„Streichhölzer“ von Fabian Lenthe und „Atemopale“ von Patrick Schild

– Zwei Kurzkritiken –

Streichhölzer 

Fabian Lenthe wurde 1985 geboren, ist Lyriker und lebt in Nürnberg. Seit 2016 veröffentlicht er regelmäßig in Anthologien und Literaturzeitschriften. Seine kontinuierliche Gedichtproduktion ist auch auf seinen Online-Kanälen nachzuvollziehen. 2018 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband In den Pfützen der Stadt wächst ein Stück Himmel und Da draußen (beide 2018, Rodneys Underground Press), gefolgt von apnoe (2020) und acedia (2021, Rodneys Underground Press) mit Urs Böke und Stefan Heuer, und dem Gedicht-Trialog Vielleicht ein paar Raben (2023, Moloko Print), ebenfalls mit Urs Böke und Stefan Heuer. Streichhölzer, seine erste Publikation im XS-Verlag, setzt die Reihe fort.

In Streichhölzer zeigt sich Lenthe als Minimalist: Die meisten Gedichte sind auf zwei bis drei kurze Strophen reduziert. Nur wenige im letzten Drittel des Bandes weichen durch Länge und strophenlose Struktur davon ab.

Bei Tagesanbruch
Sehe ich auf die kaputte Uhr
Und wie jeden Morgen
Trinke ich Tee statt Kaffee
Esse etwas Toast mit Butter

Und denke darüber nach
Ob es Tag
Oder Nacht war

Als sie stehengeblieben ist

Lenthes Gedichte nehmen oft eine unerwartet negative Wendung. Dabei beweist der Dichter feinsinnige Beobachtungsgabe für die kleinen Dinge des Alltags, um schließlich zu den großen Fragen nach Vergänglichkeit, Lebenssinn und Tod zu gelangen. Diese philosophische Dimension prägt den Band.

Die Gedichte tragen keine Überschriften, die Verse sind kurz bis mittellang. Durch die Wiederholung bestimmter Motive wie Vögel und Kirschblüten und klare Strukturen prägen sich die Gedichte gut ein.

Der Kirschbaum vor meinem Fenster
Existiert nicht

Selbst die Vögel auf seinen Ästen
Singen keines seiner Lieder

Und auch seine saftigen Früchte
Schmecken nach nichts

Dieses erste Gedicht setzt den pessimistischen Ton des Bandes: Positives kippt unvermittelt ins Negative, die Welt erscheint dem lyrischen Ich trüb, der Tod prägt seine Gedanken.

Ein Gegenüber taucht auf wiederholt auf, möglicherweise  die „Vera (1987–2018) aus der Widmung? In der Erinnerung wachsen sich Alltagsgegenstände zu Symbolen aus:

Du hattest mir
Streichhölzer versprochen
Du sagtest
Dass es wichtig sei
Immer welche
Bei sich zu haben

Dass man
Im Notfall
Immer etwas

Anzünden könnte

Trotz ihrer Kürze sind Lenthes Gedichte keine Schnelllektüre. Sie laden zum wiederholten Lesen ein, ohne dabei an Kraft zu verlieren. Seine stetige Beschäftigung mit Vergänglichkeit, Lebenssinn und Tod hat er in einprägsamen Gedichten und Bildern auszudrücken vermocht, die offen bleiben für den Austausch mit den Lesern, sodass man gern zu dem Band Streichhölzer zurückgreift.

Atemopale

Ein weiterer interessanter Gedichtband  eines kleineren Verlags stammt von dem noch jüngeren Autor Patrick Schild. Für sein Debüt Atemopale erhielt der 29-jährige Lyriker den Klopstockpreis für junge Lyrik und den 6. Hanns-Meinke-Preis für junge Lyrik. Der aus der Eifel stammende und bei Aachen lebende Autor veröffentlichte den Band in der Reihe Lyrik Edition NEUN des Verlags der 9 Reiche.

Wie in dieser Reihe üblich, gliedert sich Atemopale in drei Zyklen mit jeweils neun Gedichten: Narbenkartographie, Ruinenengel und Atemopale. Die Linolschnitte, die den Band illustrieren, stammen von dem Dresdner Künstler Steffen Büchner.

Der Titel Atemopale klingt anziehend und zugleich geheimnisvoll. Die Verbindung vom existentiellen „Atem“ mit der Welt der Edelsteine und Minerale lässt dabei Raum für Interpretationen.

Schilds Band beginnt im ersten Kapitel mit seinen jüngsten Gedichten, durchweg kleingeschriebenen Texten, in denen er mit Sprache, Form und grafischer Gestaltung, zum Beispiel mit eckigen Klammern oder Gedankenstrichen, experimentiert und dabei eine vielschichtige Innenschau des sprechenden Ichs zu erzeugen vermag.

ein gewebe aus luft
ein mandala
ein entwurf aus wenigen strichen
wie die bewegten u. noch grünen flanken der hügel
als wir —zornige kinder —dem leben anhafteten …

(aus: [anhaften])

Einige Gedichte sind im Blocksatz gestaltet, erinnern an konkrete Poesie und verstärken den visuellen Eindruck:

  was suche ich eigentlich? :

  blickfang blickfang blickfang
  blickfang blickfang blickfang
  blickfang blickfang blickfang
  blickfang blickfang blickfang
  blickfang       mich    blickfang
  blickfang blickfang blickfang

(aus: [hab dich, optisch, haptisch])

Im zweiten Zyklus Ruinenengel, der ältere Gedichte enthält, kehrt Schild zur traditionellen. Groß- und Kleinschreibung zurück und seine Gedichte wirken insgesamt autobiografischer und weltgesättigter, weniger von der Form getrieben. Dabei verwebt er ungewöhnliche Metaphern mit schmerzhaften Erfahrungen, wie der Krankheit des Vaters. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Farbe Rot, zum Beispiel in Form der Rose, die auch auf dem Cover aufgegriffen wird. Im zweiten Zyklus wird der trennende Gedankenstrich durch einen Punkt ersetzt.

Die Rose die
das Licht mit dem Gehäuse
ihrer Uhr einfasst.
Später der langsame
Lidschlag der Sterne über
der mit Krach
​gepflasterten Stadt.
Ich wünsche mir
das dunkle Gold des Verstummens
im Mohn
einer Freundschaft.

(aus: Freundschaft)

Je weiter der Band fortschreitet, desto weniger experimentell wird die Dichtung. Der dritte Zyklus Atemopale, der dem Debütband seinen Titel verleiht, enthält eine Sammlung verschiedener Gedichte, die aus der frühesten Schaffensperiode stammt. Die darin versammelten Gedichte vereinen sowohl biographische Elemente aus dem zweiten Zyklus (Vater, Großvater) als auch die bereits bekannten Bilder (Vogel, Rose, Mohn, Krähe).

Zuweilen mag die Vielfalt der verwendeten sprachlichen Mittel als uneinheitlich empfunden werden, doch gerade darin liegt die Stärke des Bandes – und der gesamten Lyrik Edition NEUN, die Raum für mutige Debüts bietet.

Florian Birnmeyer