magische Blätter, nostalgische Ostsee

Mittwochs in Wien: Friederike Mayröcker in der Schmiede. Unwillen, über diese Lesung im kühlen Rapport zu berichten, nicht nur wegen des hohen Alters der Dichterin und ihrer Lebensleistung, sondern auch, weil ich nicht, weil wohl niemand unbefangen zu einer Mayröcker-Lesung geht. Jede und jeder hat bereits ein Bild von ihr. Meins geht vor allem auf ein, zwei Lesungen vor nun schon über 20, nein eher 25 Jahren zurück und macht den Besuch in der Schmiede zu einer Art Zeitreise. Ich sah sie im deutschen Theater, dann im Literaturhaus Berlin, in letzterem zusammen mit Inger Christensen. Das waren überhaupt erste Lyriklesungen für mich und dementsprechend einprägsam. Reise durch die Nacht hatte mich sehr beeindruckt, ohne dass ich allzu viel verstanden hätte. Aber intensiv war es gewesen, aufflatternde Bilder und eine ganze, traumartige, innere Welt voll Impressionen. Bei den Lesungen aber kam sie mir zu sehr abgekapselt vor, abweisend fast, ganz in Schwarz unter einem schwarzen Pony verschwindend. Dann die Mythen über ihr Leben, ihr Weinen in den Texten, ihre allzu persönlichen Einschübe. Poesie, die solche privaten Spuren legt, kann beim Lesenden mit der Sympathie für die Autorin stehen und fallen.

Irgendwie verlor ich die Spur zu ihr. Und nun führt diese Spur doch in die alte Schmiede, nach so vielen Jahren. Unversehens verbindet mich das mit ihr und färbt meine Erwartung.

Zunächst einleitende Musik und Vorträge alter Wegbegleiter (Elisabeth von Samsonow / Oskar Aichinger / Bodo Hell) – dann: Auftritt Mayröcker. Wie damals in Schwarz, aber so viel offener und herzlicher wirkt sie. Strahlt geradezu eine Liebenswürdigkeit aus, freut sich über den Applaus, ist ungebrochen in ihrer Liebe zu ihrer Arbeit. Einfach bewundernswert. All die Jahre hat die Poesie sie weitergetragen, hat sie die Poesie weitergetragen. Und mit dieser neuen Sympathie kehrt auch die Begeisterung aus Reise durch die Nacht zurück. Ist Sprache nicht per se etwas über sich hinaus Deutendes, Hinausschießendes? Eben „Magie“? (ich erstehe ihre magischen Blätter: was gibt es in ihnen nicht zu entdecken!) – war es nicht kleinlich, die persönliche Grundierung ihrer Bücher zu sehr an ihre Person zu fesseln: gerade ihre Sprache will doch über sich hinaus, schwärmt aus. Auch ihr Weinen, scheint mir jetzt plötzlich, hatte ich viel zu eng verstanden. Gibt es nicht unendlich viel Anlass über diese Welt zu weinen? Ein strukturelles Weinen. Alles Sentimentale (und wer dürfte darüber richten? ist es nicht gerade das, was uns vor dieser zugerichteten Welt rettet?) wird der Sprache ja per se ausgetrieben, aus sich hinaus strömt sie in das Wechselsystem der Zeichen. Überführt in die Austauschbarkeit. Ist das Weinen in Mayröckers Texten also nicht auch ein Weinen über diese Vergeblichkeit, die einen in der Sprache selbst immer wieder einholt? Aber um von ihr eingeholt zu werden, muss sie auch erst einmal entfliehen können, fliegen, auffliegen und in alle Richtungen zerstäuben, das ist die mayröckersche Glückseligkeit. Deswegen – und nicht aus Stilisierung – ist die Schreibblockade ihre Angst. Nicht so sehr horro vacui, als ein Horror sich selbst nicht mehr voraus sein zu können oder sich selbst nicht einholen zu können (beides in einem, denn Sprache ist ja auch immer beruhigendes Verstehen). Diese Doppelbewegung der Poesie: Hinaustragen ins Unverständliche und das Tragende des Verstehens. Wie in Mandelstams bekannten Gedicht Возьми на радость из моих ладоней, in dem Wörter Honig zurück in Sonne verwandeln, nachdem sie ausflogen und als tote Bienen zurückkehrten. Mit dem Tauschkreislauf gegen den Tauschkreislauf (oder in ihm gegen ihn). Unendlicher Vorrat: welch Glück. Und doch ist jedes Wesen zu beklagen, weil es den Vorrat nicht ausschöpfen kann, begrenzt bleibt.

Auch schade, dass keine Dichterinnen, Dichter im Publikum sind. Vielleicht kenne ich die jungen Wiener Dichter nicht, vielleicht haben die Älteren sie schon so oft gesehen – vermutlich. Und doch schmerzt es ein wenig. Denn trotz ihres Alters ist an ihrer Poesie nichts Vergangenheit, nichts Altbackenes. Das erinnert an Elke Erb, die vor kurzem im LCB las und an Lebendigkeit alle mit ihr lesenden Jüngeren übertraf und die ähnlich wach und gegenwärtig geblieben ist. Poesie hält jung, sagte mir vor kurzem erst Jan Wagner.

Freitags in Berlin, zwei Tage später: Eben jener Jan Wagner liest im Literaturhaus, also dort, wo ich ihn zum aller ersten Mal sah, ein paar Jahre nach der Lesung Mayröckers am selben Ort. Nun auch schon 21 Jahre her, sagt er. Auch für ihn war es eine seiner ersten Lesungen. Im Kaminzimmer, mit Björn Kuhlig, Tom Schulz – wer war noch da? Daniela Seel wohl. Die Literaturschachtel, die Jan Wagner damals, ewig kopierend, herausgab und an dem Abend vorstellte, habe ich immer noch. Sie ist inzwischen Legende.

Also noch einmal Rückkehr zu den Ursprüngen. Jan Wagner ist derselbe freundliche, offene, neugierige Mensch wie damals. Auch das bewunderswert. Der Erfolg hat ihn nicht verbeult.

Ostseedialoge ist der Abend betitelt, eine ganze Veranstaltungsreihe zu diesem Thema soll folgen, dies ist der Auftakt. Noch eingeladen: der Herausgeber der Vilnius Review (einer englischen Literaturzeitschrift), Eugenijus Ališanka. Auch die beiden kehren im Gespräch zu ihrer ersten Begegnung zurück: ein Besuch Wagners in Vilnius, wilde Abende im Schriftstellerhaus mit über den Boden robbenden und sich prügelnden, langbärtigen Schriftstellern. Dann zu Quallen in Texten. Zu Australien als Sehnsuchtsort der Westler und der Westen als Ort der schlechten Lyrik für die litauischen Ostler, die sich im Zentrum Europas dünkten, zumindest geographisch. Wagner wirft gewitzt ein, die Mitte Europas sei wohl wie eine Ratspräsidentschaft und würde alljährlich wechseln. Denn dieser Mitte rühmen sich viele europäische Länder.

In den Gedichten Wagners tauchen dann nicht die Schriftstellerabende auf, von denen er so fabulös zu erzählen weiß, aber die weißen Bärte schaffen es doch in unterschiedlicher Gestalt in seine Gedichte. Was die beiden da auf dem Podium jenseits dieser Reminiszenzen verbindet – weiß man nicht so recht, die Ostsee ist es jedenfalls nicht. Die bleibt irgendwie ein weißer Fleck. Oder ein weißer Schaumbart Aphrodites, Transitraum.

Aber vielleicht haben die beiden ein gewisses nostalgisches Moment in ihrer Dichtung, das sich ähnelt? Bei Ališanka eher melancholisch, bei Wagner fröhlich – ja gar restaurativ (wie ja immer behauptet wird)? Ich würde dies Restaurative, in positiver Konnotation, lieber einen Retro-Effekt nennen: Alles Vergangene erscheint im Schimmer eines milden Glanzes, der die Unebenheiten, das Porige der Gegenwart, die es war, zudeckt, verschwinden lässt und nur die für uns stechendsten, also meist exotischen Züge hervortreten lässt (was freilich einige Bilder nahe an die Klischeegrenze trägt). Ein liebevolles Andenken, gerahmt, das eben gerade dadurch bewahren will, dass es dem Gegenstand alle „Aktualisierung“ vorenthält und wie Insekten in Glas einlegt. Typologisch oder archetypisch erscheint es dann. Taucht Untergründiges, Dreckiges, Widerständiges auf, so fein im Hintergrund, durch Reim und Rhythmen, wenn auch „unrein“, also nur sanft, domestiziert. Vergangenheit nicht als Vergangenes, sondern ewiges Bild. So lebt es nicht und kann nicht sterben, muss lieblich dimmen und dämmern, aber das Schöne daran ist: es bringt das Phänomen phänomenaler ans Licht als es je war (wie jede Retroband auch mehr der Zeit, die sie kopiert, zu entspringen scheint als alle tatsächlichen damaligen Bands).

An so ein zeitloses Porträt lassen sich schnurrige Schnörkel anbringen, humorige Verzierungen und feine Anspielungen. Aber das Pittoreske, das Wagner vorgeworfen wirft, bringt gerade in seinem unauthentischen Zelebrieren des Authentischen auch eine Unwiederholbarkeit zum Ausdruck, die kein Memento mori anstimmt, sondern Trost stiftet. Sein doppeltes Spiel hat zwei Gründe oder schielt schelmisch in zwei Richtungen. Zum einen ist da das beschriebene Wiederholbare, Beruhigende des zum Typus Geronnenen, zum anderen gibt es aber auch das Überraschende eines ersten Eindrucks. Letzteres speist nicht aus einem „Retro“-Effekt, sondern aus dem immer wieder verblüffenden Zusammentreffen zweier ingeniös gefügter Bilder in einem feinen Stich. Mehr Magierkniff als magisch-beschwörend (wie bei Mayröcker) weckt dies Verfahren auf eben „verzaubernde“ Weise Erinnerung an die erste Begegnung mit den Phänomenen.

Und zu was sind mir die beiden ersten Lesungen von Dichter und Dichterin, Wagner und Mayröcker, inzwischen geronnen, die damals so magisch waren? Auch sie sind zum Typus geronnen, allein durch ihre Erfolge und die vielen Berichte über sie. Und doch sind beide nicht in einem Abziehbild ihrer selbst erstarrt. Ein feiner Schimmer Melancholie aber durchzieht mir nun ihr Bild. Diese Melancholie wiederum könnte vermutlich am besten Ališanka in einem Gedicht beschreiben, der hier, man verzeihe mir das, weil ich doch keine Erinnerung an ihn habe und ihn nur unzureichend aus Übersetzungen kenne, gegenüber den anderen ein wenig zu kurz gekommen ist – und so zumindest fiktiv das letzte Wort haben soll.

 

Hendrik Jackson