Milan Napravnik und die Kunst des Auslassens

Diese erste Lektüre, wenn man einen Autor entdeckt und die Assoziationen sich überschlagen, bevor man den Band noch ganz gelesen hat, gebiert manchmal Einsichten, die schwer zu formulieren sind. Und doch verdanken sich die wesentlichen Momente der Rezeption dieser ersten Lektüre. Ich will jetzt versuchen nachzuzeichnen, welche Fragen und Gedankenspiralen der Kollision mit einigen Texten von Milan Napravnik entsprangen. Sie alle enststammen dem Gedichtband von Milan Napravnik „Beobachtungen des stehenden Läufers“ (Gedichte, Frankfurt am Main 1970 – der allerdings eher lyrische Kurzprosa enthält).

Von diesem Autor hatte ich nie gehört. Erstaunlicherweise lebte er bis zum Jahr 2017, dem Jahr seines Todes, in Köln, unerkannt neben dem ebenso in Deutschland bis dahin fast unbekannten Parschtschikow, aber auch neben Thomas Kling, Gerhard Rühm, Dieter Gräf. 

Eine gedrungene, äußert schmucklose Sprache mit vielen Wiederholungen schlägt mir aus den jeweils sehr kurzen, zu kleinen Zyklen versammelten Texten entgegen.

 


Es dämmert, sie schauen ihn an. Stille.

Sie schauen ihn an, es dämmert, 

er sitzt in der Mitte, es dämmert. Kopflos.

Stille.

Es dämmert,

sie schauen ihn an, schauen, rühren nicht einmal den Finger, 

der Wind kehrt ihn um, mal auf die eine, mal auf die andere Seite.

Er sitzt mitten drin, und es dämmert. Stille.

Es dämmert, sie schauen ihn an.

Wind.

Kopflos dämmert es. Sie rühren nicht einmal die Finger.

 

Die Wiederholungen und Auslassungen in diesem Band überschreiten dabei fast die Grenze zum Banalen, zur Abstraktion. Manchmal ist kaum noch zu erkennen, was hier konkret gemeint sein könnte, weil so viel in ihm wieder zu erkennen ist, weil die Konstellationen etwas so Parabelhaftes bekommen, dass sie fast zu losgelöst schweben, zu unverbunden mit einer Gegenwart (wie das hin und wieder auch Kafka oder in der Geschichten vom Herrn K Brecht passiert). Doch es sind die kleinen unerwarteteten (fast surrealistischen) Drehungen und Wendungen, die Napravniks Texte zu einem Ausdruck schärfsten politischen Bewusstseins machen, wie es selten in der Literatur zu finden ist. In der Monotonie der allgemeinen Wahrheiten der Redundanz und Stumpfheit mischen sich Blitze von Individualität und lassen das ganze Szenario der Menschheit höllisch aufleuchten: Es gibt kein Entrinnen aus diesen Reduktionen der Gemeinheit. Was der Text nicht sagt, scheint noch schrecklicher als das, was er sagt – und das ist schon deprimierend genug. Selten haben wir etwas Unerbittlicheres gelesen, etwas Politischeres, das über jeden frivolen Aktivismus und jede Interessenvertretung furchtbar wie mühelos hinauswächst. 

Das wirft ganz grundsätzliche Fragen auf, die schon länger gären und mir ungeklärt scheinen. Gibt es im Grunde nicht nur zwei Leseperspektiven, zwei Arten von Aufmerksamkeiten? Zum einen eine die auf das Ausgestellte. Auf das, was in den Bann zieht durch seine Präsenz, sein Ausagieren: Beschreibungskunst, Ausschmückung, Treffsicherheit, Dramatik, Verwicklungstechnik und die Versiertheit eines Textes. Zum anderen aber eine Fokussierung auf das Verborgene: das Nichtgesagte, die Kunst des Auslassens und Einsparens, die immer ein besonderes Sich-Einlassen erfordert. 

Das Ausgestellte ist die auffälligere, leichter zu lobende, ins-Auge-springende Eigenschaft von Literatur. Die zweite aber die subliminal überzeugende, dezent einnehmende. Für eine Literaturtradition, in der die raffinierte Technik, die Verführung durch Demonstration und Geschick oder auch Reichtum im Vordergrund stehen, scheinen uns sofort Namen einzufallen, wie z.B. Shakespeare, Tolstoj, Thomas Mann und Rabelais. Zur Literatur, die vielleicht eher  bedächtig und schlicht im Aufputz das Augenmerk auf das Verborgene lenkt, dürften wir in einer ersten Annäherung vielleicht Tschechow, Carver, Bunin zählen – als ihre exponiertesten Vertreter. Das ist zunächst ein wenig ins Blaue gesprochen.

Aber schon wenn ich diese Reihung genauer in Augenschein nehme, fangen die Dichotomien an zu bröckeln. Eine Beschreibungskunst, wende ich selbst ein, ist nichts ohne die passgenaue Auslassung, ohne das, was nicht ausgeschmückt wurde, was nicht auftaucht und doch eben durch es mitbestimmt wird. Wenden wir uns den Strukturelementen eines Textes zu, seinen auch unterschwellig wirkenden Verbindungen und Affekten, fällt eine eindeutige Zuordnung noch schwerer. Was ist sichtbar und was nicht an der Struktur? Trotz dieser dialektischen Beziehung zwischen Verborgenem und Offensichtlichem gibt es aber eine Literatur, die sich in ihrer ganzen Ausrichtung der Reduktion verschrieben hat und deren Ideal nicht blendende Virtuosität oder Opulenz ist, sondern Schlichtheit und diskrete Andeutung. Auch sie braucht umgekehrt ein surplus, Ausschmückung und Abweichung, sonst führt sie ins Nichts, ins total Unbestimmte, in die Abstraktion. 

Papini illustriert diese Gefahr in einer satirischen Erzählung, in der er einen Dichter ein gewaltiges, langes Epos schreiben lässt, das er dann, im Bestreben es zunächst dem Verleger Recht zu machen, dann seinem eigenen Reinheitswahn, nach jahrelanger mühevoller Arbeit auf das Wort „Entbindung“ zusammenkürzt, weil im Grunde in diesem Wort alles, Leben und Tod, Geburt und Vernichtung bereits eingeschlossen liege, gleichsam eingefaltet. Ähnliches wird von Tschechow überliefert. Als dieser von seinem Verleger inständig gebeten wurde, seine Erzählungen nicht noch weiter zu kürzen, dann bliebe nur ein Skelett, eine Geschichte, die nicht viel mehr zum Inhalt habe, als dass jemand geboren wurde, unglücklich liebte und starb, antwortete Tschechow nur lakonisch: Aber so ist es doch.

Der Versuch der Reduktion bis hin zur Stille, die Vision eines einfachen Texts, ist nicht weniger schwer zu verwirklichen als eine treffende Beschreibung, eine großartige Konstruktion, ein Feuerwerk der Ideen. Bei einem lyrischen Meister der Schlichtheit wie W.C. Williams kann man sogar von Gedicht zu Gedicht sehr schön beobachten, wie dieselbe Methodik manchmal gelingt und oft auch nicht, abhängig von den feinsten Nuancen der Stille, der Balance. Wird dabei der Fehltritt der Ambitioniertheit mit einem Manierismus bestraft, so die „affektierte Bescheidenheit“ mit einer unangenehmen Betroffenheit. 

Vielleicht sind es dabei trotz allem die Schnörkel, das Überflüssige, in denen das Hoffnungsvolle des Menschen nistet? Hat Reduktion nicht immer die Tendenz, uns auf den soziologisch und menschlich kleinsten Nenner zusammenschnurren zu lassen? Ohne die dem Puristen so überflüssig erscheinende Arabeske, ohne eine ungewöhnliche Wendung oder eine aus der Konstruktion ausscherende Idee funktioniert auch der strengste und unnachgiebigste Text nicht.

Doch kommen wir zurück auf die Reduktion selbst. Einerseits definierten wir eine Literatur (oder Lektüre) des Offensichtlichen: Virtuosität, Gefüge, Architektur, Optik und Ornament werden in ihr besonders sichtbar. Andererseits eine Literatur des Verborgenen mit einer Tendenz zur schlichten Fügung, zu Lakunen, Redundanz und Pausen, die die Aufmerksamkeit auf das Abwesende lenken, das Verschwiegene und den schattigen Fleck im Hintergrund. 

Was hat es dabei mit der Kunst des Auslassens auf sich, die ich in den Texten von Napravnik auf so extreme Weise wiederzufinden vermeine? Zunächst bringt sie zur Sprache, was eigentlich im Dunklen wuchert, ohne es ins Licht zu zerren, sie weiß vor allem die Dinge einzufalten, eingefaltet zu lassen und immer auch zur eigenen Ausfaltung darzureichen. Was sie spricht, lässt anklingen, ohne dass dieses sich aufdrängen würde. In Napravniks Texten scheinen mir das unter anderem die menschliche Niedertracht, die gesellschaftlichen Zurichtungen zu sein, eine gewisse Auswegslosigkeit.

Aber gibt es darüber hinaus nicht in jeder Literatur außer dem Ausgelassenen auch ein Weggelassenes? Das Problem ist, das Ausgelassene und das Weggelassene zu unterscheiden. Während das Ausgelassene das Mitgewollte und -gedachte ist, ist das Weggelassene der Literatur immer das Verdrängte, Ungewollte, Ignorierte oder Vergessene. Manche Literatur muss es fürchten, aber nur die scheint mir Substanz zu haben, die ihm, wenn es auftauchen würde, standhalten könnte. Sei es, indem ihr diese Fragilität der Bedrohtheit durch ein Weggelassenes immer schon eingeschrieben war, sei es, dass sie sich ihrer Fluchtbewegung bewusst ist oder dass ihre Stärke in der Befriedung der ihr widerstrebenden Kräfte liegt.

In dem, was Literatur verschweigt, kann Brutalität oder Zärtlichkeit mitschwingen, können gesellschaftliche Deformationen oder individuelle Träume mitschwingen. Darin unterscheidet sich das Weggelassene noch nicht von der Auslassung. Sie kann ein bedeutungsvoller Anklang sein oder ein Abgrund aus Nichts, nur dass sie eben im Text als Abwesendes anwesend ist. Die entscheidende Frage scheint zu sein: Was wird weggelassen und was nur ausgelassen, was verschwiegen und was „enthüllt“ sich gerade im Schweigen? Und wie steht der Text zu dem Verdrängten oder Ignorierten? Wie er zu dem kunstvoll Ausgelassenen steht, scheint zumindest klar: in evozierender, geheimniswahrender oder vieldeutiger Absicht.

Während es in der Literatur bis zur Moderne eher die Realität war, die hier und da zugunsten der Poesie, des Schönen oder des Ideals verdrängt wurde, finden wir im 20. Jahrhundert zunehmend Texte, in denen es gerade nicht die Realität ist, die nicht auftaucht, sondern die Poesie, die Hoffnung, die kindliche Freude. Während das Reale auf alle mögliche Weisen (verzerrt/gestreckt/durchlöchert/fragmentiert/deformiert/hypertroph etc – hier spielen die beschworenen „Auslassungen“ augenscheinlich eine große Rolle) Einzug erhält, scheint es für die Poesie und die Hoffnung gar keinen Raum mehr zu geben. Man dürfte Kafka, Celan, Cioran, Beckett, Bernhard, Zajc dieser Tradition zuzählen, auf je andere Weise. 

In ihren Texten fehlt, das wäre meine Vermutung, Hoffnungsvolles nicht aus Bösartigkeit oder purer Verzweiflung fast gänzlich, sondern weil es vom Monströsen der gesellschaftlichen oder existentiellen Kontexte verdrängt wird und weil es zu schmerzhaft wäre, an es zu erinnern. Vielleicht auch, weil ihre Texte fürchten, die Reste von „Lied“ endgültig zu zerstören. Wenn es in den Texten der Genannten, bei allen Unterschieden, noch Hoffnung gibt, dann eher die, dass dem Verdrängten/Ignorierten die Flucht gelinge. 

Zu dieser Tradition düsterer Texte scheinen mir Milan Napravniks zu gehören. Es wird interessant sein, zu sehen, welche Permutationen das Verfahren in den verschiedenen Bücher des Autors durchmacht, wie es sich auf verschiedene Ansätze auswirkt. Die Entdeckung dieses Autors jedenfalls scheint mir überfällig, so viel wage ich nach nur einem Band zu sagen. Sein Verfahren wirft mit ungewöhnlicher Vehemenz die offene Frage nach dem Ausgelassenen und dem Verdrängten auf, die Frage darnach, welchen Wert Poesie noch in unserer Barbarei der Zivilisation haben kann.


Hendrik Jackson

Dank an Walter Fabian Schmidt, auf dessen Empfehlung die Lektüre zurückgeht.