Hengstgespenste

Um das das Jahrbuch der Lyrik habe ich immer einen großen Bogen, als Autor wie als Kritiker gemacht. es lief doch zuletzt immer auf ein peinliches Schaulaufen hinaus – wer ist dabei und wer nicht – das mit Gedichten und Poesie wenig zu tun hat, zumal alle Gedichte aus Kontexten gerissen werden. natürlich konnte man dort immer etwas entdecken, aber es bezeichnet den Mangel dieser Anthologie, dass einem selbst die großartigen Entdeckungen eigentlich meist sofort wieder entfielen, als wäre diese Anthologie nur ein Durchlauferhitzer, der sein bestes Material noch verbrennt. 

die HerausgeberInnen (Matthias Kniep und Sonja vom Brocke) des diesjährigen Jahrbuchs haben, wie formidabel im Nachwort Kniep erläutert und begründet, in Anlehnung an Walter Höllereres 1965 herausgegebene Sammlung Transit, das Verfahren nun anonymisiert und zwar nicht nur für den Leser und die Leserin, sondern bereits bei der Auswahl. das ist gut so und eröffnet Perspektiven. der Herausgeber spricht von einem Risiko für die etablierten AutorInnen (und einige scheinen sich nicht entblödet zu haben, sich zu beschweren) – das ist natürlich einer intrinsischen Sicht geschuldet, die die eigenen Wirkungsmöglichkeiten ziemlich überschätzt – aber gut. eher allerdings war es doch ein Risiko für die HerausgeberInnen. denn sie haben damit vor aller Öffentlichkeit ihre Bewertungsfähigkeit auf die Probe gestellt. man darf sagen, sie haben den selbst auferlegten Test bestanden. man sieht hier bereits schon: so eine Anonymisierung ist eine lyrikunübliche Sache des suspense – und würde in Wettbewerben angewendet uns vielleicht einige Diskussionen ersparen (zum Beispiel die Frage: wer noch hätte reingemusst etc) – vermutlich andere wieder heraufbeschwören: nun rücken nämlich die Kriterien umso schärfer in den Vordergrund.

zunächst ist es also eine vergnügliche Sache, in dem Buch zu stöbern, zu raten, nachzuschauen, wer was verbrochen hat – oder auch einfach mal ein Gedicht Gedicht sein zu lassen und dann doch wieder zu schauen, von rückwärts her, was diese oder jener beigesteuert hat. das also ergibt schonmal drei Möglichkeiten der (Nicht-)Kontextualisierung. darüber hinaus schält sich natürlich ein Gesamteindruck heraus, zumal die HerausgeberInnen es sich dann doch nicht haben nehmen lassen, die Gedichte miteinander reden zu lassen (auch schön im Nachwort beschrieben) und danach zu ordnen, wie sie miteinander umgehen. 

und es drängt sich der Eindruck auf, dass sich unter dieser Gide verschiedene Arten von Gedichten durchsetzen konnten: es gibt einige originelle Diskurslyrik (was ein bißchen schon ein „Rinck’sches“ Erbe zu sein scheint, nicht zuletzt einige quatschige Elemente (sehr  gelungen die „Theorie des Parmesanen“) weisen darauf hin; aber auch stolterfohtsche und wolfsche Elemente geistern herum); dazu eine Handvoll Gedichte, die am ehesten noch als „experimentell“ oder selbstreferenziell zu klassifizieren wären. das Gros der Texte sind allerdings alltäglich grundierte Gedichte mit lockeren Formen und ein bißchen Reflexion, die mal im kleinen Kreis rotieren, aber nicht unklug (“das Dösen als Mythos vom Dösen. Ich meine/ das Dösen, das wie Langeweile aussieht und// von den Schlangen kommt (…)“), mal ein bißchen ausgreifen („Spitzbergen“), hin und wieder politisch, dann wieder ein bißchen abseitig. eher sparsam gewagte Bilder einstreuend plätschern sie so dahin, nicht Fisch, nicht Gold, wie wir es in fast jedem Jahrbuch haben: man muss lesend zu sieben wissen. das mag natürlich auch eben genau der anfangs benannten Crux zu verdanken sein; manches Gedicht würde sich im Kontext des Autorenwerks vielleicht zu was Größerem auswachsen im Ganzen. so hängen die Enden etwas lose im Raum.

die Gedichte zeichnet dabei meist eine sachliche, alles in allem sehr unaufgeregte Schreibweise, die ihre Formen eher nur lose, spielerisch in Anspruch nimmt, darüber hinaus aber sehr sorgsam und fast akribisch mit dem Wortmaterial selbst umgeht. freilich, vieles kommt einem irgendwie vertraut vor, selbst oder gerade das Experimentellere; in vielen herrscht gar direkt Müdigkeit vor. mancher sehnt sich nach Landruhe, anderer schreibt bereits über Sträucher. doch gefällt die Aufmerksamkeit, die sie erzeugen.  

etwas seltener eingestreut sind Gedichte, die starke Metaphern verwenden, sie surreal ineinandermontieren. diese fallen auch von ihrer Emotionalität her auf. unter ihnen sticht ein delirierendes Gedicht über die mater dolorosa besonders hervor, das Ende sei hier kurz anzitiert: „halleluja! elephant island in sicht. ich reit auf einem eselspinguin, sonne scheint / marialicht um mich, mir thront ihr zartes lächeln im gesicht“.
und wenn es dann ganz akut wird, nahe an einen herantritt, dann fällt das schon direkt auf, so ein Gedicht, dass ein latent aggressives („verdammt nochmal“) Selbstgespräch führt oder eines, das politisch Bezug nimmt („20./21.4.22“) und bekennt: „alles ist zum Heulen aber ich kann nicht verneinen, dass ich glücklich bin.“ bei beiden überrascht (positiv) dann das Nachschlagen des Autors: beim ersten wegen des Tonfalls, beim zweiten wegen der Konkretion und Aktualität, aber schaut selbst.

eins der kompaktesten und gewitztesten Gedichte, in denen sich gleich fast alle der oben genannten Tendenzen abbilden (es ist ebenso realistisch-politisch grundiert wie surreal verschroben, wortgenau platziert, das Register wird eng geführt und doch ist es frei in der Form, zugleich wächst uns eine Metapher wie ein Geschwulst eigenartig aus dem Gedichtganzen entgegen), sei hier in Gänze zitiert:

wir und vieles andere bevölkern die Großstadt

ich stecke mit den Stiefeln, die
fanatisch vom Kassierer Stiefelchen genannt
tief im Kadaver eines Feindes, Pferdes

sekundenkleberfarbenen Hengstgespenstes 
und will doch nur und will doch nur aufs Land

wie viele der Gedichte bleibt auch dieses Gedicht ein Stück weit rätselhaft, zugleich schimmern schön Doppelbelichtungen durch (das Wort Kürassierer zum Beispiel fällt mir als erstes zur zweiten Zeile ein). ja, das Gedicht selbst ist so ein sekundenkleberfarbenes Gespenst, das doch einen Haken ins Fleisch setzt. 

und das wäre auch eine wunderbare Bezeichnung für so manches Leseerlebnis in dieser Anthologie, wo manches hängen bleibt, anderes sich gegenseitig verdrängt und auslöscht und viele AutorInnennamen zunächst nur als Gespenster über den Gedichten schweben.

Gedichte der im letzten Jahr verstorbenen Dichter Rosenlöcher, Mon, Enzensberger und Delius beschließen den Band ein wenig elegisch.

Hendrik Jackson