Lesung: Uzrjutowa und Delfinov

Gestern, Mittwoch, den 5.12., lasen im „Ausland“ zu Berlin, einem zunächst durch kleine Konzerte bekannt gewordenen Veranstaltungsort, Alexander Delfinov (Moskau, Berlin) und Gala Uzrjutowa (Uljanowsk), moderiert von Dmitri Dragilew.

Moment mal, hält da der treue Lesereihenbesucher sofort ein, Delfinov – ist das nicht dieser exzentrische Krakeeler aus den russischen Poetry-Slams, seit Jahren auch bekannt für seine Abende im Panda-Theater? Und Gala Uzrjutowa, war das nicht diese merkwürdige stille Poetin beim Versschmuggel vor ein paar Jahren, die sich auf den Boden legte und dort ihre reduzierten kleinen Rätseltexte gen Decke las? Und was haben die beiden mit Dmitri Dragilew gemeinsam, dem allseits gefürchteten Skeptiker der russischen Exilszene? Und wie würde sich Asmus Trautsch, smarter Hansdampf in allen Gassen und versierter Conférencier, der ihnen die deutsche Stimme gab, in diese krude Zusammenwürfelung mischen?*

Nun ist es so, dass das „Ausland“ als Veranstaltungsort für insbesondere auch Lyriklesungen sich in den vergangenen Jahren allmählich zu einem Geheimtipp in der an Lesungen wahrlich nicht armen Berliner Kulturlandschaft entwickelt hat. Das liegt vor allem auch an seiner stets äußerst konzentrierten Atmosphäre, die dem bunkerartig umschlossenen Gewölbeinneren der Räumlichkeiten geschuldet sein mag, die trotz oder wegen ihrer Dunkelheit die Zuhörer angenehm fokussieren. 

Einen Schwerpunkt in ihre Lesereihen bildeten stets auch osteuropäische, insbesondere russisch-deutsche Lesungen, bei denen die Besucherin manche Entdeckung machen durfte. Deshalb ist der Vertrauensvorschuss groß – und wurde auch diesmal belohnt: durch einen Abend, der nicht zuletzt dank der sorgsamen und wohldurchdachten Moderation Dragilews neue Querverbindungen zu ziehen wusste:

Zwischen den emphatischen Lesungen entspann sich ein fast intimes, aufschlussreiches Gespräch zwischen Uzrjutowa und Delfinov – die ja beide unterschiedlicher nicht hätten sein können (der eine laut, nach außen, die andere leise singend, wie für sich) – und die doch von Dragiljew enggeführt wurden und dann sehr offen von ihren spätsowjetischen traumatischen Erfahrungen in den Kinderhorten sprachen. Doch in jedem Moment gingen Gespräch und Gedichte über eine bloße Betroffenheitsdokumentation hinaus. Und zu guter Letzt begegnete einem sogar Berlin als Therapeut. 

Asmus Trautsch wusste die Texte mimetisch und emphatisch ins Deutsche zu begleiten – und plötzlich geschah dies kleine bißchen mehr, was man sich von Lesungen erhofft – und das doch selten, weil nicht zu erzwingen ist: poetische Momente, die gerade durch die lebensweltliche Zeugenschaft aufzublühen und wirkliche, nämlich offene Fragen aufzureißen vermögen. Insgesamt ein außergewöhnlich bewegender Abend mit überzeugenden Protagonisten und einer Protagonistin, die bereits am nächste Tag, hieß es, wieder in die uns nur nebelhaft bekannten Gefilde des leninschen Geburtsorts Uljanowsk verschwand.

 

Donnerstag, 6.12.2018
Hendrik Jackson

*die meisten Übersetzungen waren von Tatjana Tatjana Hofmann, und nicht, wie hier zuerst stand von Asmus Trautsch, der aber einige der Uzrjutowaschen Gedichte übersetzt hat