Schwundstufen von Bürgerlichkeit?

anlässlich einzelner Passagen eines Interviews mit der Lyrikerin Simone Lappert stellten sich mir einige Fragen zu falschem und richtigem Bewusstsein, auch zur Bürgerlichkeit. dabei geht es mir vor allem um gewisse Aspekte des Interviews, nicht das Gespräch im Ganzen und auch nicht um eine Beurteilung der Dichtung von Simone Lappert, das vorweg.
hier das Interview, gesendet vom SFR

 

man soll sich nicht von oberflächlichen Einschätzungen leiten lassen. aber wenn eine adrette, erfolgreiche Schweizer Autorin mit einer Sehnsucht nach „Verwilderung“ zitiert wird und sie sich als antipatriarchale Vorkämpferin inszeniert, indem sie bei sich selbst als in eine „vorauseilende Selbstverharmlosung“ gedrängt diagnostiziert, dann stellt sich schon die Frage, ob es reicht, „Verwilderung“ nur zu postulieren oder anzurufen, um gutsituierter Harmlosigkeit zu entkommen. hier genau lauert schließlich das Bennsche „gut gemeint“ als Gefahr, das jeder wirklich guten Literatur diametral entgegensteht.

leider verschärft sich das Problematische im Verlaufe des Interviews. ist der Grundton erst einmal schief angekommen, hört man immer mehr falsche Töne heraus. was sonst sympathisch wirken kann, bekommt nun etwas eigenartig Aufgesetztes, z.B. wenn die Autorin der etwas zu einfühlsamen Frage des sichtlich betörten Moderators danach, ob sie nun nicht mehr schlafen könne, weil sie noch nicht verwildert genug sei, nachgibt und kokett affirmiert. irgendwie ist es doch etwas anderes, wenn frau so etwas sagt – politisch weitestgehend uneingebettet – während sie im Zentrum der Privilegiertheit der Welt sitzt. gerade im Radio, gerahmt von aktuellen Nachrichten, mag das schon auf einige ein wenig makaber klingen.

was dann aber vor allem stört, ist, dass diese Reduktion der diagnostizierten Harmlosigkeit auf seine vermeintliche Herkunft aus der patriarchalen Unterdrückung, keine wirkliche Einbettung erfährt. mal abgesehen von den hinlänglich diskutierten Retoureffekten einer zu aufgetragenen Selbstviktimisierung müsste schon erst einmal oder zumindest auch die grundlegende Privilegienposition in den Blick kommen, der so ein Opferstatus doch relativ bequem aufliegt. das heißt weder faktisch strukturelle Dispositive zu leugnen, noch sie durch den Hinweis auf schlimmere Zustände zu relativieren, sondern einfach: dass, wenn man das Ding so hoch hängt, dieser Fallhöhe auch gerecht werden sollte.

vielleicht gibt ihr der Moderator aus gutem Grund dazu auch keinen Anlass, weil es zu sehr ins Grundsätzliche abdriften würde: mehr als ein, zwei kompliziertere Theoriebausteine sind in einer Radiosendung nicht gut unterzubringen – und dennoch. der größere Zusammenhang wäre ja nicht nur, dass Freundlichkeit und Zuvorkommenheit auch was mit bürgerlichen Tugenden zu tun hat und das wiederum mit ökonomischen und kulturellen Traditionen, denen sie vermutlich ihren Erfolg, ihr Einkommen und ihre Bildung zu verdanken hat, sondern dass dieser Wohlstand überhaupt die Basis bildet, auf der so etwas wie „Verwilderung“ in dieser Art als anziehend empfunden werden kann. sollte das nicht zumindest anklingen?

frau muss nicht permanent ein check your privileges befolgen, aber solange sie von eben genau diesem System profitiert, kommt es zumindest etwas cherry picking rüber, sich auf diesen vermeintlich einengende Aspekt der mädchenhaften Wohlerzogenheit zu kaprizieren. es steht dahinter doch ein ganzes Gefüge aus Gewinn und Absicherung und Abschottung und Kultiviertheit, das, gerade wenn es auch um Nuancen geht, mit dem Label Patriarchat etwas dürftig (wenn auch nicht falsch) geframed ist. was einen da beengt, worum es dieser Verwilderung geht, darüber wüsste man gern ein bißchen mehr, gerade auch in der Schweizer Ausprägung.

nicht die „Privilegiertheit“ ist der Autorin vorzuwerfen, nicht einmal die Naivität, so ungerührt über jene hinwegzugehen, sondern im Gegenteil eher die instinktive Versiertheit, mit der sie sich auch noch qua Viktimisierung imprägniert gegen Kritik und en passant versucht moralische Distinktionsgewinne einzustreichen.

das färbt dann auch den Rest der der Unterhaltung und gibt sogar einzelnen zitierten Gedichtzeilen einen eigenartigen Beigeschmack. wenn die Stipendiatin und gefragte Interviewpartnerin eines der führenden reichsten Medienkonzerne eines der reichsten Länder der Welt von ihren Kindheitsverlusten erzählt, bekommen diese plötzlich ungewollt einen enlarvenden Doppelsinn: Kindheit bedeute, „dass einem niemand mehr das Butterbrot schmiert“, und sie wisse eigentlich immer noch nicht, was ihr fehle etc. oder Zeilen wie „wenn du ankommst im Endlager der Zuversicht“, „ich will dir sämtliche Monde kaufen“ „der Mond, der wahllos jeden Scheiß versilbert“ – das wirkt, bei allem Respekt gegenüber der sicherlich netten Autorin, weder feministisch noch besonders befreiend oder kritisch, auch nicht gelungen ironisch, sondern eher ein wenig verwöhnt, wie der Ausdruck einer Schwundstufe von Bürgerlichkeit – und als solcher wieder symptomatisch für unsere Zeit.

aber diese Art, die inzwischen twitterangepeitscht das halbe Land ergreift, jemanden wegen eines falschen Worts gleich zu richten, geht mir gegen den Strich. vielleicht ist es alles ganz anders, und mein Hören ein sich nur potenziert habendes Missverständnis eines womöglich halbherzigen ersten Interesses. ich habe dieses Interview überhaupt nur deshalb so ausführlich behandelt, weil es die spannende Frage nach einem richtigen und falschen Bewusstsein aufwirft, gerade dann, wenn man meint, das richtige, kritische zu haben – und auch die Frage, ob man das wirklich an zwei Interviewsätzen so festmachen kann. darauf möchte diese Kritik, trotz ihres harten, urteilenden Anscheins nicht unbedingt eine Antwort geben, eher noch mehr Fragen aufwerfen. von daher: die HörerInnen und LeserInnen mögen selbst eine Einschätzung finden, das Gespräch sei allen empfohlen.

Hendrik Jackson