„[I]ch stehe auf / festen Versesfüßen“ – Gastbeitrag von Anna Bers

Eine Lyrikkritik-Kritik anlässlich einer Stimme zur Prämierung von Judith Zanders Gedichten

Was haben F.W. Bernstein, Thomas Brasch, Eugen Gomringer, Uwe Grüning, Peter Huchel, Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten, Reiner Kunze, Christian Morgenstern, August von Platen, Utz Rachowski, B. K. Tragelehn, Kurt Tucholsky, Bernd Wagner und Matthias Zwarg gemeinsam?

Zweierlei:

Erstens ist jedem von ihnen ein ‚Poesiealbum‘ gewidmet, eines jener legendären Hefte, die in der DDR monatlich, heute alle zwei Monate auf wenigen Seiten sorgfältig kuratiert und bildkünstlerisch ergänzt Lyrik unter die Leute brachten und bringen. Ende 2021 nennt der aktuelle Herausgeber des ‚Poesiealbums‘, Klaus-Peter Anders, in einem Interview im ‚neuen deutschland‘ dieses gute Dutzend bekannter und beinahe bekannter Namen und beschreibt anhand ihrer verlegerische Entscheidungen und markante Ereignisse, die die verdienstvolle Reihe prägen. Es darf nicht unterschlagen werden, dass Anders neben den genannten Lyrikern auch noch auf Ilse Aichinger und eine leider namenlose „Mathematikerin, eine ganz berühmte an der AdW, der Akademie der Wissenschaften der DDR“, die unter ihrem „Geburtsnamen […] Lyrik gemacht“ habe, verweist, wenn er seine Arbeit beschreibt.

Die zweite Gemeinsamkeit hat sich erst kürzlich und eher indirekt offenbart: Der Literaturkritiker Björn Hayer attestiert mit einem Querverweis auf das nd-Interview den genannten Autoren und Autorinnen des ‚Poesiealbums‘ „starke Lyrik“ verfasst zu haben. Dass er die aufgeführte Reihe wertschätzt, ist für sich genommen unspektakulär. Interessant ist jedoch der Kontext, in dem dieser Mini-Kanon ‚starker Lyrik‘ auftaucht. Hayer setzt den unscheinbaren Verweis an einer Stelle ein, die keineswegs harmlos ist: Ebenfalls im ‚neuen deutschland‘ nimmt der Kritiker nämlich am 9. Februar 2023 Stellung zur Tatsache, dass die Autorin Judith Zander den mit 15.000 € datierten Huchel-Preis gewonnen hat. Dieser Text hat ein einziges Ziel, auch wenn er behauptet, zwei Anliegen zu verfolgen, wie Hayer bei Twitter schreibt: „Der #Huchel-Preis an #JudithZander wirft nicht nur die Frage auf, warum er nicht an begabtere Stimmen geht. Wie ich in @ndaktuell diskutiere, erklärt die Vergabe auch, warum der #Lyrik unserer Zeit die Leser abhanden gekommen sind. #Gedicht #Poesie #Preis“.

Hier sei behauptet, dass Hayer nur vorgeblich die Lyrik als solche im Blick hat, wenn er sich am Werk einer einzelnen Autorin abarbeitet. (Ob zudem „der Lyrik unserer Zeit die Leser abhanden gekommen sind“, dürfte diskutierenswert sein: Die sogenannte ‚Krise der Lyrik‘ hat viele Facetten und es ist z.B. fraglich, ob eine – in Verkaufszahlen zu messende – seit Jahrzehnten andauernde Geringschätzung gedruckter Gedichte auf der einen und ein Boom von Lyrikformaten etwa auf Instagram auf der anderen Seite diese pauschale Aussage überhaupt rechtfertigen.) Im Folgenden sollen alle Kriterien untersucht werden, die Hayers Offensiv-Text zugrunde liegen. Auf diese Weise kann sich zeigen, dass es ihm in erster Linie darum geht, Zanders preisgekrönten Gedichtband ‚im ländchen sommer im winter zur see‘ als das Gegenteil von ‚starker Lyrik‘ auszuweisen. Die Auswahl der Kriterien, ihr Passungsverhältnis und ihre argumentative Einbettung entlarven Hayers Text als erstaunlich bodenlos.

 

Sieben Kritikpunkte

Sieben Mängel attestiert Hayer Zanders Lyrik (mindestens). Das ist eine Menge und wer den Artikel mit dem Titel ‚Ein kosmisches Minus ergibt kein Plus‘ liest, ist möglicherweise versucht, der quantitativen Verlockung zu erliegen: Was so vielfältig schlecht ist, verdient vielleicht wirklich eine Schmähschrift und möglicherweise sogar keinen Preis, so mag manche*r denken. Die Zahl der Kritikpunkte täuscht aber über dreierlei hinweg: Erstens verhalten sich einige der vorgebrachten Probleme zueinander widersprüchlich und neutralisieren sich so in ihrer kritischen Schlagkraft. Zweitens sind viele der angebrachten Einwände sachlich zweifelhaft und beruhen auf sehr diskussionswürdigen Prämissen von „starker Lyrik“. Und drittens treffen zahlreiche der Kritikpunkte auf den rezensierten Gedichtband gar nicht zu, wie im Folgenden anhand von Textbelegen und Rezeptionszeugnissen zu zeigen sein wird.

Erster Kritikpunkt: Ein Schein-Lob mit doppeltem Boden

Zu Beginn seiner Beschwerdeschrift steht scheinbar ein Lob: „Das Handwerkliche, wenn man diesen Begriff überhaupt auf das Verfassen von Gedichten anwenden will, beherrscht sie“. Das klingt wertschätzend. In Wirklichkeit verschlüsselt diese Aussage aber zwei einander verwandte Abwertungsmechanismen, die uralt sind: Gegenüber allen Kunstformen gilt es vielerorts noch immer als valide Distinktion, sie gegenüber minderwertigen Formen des Kunst-Handwerks abzugrenzen. Echte Kunst, so das Vorurteil, sei entweder kategorial verschieden oder zumindest (auf meist eher diffuse Weise) mehr als das Handwerk. Was dieses diffuse Mehr sein könnte, verrät eine zweite historische Dichotomie: Der poeta faber (der Dichter-Handwerker) steht – wie sein bekannterer Vetter, der poeta doctus (der gelehrte Dichter) – dem poeta vates (der Dichter-Seher, das Genie) gegenüber. Spätestens seit der für die Lyrik bis heute prägenden Genie-Zeit ist der enthusiasmierte Dichter das Maß aller Dinge oder wie Klopstock sagen würde, wenn man ihn heute noch fragen würde: „Die höhere Poesie ist ein Werk des Genie“. Selbstverständlich sind faber und vates keine Widersprüche und überdies kann die Lyrik der Moderne und Postmoderne weitere Autorschaftsmodelle anbieten, die sich differenziert mit der Frage von Handwerk und Kunst auseinandersetzen. Dass Hayer dennoch in den schwarzweißen Vorzeichen des späten 18. Jahrhunderts denkt, wenn er Zander als minderwertige Handwerkerin ausweist, zeigt der Einschub „wenn man diesen Begriff überhaupt auf das Verfassen von Gedichten anwenden will“ – er will eigentlich nicht: Ein Genie wäre ihm deutlich lieber.

Zweiter Kritikpunkt: Mangel an Innovation

Um die Qualität von Zanders Handwerkskunst genauer zu klassifizieren, wählt Hayer die Formel „[m]ehr klassisch denn innovativ“. Diese neuerliche Dichotomie ist in ihrer historischen Genese mit dem Genie-Konzept verwandt: So wie gelehrtes/handwerkskundiges Dichten verpönt ist und durch ein quasi-religiöses Sehen ersetzt wird, so wird auch der Anspruch, bestimmte tradierte Schemata besonders kunstfertig zu füllen, durch den Wunsch ersetzt, etwas vollständig Neues und ganz Anderes zu schaffen. „Klassisch“ ist demnach erneut ein vergiftetes Lob und ein Synonym für überkommen oder altmodisch. Auch hier gilt: Der absolute Innovationsanspruch einer 250 Jahre alten Poetik hat inzwischen – wenig überraschend – unterschiedlichste Überarbeitungen erfahren dürfen. Wenn (falls!) Zander also in aufdringlicher Weise bestimmte überlieferte Formen benutzt, dann mag darin eine interessante Zitattechnik verborgen sein oder zumindest das Eingeständnis, dass Innovation und Tradition notwendigerweise in einem Wechselverhältnis stehen.

Dritter Kritikpunkt: Schlichte Reime

Die fehlende Innovationskraft der Lyrik Zanders macht Hayer an ihren Endreimen fest: „[Es] reimt sich darin ‚zurück‘ auf ‚stück‘ oder ‚sacht‘ auf ‚nacht‘.“ Diese Belege praktizieren eine etablierte Vorgehensweise zur Beurteilung von Gedichten. In seiner Einführung ‚Grundkurs Lyrik‘, die sich an Studierende richtet, erklärt Burkhard Moennighoff: „Vor allem aber sind Beobachtungen zur Reimkunst eine wichtige Grundlage zur Beurteilung der Konventionalität bzw. Unkonventionalität eines Gedichts.“ „Brauche ich den selben Reim, den vor mir schon ein Anderer gebraucht hat, so streife ich in neun Fällen von zehn den selben Gedanken.“, so auch schon Arno Holz‘ ‚Selbstanzeige‘ von 1898. Und nicht nur die Frage, ob ein Reim konventionell ist, sondern, ob er überhaupt eine Daseinsberechtigung hat, stellt sich die Lyrik seit der Moderne: wenn schon Reime, dann nie-dagewesene, so die Forderung. Akzeptiert man also die Prämissen des Innovationsgebots, dann hat Hayer hier offenbar einen schwerwiegenden und gut belegbaren Fehler in der Poesie Zanders entdeckt. Hat er?

Nein, denn Zanders Lyrik ist so gut wie ungereimt. Endreime tauchen nur ganz vereinzelt, selten paarweise, immer eher als punktueller Gleichklang unter einer zweistelligen Zahl von Waisen auf. Schon diese Beobachtung passt nicht ganz zu dem Bild, das Hayer durch seine Beispiele entwirft. Ohne dies explizit zu machen, kann ein Eindruck gereimter, am besten paargereimter und sowieso durchgereimter Gedichte entstehen, die in der Gegenwart unter Büttenrede- oder Geburtstagsgedicht-Verdacht stehen. Das Gedicht, dem Hayer eines seiner entlarvenden Beispiele entnimmt, kommentiert die Tatsache, dass Reime im Band eine Ausnahme sind, sogar, indem es im Titel seine Besonderheit ausweist. Es heißt ‚rhyming slang (Crash! Boom! Bang!)‘. Der Binnenreim „slang“ und „Bang“ vollzieht, was der Titel benennt: Dieses Gedicht benutzt simple Reime, um Klangpointen zu erzeugen. Es handelt sich um „slang“, also um einen Gruppenjargon, der offenbar schlichte Reime absichtlich benutzt. Diese Dimension der Selbstreflexion zu unterschlagen und fehlende Kunstfertigkeit zu unterstellen, heißt, eine sehr offensichtliche Leseanweisung des Texts, einen Gag übrigens, zu übersehen. Die Bedeutung von dynamischen Gleichklängen zelebriert das genannte Gedicht dann folgerichtig auch im Versinnern: „doch keinen hab ich / vom fach / unters dach dann / oben drauf arrangiert / gleich komm ich / zu mir dir gleich / morgen“. Einen ähnlichen Trick kennt man von Ulla Hahns ebenfalls selbstreferenziellem Gedicht ‚ars poetica‘, in dem das Ich sich gegen das Innovationsgebot auf Reimebene verwehrt („Danke ich brauch keine neuen / Formen ich stehe auf / festen Versesfüßen und alten / Normen Reimen zu Hauf“), um dann lustvoll ein Klangspektakel zu produzieren: „rinnen die Zeilen voll // und über und drüber und drunter / und drauf und dran und wohlan und“. Was Hahn also schon 1981 fröhlich propagierte, die fehlende Angst vor und das Gegen-sich-selbst-Wenden von abgestandenen Reimen („auf“ – „zu Hauf“), das praktiziert auch der Slang-Klang-Text Zanders. In Bezug auf die wenigen, aber durchaus einschlägigen restlichen Reime des Bandes lässt sich der Konventionalitätsvorwurf übrigens nur schwerlich anbringen: Dort reimt nicht nur „geerdet“ auf „ungefährdet“, sondern auch „seemannsgang“ auf „schwanengesang“. In der Süddeutschen Zeitung benennt Insa Wilke die binnenreimende Fügung „der rosigen losigkeit“ sogar explizit als positives Beispiel für Zanders Kunst, Reime, rasante Enjambements und entfernte Bildfelder miteinander zu kombinieren.

Vierter Kritikpunkt: Zuviel an Innovation

Das nächste Argument Hayers knüpft an die Kritik zu konventionellen Reimen („[m]ehr klassisch denn innovativ“) an und bekundet: „Dasselbe gilt auch für ihre Wort- und Buchstabenspiele. So wurde das ‚s‘ zum ‚z‘ in ‚sehnzüchtige[r] aufzucht‘.“ Wenn dasselbe gilt, dann wären also die lexikalisch-semantischen Spiele ähnlich abgedroschen wie die phonetischen, die Endreime. Auch wenn eine Innovations-Analyse in Bezug auf diese Art von Sprachspiel weniger etabliert und auch weniger eindeutig ausfallen dürfe als die Diagnose abgenudelter Reimpaare, lässt sich die Kritik doch vielleicht so verstehen, dass Sehnsucht/Sehnzucht wie ein allzu wohlfeiles Wortspiel anmutet. Dass das Wort „Sehnzucht“ keine Erfindung Zanders ist, sondern für Kunstschaffende aller Gattungen ein naheliegendes Mehrdeutigkeitsangebot bereithält, zeigt eine Google-Suche. Allein: Diese Kritik bringt Hayer gar nicht vor. Im Gegenteil: Wo er zuvor Facetten einer fehlenden Innovationskraft moniert, beanstandet er nun überraschend das Gegenteil: „Gewiss ist allenfalls, dass sich die Poeme immerzu um Novitätsgewinn bemühen.“ Zander suche also um jeden Preis nach neuen Wendungen. Das Problem ist, Hayer versteht die innovativen Fügungen nicht: „Was allerdings am Sehnen züchtig sein könnte oder worin das Findige, das ästhetische Surplus dieser eigenwilligen Kombination besteht, bleibt unklar.“ Schade.

Fünfter Kritikpunkt: Selbstzweck Sprachgeklapper ohne Thema

Das Unverständnis Hayers geht sehr weit. Er weiß nicht einmal, worum es im Band geht: „sofern man zwischen Song-Zitaten, Redewendungen und all den bruchstückartigen Versen überhaupt noch Themen identifizieren kann“. Die Kritik lautet also, dass das wildgewordene Sprachspiel hier reiner Selbstzweck bleibt und keinen Blick mehr auf Thematisches freigibt. Es ist schwierig, diese Kritik anhand der Texte (zum Beispiel mit dem Verweis auf den überdeutlich thematischen Titel ‚im ländchen sommer im winter zur see‘ – Geht es wohl um Landschaften und Jahreszeiten?) zu widerlegen. Hayers Diagnose hält sich nämlich daran fest, wie über-dominant ihm als Leser die Kunstgriffe gegenüber inhaltlichen Referenzen erscheinen. Seine Wahrnehmung hat sich einigermaßen wasserfest imprägniert. Vielleicht hilft es da, sich nach Themen umzusehen, die andere Rezensent*innen wahrnehmen?„[E]ine Liebesgeschichte“ „in der brandenburgischen Provinz“ erkennt Nico Bleutge. Insa Wilke schreibt: Die Gedichte dieses Bandes […] erzählen von einem unbestimmten Liebespaar und besingen […] Mecklenburg und Brandenburg.“ „Der hohe Sommerhimmel und das Licht einer Küstenlandschaft, in dem sich hier das weibliche Ich und ein ebenso feminines Du bewegen“, sind Michael Braun aufgefallen. Und auch Alexandru Bulucz, den Hayer als Stichwortgeber für seine Generalkritik heranzieht, benennt umstandslos Themen von Zanders Band: „Im Geflecht des Gedichtbandes sind einige der Hauptthemen bereits angedeutet: die Rolle der Musik für die eigene (Schreib-)Sozialisation oder der intellektuelle Umgang mit der eigenen Ostbiografie aus ostmoderner, feministischer Perspektive.“ Es scheint also durchaus problemlos identifizierbare Themen zu geben, die sich nicht hinter sprachlichen Strukturen verstecken. Wenig überraschend kann auch Hayer entsprechend im Verlauf seines Textes genau jene Referenzrahmen benennen, die die Kritik immer wieder anführt – Liebe und Landschaft: „Aber was bewirken etwa Natur- und Liebesdichtung, wenn sie nicht versuchen, uns das Fremde mithin affektiv nahezubringen?“

Sechster Kritikpunkt: Leser*innen ausschließen

Man „kann […] diese Texte mit viel gutem Willen noch als Neo-Dada oder poetische Hermetik bezeichnen“, so lautet der sechste Vorwurf gegenüber Zander. Es wäre einen literaturgeschichtlichen Essay wert, sich die Schnittmenge zwischen Dada und hermetischer Dichtung einmal genauer anzusehen und ein Spektakel, könnte man Autor*innen der beiden historischen Traditionen miteinander über ihre Poetiken diskutieren lassen. Wohlwollend gelesen, meint der Kritikpunkt wohl eine hohe sprachliche Verdichtung, die auf irgendeine hervorgehobene Weise nach der Bedeutung des Kunstwerks fragen lässt. Abgesehen davon, dass viele Menschen genau diese minimale Schnittmenge für besondere Tugenden von Lyrik halten würden, enthält der Angriff vielleicht noch eine weitere Dimension, die möglicherweise schwerwiegender ist. Der implizite Vorwurf an Dada und hermetische Gedichte bezieht sich vielleicht eher darauf, dass die Faktur der Gedichte gezielt Bedeutungszuweisungen verunmöglicht und sich Lesenden damit absichtlich verschließt. So wenig diese Annahme auf die Ziele der beiden historischen Strömungen zutrifft, so scheint hier doch der Kern einer vorgeblich an der Lyrik im Ganzen interessierten Kritik zu liegen. Vermutlich träfe diese Kritik die allermeisten Autor*innen hart. Hier gälte es also nachzudenken und zu dieser fraglichen Unzugänglichkeit von Lyrik scheint sich tatsächlich eine Debatte zu entwickeln. So findet auch die ansonsten positive Würdigung Nico Bleutges: „Auch wenn es eine Kunst für sich ist, Nena und Walther von der Vogelweide in einem Gedicht unterzubringen, lassen sich diese Sprachverschlingungen nicht immer durchdringen“. Der konstruktive Schlussakkord von Alexandru Bulucz‘ kritischer Rezension bringt eine ähnliche Kritik vor und möchte eine Diskussion anstoßen: Er schlägt vor, die „potenziellen Lyriklesenden aber wieder abzuholen und deren Lesekompetenz zu stärken – darum wird es in den kommenden Jahren gehen.“ Die Art und Weise, wie Hayer dagegen den Vorwurf vorbringt, lässt jedoch nicht vermuten, dass es ihm in gleicher Weise darum geht, einen Zugang zu Lyrik für alle zu verlangen. Denn die ausgesprochen voraussetzungsreichen Verweise auf Dada- und Nachkriegs-Paradigmen hängen wohl absolut jede*n Leser*in ohne Germanistik-Studium ab.

Siebter Kritikpunkt: Elitäre Haltung

Im achten Vorwurf, sie „labt sich an ihrer eigenen Überkonstruiertheit“, finden mehrere der zuvor genannten (Schein-)Probleme zusammen. Der Begriff „Überkonstruiertheit“ verknüpft Handwerk und das Zuviel an sprachlich-formaler Innovation. Sich an diesen Charakteristika zu laben, wäre ein Gestus elitärer Exklusion von Leser*innen. Ein zentrales Element, das dieser Vorwurf übersieht, das aber die Lyrik Zanders maßgeblich auszeichnet, ist ihr Humor. Eine elitäre Position entsteht nämlich genau dort nicht, wo Texte sich selbst nicht so furchtbar ernst nehmen. Sprachwitz und Kalauer werden Zanders Schreiben allerorts attestiert und auch jenseits von Pointen lässt sich eine besondere Leichtigkeit identifizieren.

 

Vier Vorschläge Hayers

Die Auseinandersetzung mit den sieben wichtigsten Kritikpunkten Hayers hat gezeigt, wo sie unvereinbar sind, auf welchen poetologischen Prämissen sie basieren und wo eine entweder sehr individuelle oder auch sehr ungenaue Lektüre der Gedichte Zanders vorliegt. „Ohne normativ sein zu wollen, was dem Freiheitsanspruch dieser Gattung ohnehin gänzlich widerstreben würde“, bringt Hayer zum Abschluss seiner Tirade noch Vorschläge an, wie „starke Lyrik“ auszusehen habe. Ihr präskriptiver Charakter muss nicht kritisiert werden, ist es doch insbesondere für eine transparente Literaturkritik legitim, bestimmte explizite Wünsche an Kunst heranzutragen. Diese vier – nichts als normativen – Empfehlungen lassen jedoch erkennen, was sich Hayer genau wünscht.

Erster Vorschlag: Konzentration und Komplexitätsreduktion

„Statt unzählige Anspielungen und Motivkomplexe aneinanderzureihen, genügt bisweilen ein metaphorisches Momentum, um in uns ein ganzes Gemälde entstehen zu lassen.“ Hayers Wunsch nach Konzentration hat eine Lyrik im Blick, die aus dem Bewegten („Momentum“) das Stillgestellte („Gemälde“) macht und damit zugänglicher ist. Er wünscht sich von Gedichten, dass sie mit Hilfe von sprachlichen Bildern Komplexität reduzieren und nicht vervielfachen. Diese Wünsche sind legitim, allerdings adressieren sie – weil sie partikular sind und historisch vorgeprägten Vorlieben unterliegen – nur einen bestimmten Teil der historischen und gegenwärtigen Lyrik.

Zweiter Vorschlag: Reclaim Pathos

Der zweite Vorschlag – „Funken müssen überspringen, eine Wucht uns mitreißen.“ – verweist nicht nur erneut auf das Bild vom enthusiasmiert/genialen „Funken“, sondern fordert auch eine historisch der Genieästhetik besonders nahestehende Lyrik, deren Ausgangspunkt und Ziel der starke Affekt ist. Dass jede historische und generische Form von Kunst ein spezifisches Set von Produktions- und Rezeptionsaffekten mitbringt, übersieht Hayer ebenso wie seine ganz unmaskiert starken eigenen Affekte angesichts der Zander’schen Gedichte. Ihm scheint es eher um die Intensität von Gefühlen zu gehen. Die gewählte Formulierung selbst verrät dabei, dass er ein lyrisches Pathos, das in jüngerer Zeit im Verdacht von Naivität und/oder Verschleierung steht, durchaus eher begrüßenswert findet. Auch hier ist Hayers Poetik konsequent der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verpflichtet. Die simple Formel von Funken und Wucht muss dabei bedauerlicherweise verdecken, dass es durchaus interessant sein könnte, die Kategorie des Pathos auf reflektierte Weise für die Gegenwart zu reklamieren. Warum eigentlich nicht? Anhand der Lyrik Zanders, damit hat Hayer Recht, wird dies allerdings nicht gelingen.

Dritter Vorschlag: Mehr Schönheit

So wie das Pathos so ist auch das nächste Vorschlags-Stichwort (die Schönheit) ein Lieblingswort Friedrich Schillers. In Hayers abgespeckter Variante scheint es aber um eine weniger klar konturierte historische Kategorie zu gehen: „Selbst dort, wo sich Hässlichkeit und Zerstörung als Sujets oder ästhetische Ausdrucksweisen offenbaren, kann sich noch Schönheit zeigen.“ Was genau diese Schönheit sei, wird nicht deutlich. Allerdings scheint er sie im Werk Zanders und dann auch noch überhaupt zu vermissen. („Vor allem sie fehlt unserer Epoche.“) Seine Beispiele geben anschließend ebenfalls keinen Hinweis darauf, wo Schönheit zu finden sein könnte, nennen sie doch jedes für sich eine sprachliche Dimension, in der sich Zanders Gedichte ganz besonders hervortun. „Sie in eine neue Form zu gießen, ist dann die Königsdisziplin der Poesie – zum Beispiel im Zeilenumbruch, in den rhetorischen Finessen, in der Mehrdeutigkeit der Worte oder schlichtweg in der Gedankenführung.“ Ausgerechnet Zanders rasante Zeilensprünge werden in beinahe jeder Rezension hervorgehoben. Die rhetorische Faktur ihrer Gedichte beschreibt und beanstandet Hayer selbst unter dem Stichwort „Handwerk“. Mehrdeutigkeiten sind die Tugend der monierten Wortspiele und dass es in einem (angeblich) affektlosen Gedicht vermutlich maßgeblich um „die Gedankenführung“ gehen dürfte, kann man etwas ratlos ableiten. Zander bietet also offenbar genug „neue[r] Form“, gießt aber vermutlich keine Schönheit hinein.

Vierter Vorschlag: Ein frommer Wunsch

„Das Beste aber liegt dann vor, wenn Dichtung uns gänzlich überrascht!“ – So schließt der konstruktive Teil Hayers. Dieser fromme Wunsch ist weniger leer als er zunächst erscheint. Schließlich wissen wir, wonach der Kritiker sucht: Nach komplexitätsreduzierter, affektaffiner und irgendwie schöner Lyrik. Überdies sei sie enthusiasmiert (statt handwerklich geprägt), innovativ, aber nicht zu innovativ, (wenn überhaupt, dann) frisch gereimt, dominant thematisch und anti-elitär. Ob die zu Beginn genannten Autoren (F.W. Bernstein, Thomas Brasch, Eugen Gomringer, Uwe Grüning, Peter Huchel, Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten, Reiner Kunze, Christian Morgenstern, August von Platen, Utz Rachowski, B. K. Tragelehn, Kurt Tucholsky, Bernd Wagner und Matthias Zwarg sowie Ilse Aichinger und eine namenlose Mathematik-Lyrikerin) diese Kriterien erfüllen können, sei bezweifelt. Zanders Gedichte jedenfalls entsprechen dieser einigermaßen engen Norm nicht. Ob in der Gegenwart überhaupt jemand so dichtet (Hayer selbst vielleicht?), muss ebenfalls offen bleiben. Damit entlarvt sich der vorgebliche Anspruch, einen Beitrag zu einer für ein breites Publikum zugänglicheren Lyrik leisten zu wollen, als einigermaßen gescheitert. Die Lyrik, die Hayer sucht, gibt es – bis zum Erweis des Gegenteils – nicht oder seit 250 Jahren nicht mehr.

Bis hier wurde also Hayers Fundamentalabrechnung nach einzelnen Kriterien geordnet untersucht und als Verriss eines einzelnen Bandes entlarvt. Die behauptete konstruktive Dimension zugunsten der Lyrik im Allgemeinen entpuppt sich als idiosynkratische Singulärnorm. Wenn Judith Zander im Deutschlandfunk in den Raum stellt, dass diese Schmähung vor allem ihrem finanziellen Erfolg durch den Huchel-Preis geschuldet sein könnte, dann erscheint diese selbstverständlich nicht belegbare Annahme vor dem Hintergrund einer derartig personalisierten Kritik nicht ganz abwegig. Hier könnte die inhaltliche Analyse also getrost enden. Mit dem Lyriker Christoph Wenzel formuliert sollte dann unbedingt ein konstruktiver Dialog über Wege für ein breites Publikum beginnen, sich vermeintlich undurchdringlicher Gegenwartslyrik anzunähern: „Übrigens: Alle Gedichte bleiben geöffnet, auch die hermetischen!“

Strukturelle Baustelle

Zum Schluss darf jedoch eine bestimmte Nuance der beschriebenen Abwertungsmechanismen nicht unterschlagen werden. Viele der vorgebrachten Kritikpunkte besitzen eine lange Geschichte misogyner Herabsetzung. Es sei – erneut wohlwollend – angenommen, dass Hayer diese Dimension seines Handelns nicht beabsichtigt und dass er andernorts entsprechende Strukturen kritisieren würde. Hinzu kommt, dass die Lyrik aufgrund bestimmter Merkmale, allen voran der hier diskutierten Affektnähe, entlang binärer Oppositionen ohnehin als die weiblichste der drei großen Gattungen gilt. Ob beispielsweise fehlende Schönheit und Gefühl also qua Lyrik- oder qua Geschlechterkonvention angeprangert werden, lässt sich – Henne und Ei – nicht trennen. Dennoch können folgende Strategien historisch so eindeutig nachvollzogen werden, dass sie hier genannt werden müssen:

Der erste Vorwurf, der Handwerkskunst (schein-)lobt, um die Abwesenheit von Genie hervorzukehren, steht in einer langen Tradition weiblicher Abwertung. Das Geniekonzept steht historisch gesehen nur einem Geschlecht zur Verfügung: Das Genie ist männlich. Punkt. Die dichotome Ausdifferenzierung von Geschlechtsmerkmalen, die sich zeitgleich mit der wirkmächtigen Originalitätsnorm etabliert, sieht nur für den Mann Aktivität, Produktivität und schöpferische Potenz vor. Frauen sind passiv und sie re-produzieren. Gabriele Dürbeck belegt etwa für Autorinnen der Romantik einen Mechanismus, den sie „Aberkennung der Künstlerschaft“ nennt: „Diese hängt eng mit der Einstufung eines Werkes als epigonal zusammen. Der Autorin wird jegliches schriftstellerische Talent abgesprochen oder zum handwerklichen Geschick herabgestuft“. Fehlendes Genie und fehlende Innovation hängen also ebenso wie ihr Vorhandensein historisch eng zusammen, sind gegendert und wirken als Stereotype bis heute.

Mit dem Hinweis auf überkommene Reime wird die fehlende Originalität bekräftigt und zudem das Zugeständnis an die immerhin vorhandene Handwerkskunst zurückgenommen. Dass sodann ein Zuviel an Innovation beanstandet werden kann, ist nicht nur eine argumentative Schwäche, sondern verweist auf die Struktur vieler (nicht allein) misogyner Abwertungsstrategien: So wird Autorinnen entweder vorgeworfen, einen bestimmten an der männlichen Norm orientierten Standard unterzuerfüllen oder ihn (auf unweibliche Weise) zu übertreiben. Als Variante dieser Doppelstandards lassen sich möglicherweise die monierten Attribute in Hayers Kritik anführen: Zanders Lyrik sei nämlich zugleich deshalb unzugänglich, weil sie irrational („traumartige Zustände“ und „Beliebigkeit“) und gleichzeitig zu rational („Überkonstruiertheit“) daherkomme.

Auch seine Forderung nach mehr Gefühl ließe sich als struktureller Rückgriff auf gegenderte Stereotype lesen. So ist, wie gesagt, Lyrik die Gattung, die besonders stark an Affekte gebunden ist und Autorinnen fordert man besondere Emotionalität ab. Fehlt diese, wie hier behauptet, dann werden nicht nur (freilich: klischeehafte) Gattungs-Normen enttäuscht, sondern auch binär sortierte Rollenerwartungen. Vor diesem Hintergrund sind auch zwei zunächst als ästhetische (Wert‑)Kategorien einigermaßen unverdächtige Schlagworte plötzlich nicht mehr frei von Gender-Rahmungen: Hayer fehlt ausgerechnet die Schönheit in Zanders Gedichten. Und die Rede von „starke[r] Lyrik“ andernorts lässt vermuten, dass diese tatsächlich nur dem starken Geschlecht aus der Genie-Feder springt. Der Mini-Kanon, der von Hayer dieserart als „stark“ bezeichnet wird, wäre also kein Zufall: „Der Begriff des Genies, ausschließlich männlich konnotiert, bindet Originalität, auch und gerade in der Geste der Negation, zurück an einen Kanon: Es war – und ist – ein Kanon des Mannes.“, so von Heydebrandt/Winko schon 1994.

Weitere dreizehn Jahre zuvor führt Ulla Hahn vor, wie man das Innovationsdogma zurückweisen und dennoch originell dichten kann, wie man sich produktiv alte Normen und ihre Reime aneignet, wie man mit starken Zeilensprüngen, punktuellen Klangpointen und anderen Beweisen eines klaren Konstruktionswillens Leichtigkeit und Sprachwitz erzeugt und wie man schließlich mit und gegen die Königin weiblicher Pathos-, Schönheits- und Irrationalitätsversprechen, die Loreley, ein Gegenwartsgedicht schaffen kann. Hahns Lyrik steht nicht unbedingt im Verdacht, unzugänglich zu sein. So überraschend daher die Schnittmenge zwischen Hahns – inzwischen kanonisiertem – Gedicht und Zanders neuester Lyrik sein mag, so kann das über vierzig Jahre alte Plädoyer im Rahmen einer möglicherweise legitimen Debatte um die Zugänglichkeit der Lyrik darauf verweisen, dass Zanders Texte der Gegenwart viel zu bieten haben, das gerade nicht hermetisch und elitär ist und relevante Fragen an die Leser*innen der Gegenwart aufwirft.

 

Ulla Hahn

Ars poetica

 

Danke ich brauch keine neuen

Formen ich stehe auf

festen Versesfüßen und alten

Normen Reimen zu Hauf

 

zu Papier und zu euren

Ohren bring ich was klingen soll

klingt mir das Lied aus den

Poren rinnen die Zeilen voll

 

und über und drüber und drunter

und drauf und dran und wohlan und

das hat mit ihrem Singen

die Loreley getan.

 

 

Mit herzlichem Dank an die Autorin Anna Bers und die Seite #breiterkanon, wo der Aufsatz zuerst erschienen ist: https://breiterkanon.hypotheses.org/1289