Judith Zander gewinnt den Peter-Huchel-Preis

Ob raustimmiger Italo-Pop einer Giana Nannini, zum Kitsch tendierender Schlager einer Zsusza Koncz oder einer Veronika Fischer, Evergreens von Roxette, Simon & Garfunkel oder den Beatles, Bezüge auf Figuren aus der Mythologie oder auf literarische Größen wie Walther von der Vogelweide oder Thomas Mann – der interpunktionslose und in konsequenter Kleinschreibung daherkommende Redefluss des Gedichtbandes „im ländchen sommer/im winter zur see“ von Judith Zander reißt alles mit, verleibt sich alles ein. Die Kursivschrift, mit der sie hier und da Zitate und Redewechsel markiert, ist eine der wenigen Orientierungs- und Lektürehilfen, die sie Lesenden ihrer Texte zur Verfügung stellt.

Scheinbare Sinneinheiten gehen auf diese Weise problemlos ineinander über, erweitern oder beschränken sich gegenseitig in ihrem „Sinnmachen“, Redewendungen verlieren ihre fixierten Bedeutungen und schlüpfen in neue, eingezäunte Bedeutungshöfe öffnen sich. Hier wird einmal mehr deutlich, dass für Lyrik die Kategorie der (Un-) Verständlichkeit nur eine unter vielen ist. Bei Zander ist sie überflüssig. Mit ihrer Sprachkritik irritiert und destabilisiert sie die Selbstverständlichkeit alltäglichen, funktionalen Sprechens. Und dafür ist ihr so ziemlich jedes Mittel recht: Auffällig ist der starke, schroffe Zeilensprung, der selten mit einer Sinneinheit korrespondiert, und das noch nicht einmal Kalauer meidende Wort- und Klangspiel. Von „ausrufeleichen“ ist da einmal die Rede, das Wort folgt nach einem der seltenen Ausrufezeichen. Und beim „verteilen der sympathien/ auf die entzügige bleiberin lahme entente/ schneiderin und die kordial abgebrühte in/ beschlossenheit verübte sowieso erblühte“ wird vom Sprachspiel offensichtlich ein Umlaut erfasst. Sprachwitz, aber auch der Einsatz von Umgangssprache und Provinzialismen mindern nicht zuletzt das Pathos, das einigen der Themen Zanders mitgegeben ist: etwa ihrer an Minnesang geschärften Liebeslyrik.

Im intertextuellen Geflecht des Gedichtbandes sind einige der Hauptthemen bereits angedeutet: die Rolle der Musik für die eigene (Schreib-) Sozialisation oder der intellektuelle Umgang mit der eigenen Ostbiografie aus ostmoderner, feministischer Perspektive. Zander, 1980 im mecklenburg-vorpommerschen Anklam geboren und heute im brandenburgischen Jüterbog lebend, teilt diese Perspektive mit der gebürtigen Chemnitzerin Irmtraud Morgner, deren Literatur ein Amalgam aus Phantastik und Realismus war. Die mythische Sagengestalt der Melusine, die im Gedicht „entwicklung“ auftritt, bezieht Zander aus Morgners Roman „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“ und verkneift sich dabei auch nicht einen Namenswitz: Morgner, das sei die „steigerung von morgen“. Darunter kann man verstehen, dass es sich für die Zukunft lohnen würde, wieder Morgner zu lesen.

Die mit ins Buch aufgenommenen, klar strukturierten Schwarzweißfotos sind schließlich Orte der Erholung von den poetischen Wechsel- und Wackelbildern und erweitern Zanders Landschafts- und Geländedichtung und die von ihnen ausgebreiteten Erinnerungsflächen. Sie zeigen Wege, Vögel, Wiesen, Wasser oder einen Wald mit parallelen Baumreihen. Damit ist der literarischen Asymmetrie etwas fotografische Symmetrie entgegengestellt.

Dafür wurde Judith Zander nun mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet, dem renommiertesten Preis für deutschsprachige Lyrik, vergeben für einen Gedichtband des Vorjahres. Die kompromisslose Entscheidung der Jury ist keine gefällige, keine populäre Entscheidung. Zanders Lyrik gilt als komplex und schwer zugänglich. Denn sie appelliert weniger an die Emotionen Lesender, sondern vielmehr an deren Intellekt und nagt auf eigenwillige Weise an üblichen Referenzmodellen von Sprache, ganz so, wie das Gedicht „drift“ es ankündigt: „weißt du schon dass wir in turbulenten/nordpolverlagerungszeiten leben jedenfalls/magnetisch gesehen etliche referenzmodelle/mussten erst neulich vorzeitig angepasst/werden“.

Damit verteidigt die Jury vehement die Autonomie heutiger Lyrik gegenüber selbst moderaten Ansprüchen eines Massenpublikums an das Genre. Doch welchen Antiaffekt sie damit auslösen würde, das hätte auch sie wohl nicht ahnen können. Gemeint ist ein veritabler Shitstorm, der aktuell auf der Facebook-Seite von SWR Kultur tobt. Inzwischen (Stand 30. Januar, 15 Uhr) gibt es unter dem Hinweis auf die Preisvergabe und dem Zitat aus einem nicht im prämierten Gedichtband enthaltenen Text von Judith Zander etwa 350 Reaktionen und 850 Kommentare. Abgesehen von üblichen Beschimpfungen, übler Diskriminierung der Autorin und sonstigen Ausfällen durch Kommentierende finden sich darunter auch Stimmen, die sich betroffen darüber zeigen, nichts mehr mit gegenwärtiger Lyrik mit einem höheren Schwierigkeitsgrad anfangen zu können. Diese potenziellen Lyriklesenden wieder abzuholen und deren Lesekompetenz zu stärken – darum wird es in den kommenden Jahren gehen.

Alexandru Bulucz