In einer Jury sein

Nachgedanken zum Literarischen März 2023

 

Ich bereite mich gründlich vor.

Ich versuche, jeden Text aus sich heraus zu verstehen.

Ich beurteile TEXTE, nicht Personen.

Also auch nicht Lebensläufe.

Ich respektiere die Privatsphäre der Autor:innen. Wenn ich etwas über sie weiß, was sie selbst nicht öffentlich diskutiert haben wollen (worum es sich auch handeln mag: Gender, Sex, Familienstatus, soziale Klasse, Bildungshintergrund, Migration in der ersten zweiten oder dritten Stufe etc.), mache ich dies nicht publik.

Auch wenn der Wettbewerb dann vielleicht nicht so divers aussieht, wie er tatsächlich ist.

Nicht der Wettbewerb „an sich“ steht im Zentrum für mich.

Im Zentrum stehen die Texte.

Ich lese sie häufig.

Ich mache mir Notizen.

Ich verbringe viel zu viel Zeit mit allem (zumindest, wenn ich die Bezahlung gegenrechne).

Ich mache es aus Liebe zur Poesie.

Aus Neugier auf junge Stimmen.

Ich folge: der Sprache.

So wie ich sie verstehe.

Wie auch sonst?

Ich weiß, dass ich auf der Bühne pro Teilnehmer:in einen Redebeitrag habe, vielleicht zwei. Das sind ein paar Minuten.

Ich weiß, dass ich das meiste, was ich wahrgenommen habe, nicht werde sagen können.

Meist muss ich das auch nicht. Man unterstellt mir normalerweise nicht, dass ich das, was ich wahrgenommen habe, aber nicht erwähne, nicht wahrgenommen habe.

Natürlich übersehe ich Dinge.

Ich werde gern darauf hingewiesen. Kritik ist willkommen. Fruchtbar ist sie, wenn sie selbst sich kundig gemacht hat.

Behauptungen, die faktisch falsch sind, vielleicht aus Nachlässigkeit, vielleicht, weil fake-news das Mittel der Stunde sind, wirken respektlos.

Ein konstruktives Gespräch wird so nicht gefördert.

Ich würde es gern führen.

 

Zurück zur Juryarbeit: Das eine übersehe ich, etwas Anderes bemerke ich.

Zum Glück sind wir zu mehreren.

Ein System der checks and balances.

Einer meiner Studierenden sagte vor kurzem zu mir, unsicher und sehr sympathisch, dass er Angst habe, er sei nur auf Grund seiner Migrationsgeschichte im DLL aufgenommen worden.

Ich konnte ihn beruhigen.

Aber verstehe sehr gut, wovor er sich fürchtet.

Ich habe es so oft von Kolleg:innen gehört, wie sie unter der Etikettierung als „X“, „Y“ leiden.

Wie es sie einsperrt.

Ich lese den Text leise. Und laut.

Ich achte darauf, wie er sich verändert, wenn ich ihn besser kennenlerne.

Ich versuche, nicht meine eigene Ästhetik über den Text zu stülpen.

Notgedrungen bringe ich sie mit. Ich versuche, auch diesen Prozess zu durchdringen, zu suspendieren.

Ich lese auf diversen Spuren zugleich (lautlich, bildlich, die Tradition, das transportierte Wissen, das neu erschlossene Wissen, die Struktur etc.).

Ich nehme für mich in Anspruch, mich bedeckt zu halten, was Fragen des Gender, des Alters, des Migrationshintergrundes, der Familienverhältnisse etc. angeht.

Ich finde das angemessen, denn es geht nicht um mich.

Ich finde es beleidigend, wenn daraus Reaktionen folgen, die mir ohne näheres Hinsehen, und tatsächlich unter Missachtung meiner Person, einen dumpfen, ungebrochen deutschen, satten Alte-weiße-Frau-Hintergrund unterstellen.

 

Bei den Bewerbungen für das DLL lese ich zunehmend Motivationsschreiben, die im Wesentlichen lauten: „Ich habe eine schlimme Geschichte (die Geschichte X, Y, Z) erlebt. Sie muss aufgeschrieben und gehört werden.“

Ja. Sie soll aufgeschrieben werden. Sie soll gehört werden.

Dann stocke ich: „Deswegen muss ich aufgenommen werden.“

„Deswegen.“ Eine Kausalität auf tönernen Füßen: Die Geschichte X, Y oder Z erleben so oder ähnlich auch andere. Sie alle aufzunehmen, wäre unmöglich.

Dazu ein „muss“.

Woher kommt dieses „muss“? Weil Literatur die Aufgabe hat, historische Ungerechtigkeiten und Gewalttaten auszugleichen?

Sie kann dazu beitragen. So meine Hoffnung.

Doch dieser Beitrag misslingt, wenn durch ein unüberprüfbares „Muss“ zahlreiche neue Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnisse geschaffen werden. Etwa ein inhumaner, impliziter Wettbewerb zwischen den Geschichten X, Y und Z (welche ist „schlimmer“, „neuer“, „tabuisierter“).

Muss.

Sprich: Niemand wird ausgezeichnet, weil sie X sind oder er Y nicht ist.

Niemand wird nicht ausgezeichnet, weil sie Nicht-X sind und er Y.

Gut tut ein genauerer Blick: Eine Geschichte wird nicht deswegen unterdrückt, weil sie (am Ende) nicht literarisch formuliert, sondern auf andere Weise erzählt wird.

Und etwa in der Konsequenz bei einem literarischen Wettbewerb keinen Preis bekommt.

Und noch einmal, von einem anderen Ort her gesagt: Wokeness doesn’t trump aesthetics.

Und das meine ich nicht nur inhaltlich.

Ich meine es auch gestisch. Die Geste des „trumping“ steht niemandem gut zu Gesicht. Sie ist in sich selbst gewaltsam. Egal, auf welcher Seite der Identitäten, Herkünfte etc. diese Person sich zu diesem Zeitpunkt positioniert.

Und: Es entbehrt nicht des performativen Widerspruchs, ja, der Ironie, so als Frau mit rhetorischem Furor von einem Mann unter Herbeiziehung falscher „Tatsachen“ zur Korrektur (historischer) Gewalt aufgefordert zu werden.

Ulrike Draesner