwarm / Phyllvögel“ auf abendlichem Besuch, „dicke  Grastropfen“, wenn schon sonst kein Regen – „sitzen dann  grün- / nervöses Bordürchen fürs alte  Ufer“. Mit dieser Farbe der Hoffnung, dem „Glück“ einer – allem zum Trotz – beinahe intakten Naturerfahrung endet das Buch, dessen allerletztes Wort „Ja“ ist.


Meinolf Reul

Anja Utler, kommen sehen. Lobgesang. 128 Seiten. Edition Korrespondenzen, Wien 2020.