Kritik als Krise

es wird immer wieder leichthin von der Krise als Chance geredet. auch Kritik wird immer wieder mit Krise assoziiert.

damit kann gemeint sein, dass sie sich aktuell in der Krise befindet, weil z.B. die Zeitungsauflagen zurückgehen oder profunde und akribische Kritiken in die Randbezirke des zwielichtigen weltweiten Netzes verdrängt werden. 

doch Kritik war von Anbeginn an Krise und in der Krise, in einem zweifachen Sinn.

wird Krise zunächst definiert als einerseits Kulminationspunkt (als ein Zu-Viel), andererseits als Unmöglichkeit oder Unentschiedenheit zwischen Möglichkeiten, könnte mit ähnlichen Zuschreibungen die Position, der Zustand der Kritik bestimmt werden. sie ist sowohl ein Weder-Noch, als auch ein Sowohl-als-Auch: Sie sitzt zwischen und zugleich auf allen Stühlen. einerseits soll sie preisen oder verdammen, immer im Konnex mit dem Markt, soll sie ausschließen aus dem Kreis des zu Erlesenden, der Erlesenen – oder an-preisen: eben den Markt- und Kultwert bestimmen.

auf der anderen Seite soll sie auch deuten, aufdröseln, fassbar machen, urteilen: in kleine verschlingbare Häppchen schneiden. 

hier erweist sich die Doppelbedeutung des Gerichts, die, wenn später Äpfel mit Birnen verglichen werden, noch signifikant wird, sinnfällig: das Urteil trennt und scheidet nicht nur das Gute vom Schlechten, es schnippelt auch das vermeintlich homogene Werk in Verdauliches, in kleine Bedeutungseinheiten, -Zwiefaches, bringt Zwiespalte hinein, treibt den Keil in das Werk und setzt Zweifel an, kokelt, bis das Gericht angerichtet ist: essbar in höchstens 10 Minuten und dem Geschmacksurteil anheimgegeben. wenn die urteilende Kritik also ihrerseits von den Autoren für ihre Vermengung von gerichtlicher Instanz und subjektivem Geschmacksurteil kritisiert wird, ist sie dann: selber Schuld? müsste sie sich selbst das Urteil sprechen? oder ist Kritik in der Lücke zwischen alteingesessenen Stühlen nicht auch zum Glücke grad das, was, ohne Marktlücke zu sein, ins Mark der Gedanken schneidet und Weisheit mit Löffeln fressen könnte (wenn sie das richtige Besteck fände)?

Kritik befindet sich leicht in der Bedrouille zwischen dem gewichtig sich gebenden Werk hier, das vermittelt werden soll, und seiner akademischen Deutung dort, wägt wie Justitia und scheidet, schneidet, seihet. Kritik: von griech. krī́nein (κρίνειν) ‘scheiden, trennen, auswählen, entscheiden, (ver)urteilen, anklagen – ist, wenn sie zwischen den Stühlen sitzt, wenn sie trennt und im Zwiespalt steckt, in ihrem Element. zugleich aber führt sie die verschiedenen Ansprüche zusammen, gibt sie gerade dem, was der Leser/ die Leserin erfährt im Lesen, Ausdruck und resümiert und wertet. was sie trennt, bringt sie andererseits wieder zusammen, nämlich überbrückt die Zwiespalte und führt hinüber auf die Seite des Liebens und Lobens –und Entdeckens. 

„Das Wort Urteilen [als Übersetzung von krinein, scheiden] hat in unserem Sprachgebrauch zwei durchaus voneinander zu scheidende [!] Bedeutungen, die uns doch, wenn wir sprechen, immer durcheinanderge­hen. Es meint einmal das ordnende Subsumieren des Einzelnen und Partikularen un­ter etwas Allgemeines und Universales, das regelnde Messen mit Maßstäben, an de­nen sich das Konkrete auszuweisen hat und an denen über es entschieden wird. 

(…)

Urteilen kann aber auch etwas ganz anderes meinen, und zwar immer dann, wenn wir mit etwas konfrontiert wer­den, was wir noch nie gesehen haben und wofür uns keinerlei Maßstäbe zur Verfü­gung stehen. Dies Urteilen, das maßstabslos ist, kann sich auf nichts berufen als die Evidenz des Geurteilten selbst, und es hat keine anderen Voraussetzungen als die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft, die mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren.“ (Hannah Arendt)

ich würde sagen, dass diese Tendenzen ‚unterscheiden‘ und ‚subsumieren‘ immer zusammen vorzufinden sind. um etwas zu ordnen und identifizieren, muss man es auch auftrennen und hinsichtlich seiner Komponenten und Qualitäten verstehen und sehen. Wenn ich aufteile in zwei oder mehr Teile, subsumiere ich auch alles, was noch geteilt werden könnte, zunächst einmal unter diese Teilung. 

das Subsumierend-Identifizierende ist dabei anschlussfähig für den Markt, der Orientierung will, das Unterscheiden als unentwegt ausdifferenzierende Bewegung teilt Kritik mit der Literaturwissenschaft, deren Erkenntnisse meist nicht von der Konglomeration zu neuen Visionen, sondern eher von der Unterscheidungskraft des Verstands herrührt. 

wobei sich gerade die Literaturwissenschaft oft viel darauf zugute hält, erst einmal „nur“ zu deuten. das „Werten“ wird dann implizit abgewertet, als Werk der subjektiven Kritik. Auch die Literaturwissenschaft steht ja im Rechtfertigungsdruck gegenüber den vermeintlich objektiven Wissenschaften. dabei müsste das wertfreie Deuten ja selbst erst einmal gedeutet werden. dem wertfreien Deuten liegt immer schon eine wertende Deutung zugrunde: die Deutung der Deutung als objektivere nämlich (als die sie ja maßgeblich sein soll). so wie natürlich einem Werten, einem Geschmacksurteil umgekehrt immer schon Deutungen zugrunde liegen.  

Kritik ist mithin nicht nur (einschneidende und scheidende) Schnittstelle zwischen Deutung und Wertung, zwischen Hermeneutik und Bepreisung, sondern in ihrer nie ruhenden Bewegung aus Urteilen und Zusammenführen, das sie wiederum mit der Hermeneutik teilt, deren zwiespältigerer Zwillingsbruder, der das dieser so unangenehme Subjektive, den Bastardfleck des nie zu einem reinen, sachlichen Anfang-Kommens offenlegt.  

sie ist deshalb gefürchtet und geliebt, ist Kulminationspunkt von Disputen und Debatten, attraktiver Anziehungspunkt für intellektuelle Auseinandersetzungen und findet sich zugleich in der Geringschätzung, die ihr manchmal entgegengebracht wird, unausgesprochen verteufelt. dabei ist nicht nur mit Kant Kritik als das vornehmste Geschäft des urteilenden Geistes anzusehen. 

doch Kritik ist noch aus einem anderen Grund immer schon in der Krise, ist Krise. krísis kommt ja vom selben Wort krī́nein: dabei wird aus der ursprünglichen ‚Meinung‘, ‚Beurteilung‘, ‚Entscheidung‘ allmählich eine ‚Zuspitzung‘ (aus der dann die heutige „Krise“ wird). Kritik und Krise haben denselben Ursprung. doch mehr noch, so wie Teilen immer schon Urteilen und Beurteilen, zugleich ein Zuordnen ist, das sich seiner subsumierenden und aufsaugenden Kraft selbst nicht erwehren kann, so ist Krise nicht nur das entschiedene Zuspitzen einer Situation, sondern in der Zuspitzung eben auch die Unentschiedenheit, das Weder-Noch des Ratlosen und Überforderten, der plötzlich nicht nur das Gute nicht mehr vom Schlechten unterscheiden (oder wählen) kann, sondern sich auch in dieser Überforderung nicht mehr eins ist, sondern viel zu viele. mit der Fähigkeit, sich zu entscheiden, verliert die Krise auch die Kraft, zu beherrschen und unterzuordnen.

dann schlägt Kritik als und in der Krise um und wird wieder Möglichkeit: Nicht nicht-wertend sein könnend, rein subjektiv-selektiv nicht sein wollend, erweist sich ihre Bastardgestalt aus Hermeneutik und Geschmack als eben jener Krise ebenbürtig und gestaltnahe, der die Literatur selbst ihre besten Ausformungen verdankt. so entwächst ihr das von Hannah Arendt angesproche „Nie-Gesehene“, das nicht das nur rein Neue ist, sondern ein Neues, in der Unentschiedenheit, das Offene und gerade auch das Wertfreie des Lebens, hervortritt. Kritik und Literatur in und aus der Verunsicherung heraus.

so ist Kritik nicht nur parasitäres, scheidendes-einteilendes Preisen von fremden Textleibern, nicht nur Überwurf, Laiberl und reizende Verhüllung des Originären, sondern auch selbst Kunst, Akkumulator, Deutungskraft, Wertverwertungsmaschine, Kreuzungspunkt der Ansprüche und Ausdeutung des Angedeuteten. sie erst schreibt das Werk weiter und wieder und wieder ein in den Akut, das Gegenwärtige, den Diskurs. in ihr kommt alles zusammen, das macht sie so stark und zugleich gefährlich – wenn sie sich dieses Anspruchs nicht gewachsen zeigt, sondern in simples Verurteilen verfällt, das eben kein Ausdifferenzieren, sondern Subsumieren unter einer Vereinfachung ist.

dabei kann sie dann letztendlich entschieden unentschieden sein. Um weiter zu scheiden und zu trennen, darf sie nicht zu Ende entschieden haben, nicht zu entschieden sein. das Unentschiedene, die Schwebe des Entscheidens, die Kritik als Krise der Krise, als fortwährendes Zuspitzen des weiteren Urteilens bis hin zur Unbeurteilbarkeit und Unentschiedenheit, wäre dann ihre Stärke. eine Polemik ist erst dann etwas wert, wenn sie nicht nur verwertet und abwertet, sondern den Wert vervielfacht und liebend, wie es Staiger forderte, sich die Literatur anverwandelt, aus dem Abwägen heraus Wagnis des immer weiteren Auf-spreu-zens ist – in diesem Wort finden wir beide Bewegungen: die des Aufdifferenzierens und des Subsumierens/Wertens (Spreu) – vereint und gleichzeitig zerstreut (weder dies noch jenes).

Kritik als Krise ist also nicht nur die Chance auf Erneuerung aus der Verunsicherung, Kritik ist in der Krise erst bei sich selbst und damit zu ihrem Glück in der (bonne) chance, der des Vervielfachens (ist also wiederum gerade nicht bei sich und sich eins, sondern vieles: bei den Dingen): diese Chance möchten wir mit einer Akademie zur und für die Lyrikkritik nutzen.

Hendrik Jackson