regelmäßig gegen die Regel ?

Lieber Alban

du stellst in deinem Essay zu Katharina Schultens, der bezeichnenderweise in der »Wiederholung« erstveröffentlicht wurde, die Formfrage, beziehungsweise stellst die Formfrage vorweg, um in Katharina Schultens ein Exempel zu statuieren für das, was dir vorschwebt in der (Erfüllung der) Frage nach dem, was gute Poesie sei. ich werde in einer ersten Antwort auf die Frage der Form nur unzureichend eingehen, weil dafür Begriffe in einer Weise zu klären sind, die ich hier nicht leisten kann. deine Kritik ist auch an einigen Stellen (mir) nicht ganz klar: zum einen forderst du nachvollziehbare, geschmacksunabhängige Kriterien, mit denen Poesie beurteilt wird. andererseits sprichst du aber von Formen, die es zu internalisieren gilt, um sie zu verstehen. das sind ja erstmal zwei verschiedene Dinge, auch wenn die zusammenhängen. wie genau, das müsste deutlicher werden. vermittelt einem eine formbewusste Kunst automatisch oder unter der Hand auch Kriterien für ihre Beurteilung ? oder sollen umgekehrt Kriterien formbewusste Kunst erzeugen oder begünstigen ?
du kritisierst die permanente, regellose Überraschung oder den Regelverstoß, den Michael Braun lobt, aber gibst selbst zu, dass ausgerechnet die großen »Genies« jahrzehntelang auf Anerkennung warten müssen, weil man erst lernen muss, sie zu verstehen. wenn sie sich also nicht durch eben solche Regelverstöße oder schwer zu internalisierende neue Regeln auszeichneten, warum waren sie dann nicht auf Anhieb zu verstehen ?

vielleicht ist das, was Braun da beschreibt, ja gerade die Lust an der Internalisierung neuer, schwer zu erlernender, aber aufregender Regeln und Eigengesetzlichkeiten, die das neue Werk entwirft ? und gleichzeitig von der notwendigen Verkennung der Großen zu sprechen, sich aber darüber zu echauffieren, dass die neue Lyrik zu wenig LeserInnen habe, lässt, rechnet man die vehemente  Parteinahme für das Wiedererkennbare hinzu, nicht so sehr auf lustvolle Dialektik, als auf zweierlei Maßstäbe schließen. dabei erkennst du ja die Gefahren einer Regelpoetik, nämlich die Erstarrung in akademischen Schablonen, wischst die aber beiseite, indem du auf den vermeintlichen Mainstream des Regellosen und die Erstarrung des freien Verses in neuer Zeit verweist. nur wird die Schwäche der einen poetischen Stoßrichtung nicht durch die der anderen getilgt und eine Rückkehr zur griechischen Odenform allein aus Müdigkeit am freien Vers wäre schwach motiviert. was du auch später zur Form schreibst als Bedingung von Unform, mag richtig sein, kann man eben aber an jeder Stelle umdrehen : Form ist auch nicht ohne das Formlose, das es formt.

bei dem Beispiel der Liebe wird es geradezu grotesk : Liebe sei stets Wiedererkennen. aber vielleicht ist es nur die eigene Verliebtheit, das rasende Pochen des Herzens, was derjenige / diejenige da wiedererkennt – und das Aufregende könnte und wird von vielen Autoren / Autorinnen ja wohl gerade als das Andere des Anderen, das einen, wie Poesie den Michael Braun, aus den Geleisen wirft, beschrieben – und ich vermute, nicht ganz zu Unrecht. eine Liebe, die ausschließlich wiedererkennt, dünkt mich wahlweise narzisstisch oder projektionistisch. weiter : du sprichst abschätzig von »anorektischem Masochismus« und machst dagegen eine Üppigkeit und Reichtum stark. nun sind Beziehungsreichtum und Fülle sicherlich positiv konnotiert, nur möchte ich zu bedenken geben, dass An-orexie, das Ausdünnen von Begehren, um durchlässig zu machen für Unzulässiges, Abweichendes und Ätherisches in der Poesie auch Mittel sein können, Dinge wieder (oder erstmals) ins Bewusstsein zu rücken, gerade in Zeiten der Überinformation und der Degradierung des Massenmenschen zum Rädchen im Getriebe. Entzug als Entschlackung und Ausdünnung des Überangebots. dein Formbegriff erscheint mir von daher angelehnt an einen sehr männlichen Begriff des (Sich-)Behauptens ; dein Wunsch, Regeln zu errichten, die für alle gelten, als aus einer sehr logozentrierten Tradition kommend (wie wir alle). da ist in den letzten Jahrzehnten – wenn nicht Jahrhunderten – einiges aufgebrochen, eine Flasche entkorkt worden, deren herbeigerufene evolutionäre Geister nur verspätend durch unsere Feuilletons und die Köpfe wirbeln. das Flaschenleben der Geister im Falschen oder umgekehrt.

in der gegenwärtigen Lyrik, und das nicht erst seit einigen Jahren, gibt es verschiedene Tendenzen des Umgangs mit traditionellen Formen. den Einen gefallen gerade die freieren Gedichte Hölderlins, auch heute. dem gegenüber gibt es aber immer auch wieder den Rekurs auf traditionelle Formen, zuletzt eben bei Rinck, Poschmann, Wagner und anderen. ja, lieber Alban, in einem mag ich dir Recht geben : die permanente Differenz ist unmenschlich. die verschiedensten Avantgarden konnten den Bedürfnissen und einer Sehnsucht nach Transzendenz des Menschen nicht gerecht werden. ja mehr noch : avantgardistische Literatur erzeugt ein seltsam eigenes Einerlei in der Vielgestaltigkeit, paradox. die besseren unter den AvantgardistInnen waren von daher seit jeher auch ambivalent und different gegenüber der Differenz. die permanente Revolution ist nicht so sehr Ausdruck von Innovation, als vielmehr die Befolgung der Logik des Kapitalisten. des Menschen größere Sehnsucht geht, spätestens in Krisenzeiten, nach Bewahrung und Kontinuität und Identität. nur wäre zu fragen : darf der Künstler, der Literat dieser Sehnsucht nachgeben ? nachgehen sicherlich : es gibt eine große Tradition charismatischer konservativer Schriftsteller, von Stifter über George, Jünger, Claudel hin zu jemandem wie Peter Handke, den ich sogar auf seine Weise auch dazu zählen würde, die in ihren Versuchen, Identität herzustellen, gerade auf besondere Weise Vielgestaltigkeit aufscheinen lassen, einen Rahmen geben, in dem überhaupt Lebendiges nicht das der sinnlosen Entropie allein ist. aber aktivierten sie für Ihren Kultstatus nicht auch eben Identitätskitsch im Menschen ? sind es die wirklich großen Schriftsteller ?
oder anders gefragt : sind sie nicht gerade da groß, wo ihre Identitäten Risse bekommen ? Stifters hoffnungsloser Bergkristall – einsamer Gipfelpunkt seines Schaffens, der jeden konservativen Begriff von Literatur, den er aufbaut, auch wieder zersetzt. George – doch gerade da von Relevanz, wo er mit dem Pomp und dem Bauschbogen zugleich die Kurve kriegt, das Faszinierende an Schauder und Schwulst mit komplexeren Schichten ästhetisch zu verknüpfen.

all diese Fragen nach Regeln und Form sind nicht neu. der Widerstreit zwischen Regel und Bruch der Regel erneuert sich vermutlich an jeder Schwelle einer neuen Epoche. nehmen wir zum Beispiel Giordano Bruno, der am Übergang von Renaissance zum Barock in seinem Traktat De gl’heroici furori von 1585 zu der Ansicht durchdringt, jede Regel müsse aus der Dichtung hervorgehen (1) und daher gebe es so viel wahre Regeln wie begabte Dichter. Giambattista Marino schließt daran an und besteht im 17. Jahrhundert darauf, ähnlich wie der von dir zitierte Michael Braun im 21., dass der Bruch der Regel erst die einzige Regel sei. (2) dieses Spiel setzt sich von Zeit zu Zeit fort, bis zum Futurismus, wo es dann erst einmal kollabiert, trotzdem feiert ein regelbasierter Kanonglaube schon nach dem Weltkrieg in verschiedenen geopolitischen Regionen in Form von Neoklassizismus, als sei nie was gewesen, Urständ. wir können von daher festhalten : erstaunlicher als der Bruch der überkommenen Form, der unvermeidlich ist, ist die permanente Wiederauferstehung einer Idee der Regel, wo sie doch im Laufe der Jahrhunderte ununterbrochen gebrochen wird. sie scheint ein retro­spektives Konstrukt, eine ideale konservative Folie für etwas, das nie existiert hat.

ich möchte von daher die tendenziell unentwirrbare Frage nach den richtigen Formen erst einmal hintangestellt lassen. dass man aber auch ohne das Wissen um eine per se richtige oder gute Form vielleicht nicht so sehr Kriterien, als vielmehr philosophisch-kritisch explizierbare Intuitionen und Bewertungen für gute Dichtung entwickeln kann, scheint mir allein schon deshalb plausibel, weil ich die Ausführung immer schon für das Wesentlichste der Dichtung hielt, das Lebendige und Originäre am poetischen Tun sich in den Details, den winzigsten Veränderungen der Arrangements und Tonlagen verbirgt. und da würde tatsächlich das Überraschungsmoment womöglich eher zu seinem Recht kommen als die pure handwerkliche Ausübung von Formwissen.

und damit zurück zu Schultens. Schultens wäre, wenn überhaupt, dann eher ein Beispiel dafür, dass auch freiere Formen einem gehörigen Gestaltungswillen unterliegen und neue, andersartige Formensprachen entwickeln können, wie sie zuletzt auch verstärkt untersucht wurden. (3)
der Tonfall Schultens erscheint auch mir, aber nur zunächst, männlich, deswegen spricht er dich vielleicht auch an. ja, ihr Formwille ist enorm, das controlling. wobei ich männlich hier nicht essentialistisch verstehe, sondern die Begriffe männlich / weiblich vielmehr als Vexierspiel ansehe, die Traditionen aufzeigen. was männlich oder weiblich ist, das schillert vielfältig, weil es so vielfältige Strategien des Überlebens, Aneignens etc. gibt. wenn ich also auch von männlichem Tonfall spreche, dann deshalb, weil Schultens den »Krieg der Geschlechter« aufruft, weil sie viel aus der Arbeitswelt heraus berichtet und viel auch aus Beziehungen, zwei Bereiche, in denen sich mehr Atavismen als gewollt hinüberretten in unsere Welt des Geschlechterumbruchs. in diesem Zusammenhang ist männlich zu verstehen als : Entschlossenheit, Geradlinigkeit, Härte, Dominanz, Kontrolle. all diese Register ruft Schultens auf, sogar »extrem«. aber hinter Schultens Formwillen lauert das Ungestalte. es ist, wie bei Zwetajewa, der von Schultens ja sehr geschätzten Dichterin, nicht das Männliche des Hegemonialen, nicht das bewusste Ordnen, Unterordnen und Eindämmen aus Angst, nicht das Zähmen und Dressieren, sondern die sarkastische Mimesis an die Härte zum Zwecke des Überlebens. Schultens Ton gewinnt ihre Schönheit nicht aus der Regelbefolgung, sondern gegen die eigene Regelbefolgung, gegen den eigenen Kampf und das Bewusstsein, dass dieses nötig ist zum Überleben, der Schönheit Fangnetz, aber eben auch Gitter und Käfig ist. nicht Triumph und Potenzdemonstration sind das Ziel, sondern Zurücktreten hinter die Eigengesetzlichkeiten des Stoffs im Subjekt.

und das ist ja gerade in diesem von dir besprochenen Band das Interessante : wie sie Risse sichtbar macht in der Macht, wie sie gerade männlich und weiblich, dies ewige Spiel aufruft, vorführt und auch dekonstruiert und neu mischt. sodass die Rollenzuteilungen natürlich nicht mehr klar sind. da bedarf es meiner Ansicht nach nicht immer der Betonung ihres Formbewusstseins, ihrer Könnerschaft. inwiefern die bewusst ist, sei dahingestellt. das spielt nämlich gar keine Rolle. im Gegenteil : Bewusstsein verhindert hier oft mehr die Eleganz, als dass sie sie befördert. und mit dieser Eleganz entfesselt Schultens Lyrik freie Kräfte des Aufbegehrens gegen die »Ordnung« und das Spiel des Lebens.

aber eigentlich beschreibst du all das ja auf wundervolle, nämlich konkret-nachhorchende und analysierende Weise. ich wollte dich auch nur an einem Punkt gegegngewichten, der die Form überbetont und, denke ich sogar, insofern überbewertet, als er gegen eine vermeintliche Formlosigkeit immerzu in Stellung gebracht werden soll. alles Geschriebene bedarf der weiteren Auslegung. selbst Wert und Unwert eines Gedichtes ergeben sich erst durch die empfindenden und aufhorchenden Kontextualisierungen des Lesers. du hast auch Recht, wenn du sagst, wer Kitsch meide, sei damit noch nicht automatisch der Gefälligkeitsfalle entkommen. aber vielleicht ist ja selbst der Kitschliebende nur einem Rückgriff der Deutung erlegen, der seine im Kern aufregende Erfahrung erst in der überkommenen regelsuchenden sprachlichen Auslegung zu Kitsch kompromittiert ? nicht die kitschige Erfahrung ist ein Problem, sondern die normierende, schablonenhafte Auslegung dieser. das Gute an guter Poesie und Auslegung ist, dass sie zu komplexen, beziehungsreichen Lesarten und Auslegungen treibt, die langwieriger polarisierender ästhetischer Positionsrechtfertigungen als Einleitung und Selbstbehauptung eigentlich gar nicht bedürften.
übrigens : Marino schrieb einmal Satiren auf einen Dichter am selben Hofe, die dieser mit einem Mordanschlag revanchierte. dergleichen, also Satire oder Polemik, liegt mir in diesem Fall fern.
mir geht es nur um einen kleinen, aber prinzipiellen (in diesem Sinne exemplarischen – so viel performativer Widerspruch muss sein) Einspruch gegen ein Regelwerk und das Gedicht als exemplarische Ausführung (nicht aber gegen aus dem Gedicht extrahierbare Schlüsse und Formen).

in diesem Sinne
mit besten Grüßen

Hendrik Jackson

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Anmerkungen

1 Des fureurs héroiques, texte, établi et traduit par Paul-Henri Michel (Paris
1954), 135
2 in : Lettere, a cura di Marziano Guglielminetti (Torino 1966), 396
3 Wie aktuell zum Beispiel in dem universitären Projekt »Rythm is it«, das
u. a. auf lyrikline.org dokumentiert wird : https ://www.lyrikline.org/de/startseite/
rhythm-it

Dieser Brief ist eine Antwort auf „Zorn und Geheimnis des untoten Schwans. Poetologische Thesen mit Verbeugung. Vor Katharina Schultens“ aus: Die Wiederholung, Nr. 6 und erschien selbst in: Die Wiederholung Nr. 7
Mit herzlichem Dank an Jost Eickmeyer und Die Wiederholung

Beide Autoren haben schon vorher je eine Rezension zu Katharina Schultens verfasst, Herbst veröffentlichte sie zu „Gorgos Portofolio“ im Volltext, Jackson zu „Untoter Schwan“ hier auf lyrikkritik.