Literarischer Vor-März oder doch Biedermeier? 

 Die Debatte um den Leonce-und-Lena-Preis hatte Neugier zur Folge: Ich habe die Texte der neun Eingeladenen gelesen. Quasi als Abwehrzauber gegen das Selbstmarketing, das solche Debatten im Kern oft in sich tragen. Am Ende hat man ein paar Namen im Schädel, einen bestimmten Geschmack dazu und nicht viel Erkenntnis. Ich wollte gucken, was das mit den Texten ist und mit den Leuten, die eingeladen wurden. Ich bin nicht aus dem Betrieb. Ich verstehe lange nicht alle Chiffren. Ich bin nicht in den Diskussionen, die – wie in jedem Betrieb – das Innen vom Außen absondern. Ich schreibe als Flaneur. Als Spaziergänger am Rande der Texte. Nicht der Diskussionen.

 Der Darmstädter literarische März also.

 Keine:r darf vor 1987 geboren worden sein. Man hat sich auf eine halbrunde Zahl an Lebensalter geeinigt. Fünfunddreißig und damit ist gut. Wer so lange durch eine stotternde Jugend und überhaupt durch Kurse und Selbstdruck und Selbstdrucke und Anthologien und freundliche Förderung hindurch durchgehalten hat, hält vielleicht auch noch länger durch, wenn es mal einsamer wird und deutet damit auf eine Schreibzukunft, die man zugleich fördert. Auf die man eine Wette eingeht. Womit man sich dann preisgeberisch als hellsichtig erweist. Bestenfalls. Alle, die noch älter sind und trotz zwingendem Diktum, dass Lyrik selten was für Erwachsene ist, weiterhin Gedichte schreiben, wurden schon gefördert oder sind zu spät. So ist es halt. Kein Grund, auch nicht in einer alternden Gesellschaft, was zu kritisieren. Denke ich mir schon im zweiten Absatz meines Textes, wenigstens um Augenhöhe und von Beginn an nicht um Größe ringend, einundfünfzigjährig, der ich eigentlich nur ohne Haftbarkeit vorkommen wollte in diesem Text und doch schon an der Ausschreibung aus schwach narzisstischen Gründen hängen bleibe.

 Ich werde sehen, ob sich mein mir selbst leichtfertig aufgegebenes Polemikverbot im Verlaufe meines Textes durchhalten lässt. Meckern ist leicht. Schon gar auf der Metaebene, wo einer wie Max Czollek, der nicht gewonnen hat, aufmuckt und mit den derzeit angesagten Farben schwarzmalt. Andererseits überlege ich schon beim ersten Lesen und beim zweiten Blick auf die Biografien, Teufel, was, wenn der Czollek recht hat? Ein bissl jedenfalls. So denke ich das. Es wird doch schwerer widerlegbar sein als noch vor ein zwei Wochen, da ich nur „Verschlossenes Land. GEDANKEN ZUM GEGENWÄRTIGEN LYRIKBETRIEB“ von Max Czollek auf faustkultur.de gelesen hatte und dachte: Ach Gott, der schon wieder!

 Die Gedichte jener, die eingeladen wurden, sind ernst. Ihr Ton ist zumeist ein getragener. Wobei unklar bleibt, wer schwerer trägt am literarischen Dasein. Die Verfasser:innen oder jene, die ihnen zupreisen in Begründungen und für sich auch einen hohen Ton ausprobieren. Für sich auch literarisch sind. Vielleicht liegt das am gelobten Material. Vielleicht ist da auch färbende Nähe.

 Lyrik haust auch hier im Tempel und tritt nur gelegentlich in den verwachsenen Türbogen und blinzelt kurz ins Leben. Die Rücken der Schreibenden sind gerade. Der Sound ist ernst. Hier wird nicht gelacht. Räuspern ist manchmal okay. Wofür es markierte Momente gibt: Zeilensprünge oder Satzzeichen, die regulär keine sind und auch sonst keine rasch erkennbare Aufgabe haben oder auch gar keine Satzzeichen, was die Texte wahlweise atemlos oder eindrücklich wirken lässt. Man räuspert sich dann jedenfalls freier. Ich schreibe nicht: Die Texte raunen ein wenig. Denn das ist schon polemisch und Polemik ist tatsächlich unangebracht; alleine darum schon, weil sie sich anbietet.

 Die Texte haben etwas Zurückgezogenes, absichtsvoll Enigmatisches, das zeitgenössisch Gedichthaftes markiert. Ohne unbedingt in jedem Falle die verwendete Form als solche zu brauchen. Die Inhalte, denn die gibt es deutlich, es soll schon was gesagt, was gesendet werden, sind entweder zeitgeistig oder privat. Selten steht da übrigens ein Titel. Die Gedichte heißen dann auf der Webseite „Gedicht“. Das wird im Original eher nicht der Fall sein? Warum es hier, wo es sowieso um Gedichte geht, der Fall sein muss, erschließt sich mir nicht.

 Hanna Bründl nimmt sich den Aralsee als Material. Seine Verkommenheit als See. Sein Austrocknen. Sein Elend. Sein Gift. Seine Ausnutzung durch die Menschen. Von Anfang an ist klar, worum es geht. Wir wissen Bescheid. Wir werden abgeholt als Leser:innen. Der Aralsee war schon zu meinen Schulzeiten in der DDR ein raunendes Wort im Untergrund der Umweltkritik. Aber vielleicht ist das auch wieder in Vergessenheit geraten. Ich ruckel‘ mich passend zurecht, Rücken gerade und so weiter, und lese:  Es wird aufgezählt. Es wird nicht gewertet. Die Fakten langen. Der Text ließe sich leicht in Prosa umschreiben. Er spielt wenig bis gar nicht mit seinem Material. Es ist da keine besondere lyrische Perspektive. Alleine die Lakonie der Aufzählung gibt ihm von Beginn an etwas Besonderes. Die Autorinnenposition (nicht die Autorin) ist fast unsichtbar, weil sie jene ist, die wir alle teilen: Wir finden schlecht, was wir mit der Umwelt machen. Da gibt es keine Grautöne. Kein Dazwischen. Es ist ein bisschen langweilig. Das Wir ist dabei eines, welches ungenannt das andere aufscheinen lässt, ein Ihr: Eine weniger aufgeklärte Gesellschaft, die kein Morgen kennt, die wir natürlich auch sind und irgendwie auch nicht. Sonst würden uns so graulose Texte nicht dermaßen leichtfallen. Es würde von da ab nämlich komplizierter. Der Text, und damit auch wir, lässt sich nicht drauf ein. Vielleicht tut er gut daran. Nur die letzten beiden Zeilen, und vielleicht kommt es nur auf diese beiden an, sind besonders: Der Spiegel des Sees als Wasserstandsanzeige und zugleich als Sinnbild ist ein brillanter und zugleich beiläufiger Einfall, der nichts überfrachtet, der schlendernd daherkommt und gerade darum wunderschön ist: […] der spiegel des sees / je reicher der eine desto stärker schrumpft der andere.

 Max Czolleks Gedicht, das keinen Titel hat und über dem halt Gedicht steht, lese ich im ersten Durchgang wie einen gelungen ChatGPT Text, folgend der Anweisung eines Max Czollek, den es gar nicht gibt und den sich meine Idiosynkrasien nur so denken: Schreibe ein Gedicht, das modern anmutet, ein wenig geheimnisvoll ist und doch direkt. Lass es urban sein. Nimm einen Bahnhof als Leitmotiv (Bahnhof! You know?). Am Ende bitte einen Kniff. Eine Pointe. Wir wissen ja, die KI ist bald erwachsen und über uns hinaus. Man kann sie nicht gut unterscheiden vom Menschen. In der Imitation von Kunst noch am meisten dadurch, so habe ich neulich gelesen, dass die KI im Moment keine Fehler macht, sondern sich des perfektionierten Querschnitts bedient. Keine Ahnung, ob das zutrifft. Es gefällt mir als Gedanke. Als Definition von Kunst. Und dann lese ich das Gedicht noch einmal und mir gefällt es. Ich mag den Witz. Der Text fügt sich in meinem Hirn zusammen. Ich mag ihn lesen und auch leise vor mich hin lautieren. Das klingt. Das hat Humor, Lässigkeit. Da sind Sprachspiele („blumentbeeten“, also vielleicht auch blum-entbeeten, ist ein unschönes, sperriges, aber tolles neues Wort, das mich sofort an jene einbetonierten Pflanzen auf Bahnhöfen denken lässt). Ich bleibe hängen. Ich höre, ich sehe. Auch das, was da gar nicht steht. Und dann lese ich es wieder. Und bin im dritten Durchgang dort, wo ich begonnen habe und formuliere wieder jene Gemeinheit der ChatGPT Verfassung für mich, weil das alles auch so aufs Äußerliche und aufs Außen ausgetüftelt ist. So sehr seine Wirkung im Blick hat. Fast wie ein sophisticated Werbetext wirkt. Und dann lese ich ein viertes Mal und weiß schon, dass nun die andere Seite des Vexierbildes wieder zu sehen sein wird und weiß nun auch, dass ich das wirklich gerne lese und vor allem auch gerne mehrmals lese. Es ist mir, ich muss mir das eingestehen, schon nahe. Nicht unbedingt darin, worauf ich immer fröhlich gucke. Aber das ist ja auch eine Form von Nähe, dass man sich selbst im Gegenüber eines Schreibens wiedererkennt. Ich lehne mich in diesem süffigen Sprachumgang selbst ab und mag mich zugleich. Es ist ein reicher Text, der in billiger Jacke daherkommt. Ein satter Text, der nach Aufmerksamkeit hungert. Der eine Attitüde hat, die sofort nervt und die zugleich einnehmend ist. Er ist also nicht eindeutig, ohne enervierend allesdeutig zu sein und, nunja, das macht ihn doch zu einem Gedicht. Nicht wahr? Es ist keine andere, keine diverse, keine marginalisierte Stimme. Der Text steht mitten drinne im Wir. Im Jetzt. Aber ich bin auch, anders als andere, die Max Czollek für seine Kritik am Wettbewerb kritisierten, nicht sicher, ob er sich tatsächlich mitgemeint hatte in seinem Beitrag. So oder so.

 Zwei Zeilen Max Czollek, die wie so vieles zu viel zu sein scheinen und doch eine geheim gehaltene Gier bedienen wie die jährliche Currywurst oder das seltene Mahl bei McDonalds, das sich Menü nennt. Mir gefallen diese beiden Zeilen (und einige mehr), aber ich weiß halt auch nicht so recht, ob ich mir trauen kann: […] der morgen nach dem morgen presst mir sein gewehr / an die frisch geteerte schläfe […].

 Manon Hopf schreibt in Gegensätzen. Ich bin versucht zu schreiben, in Gegen-Sätzen und das ist vielleicht auch das Prinzip dieses Gedichtes. Das Material gibt der Versuchung nach. Es steigert, um wieder sichtbar zu machen, was gewöhnlich geworden ist. „aus einer flucht auswandern“ ist mehr als nur fliehen oder auswandern. Und doch viel weniger, weil die beiden Worte sich nicht steigern, sondern sich, so wie ich es lese, neutralisieren. So geht das fort. Das Gedicht ist eine Wortspielerei. Kein Wortspiel. Nichts trifft mich. Und das schreibe ich mit Bedauern, weil ich doch das Formale so liebe, das Spielen mit Worten, mit Kalauern. Die Wörter, die sich aus den Wörtern schälen. In deren Universen ohne Visum die Texte einreisen. Dieser Text aber bewegt sich, und er bewegt sich im Kreis. Ist selbstvergessen. Verträumt. Und obwohl immerzu die Rede ist vom Schlechten und vom Guten, also vom Großen, bleibt alles klein. Bleibt alles bei sich. Der Text ist verliebt in sein Material und bleibt dabei genügsam und er imaginiert Probleme. Aber er hat keine. Oder ich erkenne sie nicht. Schon deshalb, weil ich nach ein paar Malen des wiederholten Lesens nicht noch einmal lesen mag.

 Sophia Klinks Gedicht hat einen Titel, was ich erwähne, weil für mich der Titel jene erste Beschränkung der Fantasie ist, die ich brauche, um anzuecken im Lesen, um zu revoltieren, um eben genau den Titel zu verwünschen, weil er mich einengt, was ich wiederum brauche, zu brauchen glaube. Der Titel ist der Käfig, der lesend ein Zuhause wird. „Nichtselbst“ ist ein wunderbarer Titel, weil er für mich zudem eine Poetik andeutet, weil er dem folgenden Text ein Kontrapunkt ist und zugleich die Einlösung des Textes, da man wie von selbst wiederholt am Anfang landet, einfach weil man Lust hat zu suchen, nochmal zu lesen. Tatsächlich zu überprüfen, ob noch dasteht, was man eben noch gelesen hat. Das passiert beim Lesen dieses Gedichtes: Es löst auf und es will das vielleicht auch und es hält, sehr leicht, diese angedeuteten Versprechen des Auflösens auch ein. Das fachterminologische, nicht poetische Vokabular, das mich erfreulich befremdet, löst das Individuum, das schreibende, das lesende, das allgemeine in einem feinen Zusammenspiel aus Inhalt und Form auf. Und so klein der Kosmos der Sporen und Pilze und was nicht alles auch ist, so winzig mutet interessanterweise das Individuelle erst an, das aufs Menschliche zusammenschrumpft. Es ist unwichtig. Man fragt noch kurz, wovon man sich da nochmal absondern wollte, in seinem realen Leben, was einen so ausmacht und beginnt von vorne und liest von der Utopie, da all die Kämpfe und Debatten unwichtig werden, da weiße Fahnen von Coronaviren geschwenkt werden und die Kapitulation nicht Aufgabe, sondern Auflösung ist. Der Form halber: Die Sätze sind einfach, kein besonderer Klang, keine weiteren Ebenen. Und trotzdem oder gerade deswegen: Auch keine weiteren Fragen, Euer Ehren. Es scheint mir als Preislaien ein hohes Spiel, einem einzigen Text und damit doch einer kompletten Autorin einen Preis zu geben. Aber das sind die Regeln und die Juror:innen werden sich tiefer und eingehender befasst haben und also auch mehr als nur diesen einen Text adressieren.

 Zwei Zeilen, die schon zeigen, wie abgekocht das ist, was beim ersten Lesen so harmlos und freundlich daherkommt: […] ich unterscheide nicht mehr / zwischen Feind und anderen Freunden […]. Das ist so gut als Probe wie es tauglich scheint, sich als Instagramspruch zu etablieren.

 Dennis Mizioch führt ein Motiv durch bis nichts mehr ist, buchstäblich. Der Hahn kräht und dreimal war davor Verrat. Das Motiv des Freundesverrats, des Gottesverrats. Petrus, der das für ihn Undenkbare tut, der das Undenkbare, den Verrat, leichter Hand tut, da es ums eigene Überleben geht. Nur ist es diesmal der Hahn, der handelt. Nicht Petrus. Nicht das Individuum. Nicht man selbst. Der Hahn ist es, der nicht mehr nur als Zeichen fungiert. Sondern das Universum auseinandernimmt. Aufisst. Verschwinden lässt. Alles, was galt. Zwischen Dir und mir vielleicht. Einmal losgelassen, kennt der Hahn im Text kein Halten mehr. Läuft kopflos von Erinnerung zu Erinnerung. Hier schreibt es sich, liest es sich von selbst weiter. Erst verschwindet das Alltägliche. Dann gehen die Kategorien. Raum und Zeit. Bis wirklich alles, basierend auf einem Verrat, verschwunden ist. Und dann will das Gedicht rund werden, der Text will einen Abschluss. Das Serienende naht und eine Hand, die ja jedermanns Hand sein kann und doch eher die Hand Gottes ist, wo wir doch so satt in der Religion gelandet sind und uns die Motive nur so umarmen, fügt alles wieder zueinander. Und man ist, lesend, sicher auch schon vor fünfunddreißig innerlich die preisverhindernden Jahre älter. Hat alles im Griff. In der Hand. Aber weil wir ja die Überraschung lieben, den letzten Twist und der Autor da ganz bei uns ist, ist am Ende alles überraschend schwarz. Das Bild ist vollständig. Kein Detail fehlt mehr und alles überdeckt sich, bis auch am anderen Ende der Schöpfung nichts mehr zu sehen ist, weil alles zu sehen ist. Jedwede Perspektiven sind vereint, wir sind wie Gott, ach was, wir sind Gott, weniger haben wir nie gewollt und dann gehen wir nach Hause und haben schon, was wir wollten und was der Butt uns gab und es ist alles – schwarz. Und nichts und alles ist da. Ein Schlüsselgedicht also. Am Ende bleibt freilich kein poetischer Rest. Die heimliche Sehnsucht des Genres ist nicht bedient. Und das, obwohl alles so elegant und smooth von der Schreibe läuft.

 Hier ein paar mehr als nur zwei Zeilen, die zeigen können, das am Ende auch das große Denken seinen Anlass in der banalen Trennung von der Geliebten, von dem Geliebten findet: […] und dann wird der / hahn die moleküle aus dem raum picken / und den raum aus der zeit und die zeit  / von meiner matratze wo sie liegt / angezählt vom wecker / bis da nur noch ich bin und das / an was ich mich von dir erinnern kann […].

 Laura Schiele lässt das Du zu sich selbst sprechen. Da ist was passiert, was so Intimes, was so Geheimes, dass aus dem lyrischen Ich ein Du werden musste. Ein Selbstgespräch. Das unterstelle ich. Das steht da nicht. Oder ein Zwiegespräch, welches das Ich in die Mangel der kalten Analyse zwingt. Und wieder, zum dritten Mal schon in der Sammlung der neun eingeladenen Texte, sind es die Moleküle, aus denen ein Gedicht gemacht ist. So kleine Teile, die auf das Große zeigen. Schon wieder findet das Unsagbare, das Geheimnis im Unsichtbaren statt, das uns doch unmittelbar berührt, uns zusammenhält oder uns, wie hier, aus uns, aus unserem Körper herausdrängt. Wir waren offenbar mal eins mit uns, Du warst offenbar einmal identisch mit Deinem Körper und nun werde Ich herausgedrängt. Aus mir selbst. Die Hülle ist noch da. Der Schein hält sich. Noch ist das so. Und auf das noch, das immer ein ‚noch nicht‘, immer ein ‚bald‘ ist, kommt es an in diesem Gedicht. Aber am Ende ist da nur eine Lücke, eine weitere Lücke, die doppelt spricht: Einmal als Abwesenheit des Du und einmal als Anwesenheit anderer Ichs, welche die Lücke flankieren. Rahmen. Quasi als Tor ins Verlorene. Denn das ist der Unterschied zwischen dem Nichts und der Lücke. Die Lücke braucht einen Rest und ist selbst ein Durchschlupf. Manchmal für den Teufel. Manchmal für die Hoffnung. Das bleibt hier unausgesprochen. Ungehofft. Nur das Verlieren steht im Mittelpunkt. Der große alte Topos der Literatur: Ich bin verlassen. Ich verschwinde. Bloß den lieben bösen Gott, die Instanz des Trostes, die Adresse der Klage, den gibt es ja nicht mehr. Und all die Konsumversprechen haben sich nicht eingelöst. So bleibt am Ende, ganz lapidar, nur eine weitere Lücke. Sonst nichts. Und ein Unbehagen beim Lesen. Ein Etwas, das sich gelöst hat und umhertreibt. War es nicht besser, als es noch Namen dafür gab? Oder ist es so gut und wir verschweigen uns am Ende und auch schon am Beginn vor uns selbst? Das Lapidare wird so im Nachklang, im zwiefach Gelesenen zum Larmoyanten. Aber vielleicht ist auch das schon wieder Verdrängung und ein Nichtwahrhabenwollen und überhaupt das ganze Elend der Ich und Du Konstruktionen. Wer weiß. Möglicherweise sind die Texte schlauer als ihre Inhalte. Ich würde was drauf wetten.

 Von Laura Schiele wieder nur zwei Zeilen, den Beginn. Denn da sich alles logisch bei ihr entwickelt, kann man nicht einfach mal so mittenrein ins Geordnete. Man muss von vorn beginnen. Immer wieder: vor deinen zellen hattest du nie geheimnisse / und doch sind sie dir fremd geworden etwas […].

 Alexander Schnickmann hat gewonnen. Oder sein Text. Mir ist das nicht ganz klar geworden. Am Ende wird er selbst es sein. Texte kann man schlecht auf weitere Texte, auf Fortführung der Karriere, auf Mittäterschaft und so weiter drängen. Dass er gewonnen hat, macht ein Lesen ungemein schwieriger. Immer will ich auf der Höhe der Jury lesen. Selbst wenn ich anderer Meinung wäre, müsste ich auf die Höhe der Jury. Der Rahmen ist also klarer noch als vorher ein bestimmender. Und es wird auch erst einmal persönlich. Als Lausitzer kommen mir sofort dumme Abwehrreflexe bitter die Speiseröhre hoch und wollen ausgespuckt werden: Was hat der jungsche Wessi in meinem Revier verloren? Was will der mit meinem Stoff, meinem Material? Das geht doch nicht. Hört das denn nie auf? Also nach ein paar Zeilen erstmal ab ins Biografische. Einmal durchatmen und feststellen, dass der Jungsche aus dem Rheinland kommt und was von Kohle und Gruben und Maschinen weiß. Oder immerhin wissen könnte. Hier wie dort wird gebaggert und auch weggebaggert. Und was aus der Erde gerissen. Und unheilbare Wunden werden geschlagen. Und Maschinen, groß wie Urzeitmonster, fressen sich durch die Landschaft. Gundermann möge mir verzeihen oder sich mit mir freuen: Die antiken Landschaften sind durch Alexander Schnickmann ein weiteres Mal in ihrem Tode wiedergeboren in der Lausitz. In Brandenburg. Hier sind die Schlachten. Hier geht es um alles. Kultur und Natur. All die Multiversen von Marvel verblassen darob. Das Gedicht selbst kommt aus der Stille. Verzichtet ganz auf die naheliegenden männlichen Kampfposen. Da ist ein Staunen in der Welt über die Lautstärke. Über den Sound der Maschinen, der alles überlagert. Auch den Sound des Gedichtes. Und am Ende bleibt die Verwunderung darüber, dass alles anders ist, als man sich das vorgestellt hat und die Frage bleibt: Hat man sich denn überhaupt was vorgestellt? Hat man sich was gedacht? Wusste man, wie aus Landschaft Erde und aus Erde Löß wird und wie das alles nur so davon staubt? Leicht am Ende. Als wäre da nie was gewesen. Nur das Brummen und Keuchen der Maschinen. Und sonst nichts?

 Wie soll man was zitieren aus einem Textblock, der selbst schnauft und brummt und gewaltig vor einem steht und doch fein ist in seinem Inneren, verletzlich, zart? So von außen und doch innerlich? Und auch der Zeilenumbruch, gibt es denn einen, ist nicht glaubhaft erkennbar auf der benannten Internetseite. Ich folge dem dortigen Abdruck, aber ich zweifle. Hier also als Wortmasse, aufgeschlagen im kurzen Zitat, eine Probe: […] hier aber stehen Erdmaschinen Bodenmaschinen Brandenburgmaschinen / das wusste ich und hatte mir doch die Landschaft hatte ich mir stiller / vorgestellt ich wusste nicht dass man nichts mehr hört als das Graben / und Schnaufen der Maschine der brandenburg machine […]

 Auch Robert Stripling hat gewonnen. Einen der beiden Förderpreise. Und er schreibt vom Ende her. Vom Nichtwissen her. Ganz aus der Horizontalen, die das Vertikale, das Wissen, das Wissen vom Gestern, das Wissen von dem, was war, vermisst, aber offenbar nicht mehr einholen kann. Und doch schreibt er kumpelhaft, hält Händchen mit den gebildeten Rezipient:innen, streut wie Salz vom Wissen, dass er nicht zu haben vorgibt, hie und da was Intensives über seinen Text vom Ende. Zitiert Dürer, schreibt vom Don Quijotte, den nicht zu kennen der Text vorgibt, schreibt von alten Rezepten, die noch grüne Walnüsse einzulegen empfehlen, um dieselben dauerhaft haltbar zu machen. Wie das Wissen, das so wortreich verschwiegen wird. Das verschwunden ist und zugleich ausgestellt. Es ist eine Beliebigkeit, eine Müdigkeit, die hier verhandelt wird. Wieviel genau sind noch einmal sieben mal acht? Und sofort, ich lese ein Gedicht, wird aus der simplen Rechnung, aus dem Einmaleins eine unlösbare Schlüsselszene: Warum unbedingt sieben mal acht? Warum nicht, sagen wir, neun mal vier? Und welche grünen, ergo unreifen Walnüsse werden hier haltbar gemacht? Wo doch alles verschwunden scheint? Vergessen? Nie gewusst? Das Gedicht verliert sich auf feine Weise in sich selbst. Versichert sich selbst seiner Verunsicherung. Und wirkt fast ein wenig behäbig. Das verharrt am Schreibtisch, den verloren zu haben es vorgibt. Das Papier, das vorgeblich vom Leben verwehte, raschelt gut hörbar. Das Ausgebrannte, das noch einmal angezündet werden soll, das Ich, das sich selbst den burn out attestiert und immer noch nicht alle Details der Kunst erfasst hat, geht nicht mehr raus in den Wald, wie vor hundert Jahren noch, es verzweifelt bloß. Und bleibt einfach sitzen. Tut das Naheliegendste. Müdigkeit. Erschöpfung. Und keine Rettung. Nirgends. Nicht einmal im Schutz der Museen, die Natur als Gegenbild zur Kunst nur in ihrer dichterischen Gestaltung durch die Goethes zulassen: […] Wind will durch Wipfel gehn, aber unberührt; ich / bin ausgebrannt; habe nicht gelesen alle Klassiker, / die es zu lesen gäbe; […].

 Zuletzt ein Vorschlag, den Mirjam Wittig unterbreitet, scheinbar unterbreitet, deren Gedicht einen Titel hat, eben jenen Vorschlag, der sich unterscheidet von der Bitte oder der Aufforderung darin, dass er das Gegenüber nicht zum Handeln treibt, sondern das Gespräch eröffnet. In der Mitte bleibt. Mäßigung evoziert. Hör mal, was ich sage und sag dann Du. Doch so einfach bleibt es nicht. Der Vorschlag ist in Wahrheit eine Zumutung, eine Änderung, eine neue Route, die Urangst jedweder Beziehung, hier untrennbar erlebt in einer Zeit extremer Veränderung der Umwelt, eingeschrieben als Instinkt wie als Überraschung: Lass uns einen neuen Weg nehmen. Lass mich einen neuen Weg nehmen. Lass mich abstürzen. Lass uns abstürzen. Alles, was wir tun, hält die Zerstörung nicht auf. Wir wissen das. Wissen wir das? Wir fürchten uns vor dem Satz, der das sagt. Aber Du kannst nicht anders als ihn auszusprechen. In diesem Text sind Zweierbeziehung und Umwelt kein Gegenüber mehr. Sie fallen, stürzen in eins. In der einfachen Beobachtung des Vogelzugs bildet sich der Himmel im Gras der Liegenden ab. Nichts ist sicher. Nicht der Vogelzug, der doch immer gen Süden ging? Nicht unser Überleben. Diesem Text ist eine Sorge eingeschrieben. Die existentielle Sorge. Eine Sorge vorm Morgen, da die Vögel im Herbst nicht in den Süden ziehen, sondern in den Norden, um zu überwintern. Es ist ein leiser Text, dessen Mittel so einfach wie zwingend sind. Man kann ihn leicht überhören, man soll es vielleicht sogar und vielleicht, das sage ich ganz vorsichtig, hat eine Jury diesen flüsternden Ton tatsächlich ein wenig überhört. In diesem Flüstern auf wenigen Zeilen ist alles. Was man kaum aussprechen mag. Da man auf Wiesen liegt und sich nicht mehr in den Sternen wiederfindet wie einstmals. Sondern in den Vögeln, deren Absturz man so ersehnt wie fürchtet: […] und fangen zu winken an, ich denke: bis eine mich sieht und umkehrt / wir sorgen uns beide. so scharf an den rand des zerstörten geboren / verzeichnen wir jeden absturz als einschnitt für uns […]

 

 Kein Fazit: Es sind interessante Texte. Es sind Texte, mit denen man sich beschäftigen mag. Es sind Texte, die mir als Leser allerdings auch nur am Wege liegen. Keine Exzellenz, um einmal einen universitätsbürokratischen Begriff zu gebrauchen. Und es sind Texte einer Innerlichkeit, die sich bis aufs Molekül zurückzieht. Es findet die Welt im Kleinen statt. Welthaltigkeit, wenn man darunter die Ausweitung des Universums eines lyrischen wie auch eines schreibenden Ichs versteht, fehlt mir ein wenig. Und damit meine ich nicht Gesellschaftsrelevanz, nicht Zeitgeistigkeit, schon gar nicht Message. Sondern das wirkliche Absehen von der Selbstkonstruktion, die auch in der absoluten Dekonstruktion des Ichs das Hintergrundrauschen liefert. Lyrik ist das Genre der Ich-Beschäftigung, der Innerlichkeit, der zumeist leisen Töne. Schon klar. Aber das lyrische, das Leier spielende Ich kann auch deutlich über sich hinaus gehen. Es kann was wagen, dieses Genre. Auch in der Verzweiflung. In der Sprachlosigkeit, im Geworfensein. Es kann einen Steilpass ins Unbekannte spielen und sich nicht immer nur in aller Vorsicht das Wort vor dem eigenen Tor hin und her passen. Vielleicht liegt darin die Leerstelle, die Max Czollek aufbringt. In doppelter Bedeutung. In diesen Wettbewerbstexten von 2023 lese ich nicht die Vielfalt, die mir auch als Zumutung täglich in der Berliner U Bahn begegnet. Das Material bleibt gepflegt. Die Form bleibt oft Form, ohne über sich hinauszugehen, ohne zum eigentlichen Inhalt zu werden. Das Lesen wird erschwert. Es ist keine leichte Sprache. Aber da singt und klingt auch wenig. Da flüstert sich nichts in meine Seelen. Da brüllt mir keine:r das Gehirn weich. Ich gehe auf den Straßen und diese Texte bleiben meist lieber daheim, weil das Gehen mühevoll sein kann, weil es regnet, weil es stinkt, weil Unfälle passieren. So geht es mir mit ihnen, wenn ich ohne sie in meine kleinen Welten gehe. Die man divers nennen kann. Unbekannt. Anders. Die Bereitschaft, sich auch ins Aus zu dichten, den Mainstream zu vermeiden, ist nicht allzu ausgeprägt. Die Texte verständigen sich rasch mit ihrer vermuteten Leserschaft auf einen Nenner. Das unterstelle ich. Hier muten die Texte sich mehr sich selbst zu, als dass sie mir was zumuten. Ich sehe den Schmerz. Ich sehe den Kampf. Aber ich bleibe Zaungast. Es nimmt mich nicht mit, was ich da lese. Ich bin nicht Mitreisender. Ich bin nicht Mitleidender. Ich bin Museumsbesucher und tapse die Vitrinen ab und gucke, was grad so der Stand der Dinge ist. Eine Jury kann nur auszeichnen, was ihr angeboten wird. Ich habe keine Ahnung vom Angebot, vom Stand der Dinge. Ich weiß auch nicht, ob die Offerte allenthalben als solche verstanden wird. Da weiß Max Czollek mehr. Ahnt mehr. Unterstellt mehr. Schmeißt einfach mal ein paar Steine in den Karpfenteich. Auch um zu gucken, ob da Hechte sind. Und alle Angler gucken auf den Heini, der so einen Lärm macht. Und alle Fische vertreibt. Aber auch ich hoffe ein bisschen, dass mehr geht. Anderes Material. Andere Formen. Und ja, ich schreibe das im vollen Bewusstsein und nicht in der Absicht zu provozieren: mehr cultural appropriation. Ich habe mich an einer Lyrik, die strengere und kanonischere Formen als nur Kleinschreibung und überraschenden Zeilensprung meidet wie ich als Kirchgänger das ins Volk verspritzte Weihwasser in der Osternacht, ein bissl satt gelesen. Der Technikbaukasten der Lyrik hat so viele Formen entwickelt über die Jahrhunderte, in so vielen Gegenden der Welt: Vielleicht sollte man den auskippen und gucken, was für wunderliche Dinge da verstauben? Wahrscheinlich, und damit schließt sich der Kreis, bin ich mit solchen Vorschlägen komplett ahnungslos. Wahrscheinlich können das alle Lyriker:innen aus guten Gründen nicht mehr hören. Wahrscheinlich war der Ofen schon aus, als Opa, da man sieben, acht war, an der Kaffeetafel sagte: Aber das ist doch kein Gedicht! Und später, da man sieben mal acht war, auch die eigenen Geschwister. Und trotzdem. Und doch.

 Daniel Nartschick

Hier der Wettbewerb und seine Texte: https://www.literarischer-maerz.de/autoren