es ist so schwer ein mensch zu werden
aber ich will es unbedingt (S. 48)
Getrieben von dem erbitterten Wunsch, „ein mensch zu werden“, versucht die Ich-Figur in Sirka Elspaß‘ Debüt „ich föhne mir meine wimpern“ sich ins Leben zu schreiben. Ob ihr das gelingt, ist unter anderem an ihr Verhältnis zur Mutter geknüpft, dem der zweite und vierte Teil des Gedichtbandes gewidmet sind. Teil eins und drei hingegen streifen diverse Themen, die alltägliche und doch existenzielle Gedanken und Gefühle betreffen.
Die Reihenfolge der Gedichte mag in den Kapiteln bisweilen willkürlich erscheinen – eine wesentliche Orientierung im Dickicht aus Inhalten bleibt jedoch erhalten, da sich alle Texte derselben Aussageinstanz zuschreiben lassen. Elspaß‘ Gedichtband entfaltet ein kohärentes Ich – was dazu einlädt, sich vorzustellen, dass die Autorin selbst sich dahinter verbirgt. Die Gedanken, die die Ich-Figur äußert und die Worte, die sie dafür wählt, könnten nämlich ohne Weiteres die einer jungen Schriftstellerin sein, die um sich selbst und ihre Sprache ringt. Vielleicht ist es also Elspaß‘ Alter Ego, das ratlos feststellt: „ich kenne viele wörter und keines / davon passt […]“ (S. 18).
Ambivalenzen: Schmerz als Scherzfragen
Am Anfang des Bandes steht auch der Anfang des Lebens – die Geburt. Hier kommt die Ich-Figur auf die Welt – oder wird vielmehr ohne Vorwarnung in diese geworfen. Sie scheint ihre Kindheit zu überspringen, plaudert kurz mit dem Arzt und macht sich auf den Weg „in den nächsten Dönerladen“ (S. 9). Der dann auf der nächsten Seite folgende Text antwortet gleichsam auf diese ersten Verse und kommentiert diesen abrupten und eigentümlichen Start ins Leben und in den Gedichtband:
und wenn die welt von anfang an genau so wäre
wie sie wirklich ist wer würde bleiben wollen ich sicher
nicht […] (S. 10)
Die ersten Verse des Bandes und die von ihnen evozierte hyper-selbstbewusste Figur werden später mit ihrer hyper-depressiven Version kontrastiert – „ich schreie leise in den himmel / wie traurig ich bin“ (S. 16) – und somit als Täuschung entlarvt, denn in Wahrheit gilt:
einen körper zu haben bedeutet enorme verantwortung
und niemand kommt auf die welt
und weiß wie es geht (S. 24)
Das sprachliche Austarieren dessen, wie es denn geht, bestimmt Elspaß‘ Dichtung. Die Kindheit wird als wichtige Station der Menschwerdung keinesfalls übersprungen, wie es die ersten Verse des Bandes suggerieren könnten, sie blitzt im Gegenteil mal mehr, mal weniger deutlich zwischen den Versen hervor – wenn auch nicht ausschließlich als etwas Schönes. Als Kleinkind schon ist das Ich „im vollen besitz [s]einer zweifel“ (S. 37) – aber „der bittere geschmack auf [s]einer zunge“ (S. 29) stammte noch vom unbedarften Lecken an „salzlampen“ (S. 29) und noch nicht von „[s]einem essverhalten / und der vielen raucherei“ (S. 29). Die Faszination für die Kindheit konstituiert sich nicht durch das, was über sie geschrieben wird, sondern durch die zahlreichen Verse über ihr immer wieder furchteinflößendes Gegenteil – das Erwachsensein.
Elspaß‘ Gedichtband buchstabiert die Ambivalenz der Gefühle aus, die das Erwachsenenleben birgt: „an traurigen tagen stelle ich mir schmerzfragen / wie damals als scherzfragen noch in waren“(S. 27) – der Schmerz der Gegenwart ist nur einen Buchstaben von der Leichtigkeit von früher entfernt. Und der Modus des Scherzes ist es auch, in dem Elspaß einen Zugang zu schmerzhaften Themen findet, was sich in ihrem nüchternen Witz äußert, der sich mal lauter, mal leiser in vielen ihrer Gedichte findet – etwa in der Gestalt des ironischen Zufalls: Die erste Periode (die ja oft zumindest auf biologischer Ebene als Schwelle zum Erwachsensein verstanden wird) tritt im geschichtsträchtigen Versailles ein und kommt einer Zäsur gleich.
Begreift man den Körper – analog zum Schloss von Versailles – als Palast, wird dieser hier durch eine Revolution erschüttert. Der Körperpalast bietet ab jetzt keine Sicherheit mehr, sondern wird zu einem Ort der Unstetigkeit. Wie ein roter Faden zieht sich die Scheu vor der Verantwortung, die mit dem hier eingeläuteten Erwachsensein einhergeht, durch viele von Elspaß‘ Gedichten: Ständig zu spät, ständig in Erwartung von Hektik findet das Ich im Alltag keinen Halt: „auf der rolltreppe fahren die handgriffe / immer etwas schneller als man selbst“ (S. 19).
Gedanken und ihre Form
Als das erwachsene Ich „räumfahrzeuge“ (S. 11) beobachtet, scheint es sich sehnlich zu wünschen, dass diese nicht nur durch die Straßen, sondern auch durch seine To-Do-Listen fahren und seine „ablage / abarbeiten“ (S. 11). Der Wunsch nach Struktur (und vielleicht noch viel mehr nach jemandem, der strukturiert), schlägt sich auch in der Form des Gedichts nieder, das durch die im ersten und letzten Vers präsenten Räumfahrzeuge eingerahmt wird. Der traditionelle Topos des Pflugs, der Sätze in Verse wendet und sie somit einem Ordnungssystem unterwirft, findet sich hier in einer urbanisierten Übersetzung wieder, in der es nicht darum geht, einen fruchtbaren Boden für Einfälle, sondern lästige Alltagsgedanken aus dem Weg zu schaffen. Denn diese geraten beizeiten ins Kreisen und erschweren das Einschlafen:
es macht mir das schlafen nicht leicht
dass ich immer fragen habe wenn ich gerade weiß
wovon ich träumen will wann haben wir angefangen
uns vor höhlen zu fürchten
in der meditation
habe ich gelernt
die gedanken
kommen
und
gehen
zu lassen
wie
eine wolke
aber jetzt ist es drei uhr morgens
und es gibt dinge die ich plötzlich wissen muss
wann wurde der bilderrahmen erfunden […]
Die meditative Reglementierung der Gedankenführung ist hier durch die Symmetrie des Gedichtes performativ umgesetzt.Auch hier verliert jedoch der Vers, den Elspaß zum Titel des gesamten ersten Teils erhebt, nicht an Gültigkeit: „gedankengänge machen die tollsten moves“ (S. 16). Selbst im Modus der Meditation also vermag das Ich sich nicht vollends gegen besitzergreifende, vermeintlich belanglose Alltagsgedanken zu wehren.
Elspaß stellt sich in die Tradition der Gedankenlyrik, denn ihre Gedichte lesen sich wie der stetige Versuch, Gedanken des Alltags – große, kleine, triviale, belastende – zu fassen zu kriegen und ihnen jeweils eine individuelle Form zu verleihen. Der zentrale Gedanke eines Textes wird durch Fettdruck hervorgehoben, sodass ihm (trotz seiner variierenden Position) ein Sonderstatus ähnlich dem eines Titels zukommt. Das Gedicht scheint jeweils aus diesem Gedanken heraus und um ihn herum zu wachsen. Auf formaler Ebene verfährt jedes hierbei auf eine individuelle Weise – der Band ist also frei von Wiederholungen in Aufbau oder Umfang der Gedichte. Inhaltlich gibt es hingegen durchaus wiederkehrende Themen: Der Band verbindet auf immer neue Weise verschiedene und miteinander zusammenhängende Diskursfelder: Es geht um das Ich selbst, seine Sprache sowie um aktuelle Wissensformationen (etwa in Verbindung mit der Digitalisierung oder der Pandemie). Durch immer neue Verknüpfungen bleibt der Band jedoch abwechslungsreich. So wird etwa die Frage nach dem Vertrauen in die Sprache an zeitlosen Themen wie Verlust, Abschied, Glaube(nsverlust) und Liebe verhandelt, trifft aber auch auf hochaktuelle Phänomene wie Gender – und wenn das Gefühl dem Ich nicht die richtigen Worte einzuflüstern vermag, werden sie eben „gegoogelt“ (S. 62).
Nähe als Falle
Die 2022 – im Erscheinungsjahr des Bandes – höchst gegenwärtige Pandemie verhandelt Elspaß im Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und der Notwendigkeit von Distanz, deren Überwindungsversuch durch digitale Tools ins Absurde verkommt:
[…]
es ist unmöglich
sich in die arme zu fallen wir würden
stürzen
ich ziehe eine menge pullover
übereinander an es hat etwas seltsames
sich gegenseitig dabei zuzusehen wie
wir die mikrofone testen
[…] (S. 17)
Durch reduzierte und prägnante Formulierungen transportieren allein die ersten drei sehr kurzen Verse dieses Auszugs das im Pandemiejahr 2022 von dem Bedürfnis nach Nähe ausgehende Dilemma: So sehr man sich nach haltgebenden Umarmungen sehnte – immer bedeutete körperliche Nähe auch potentielle Ansteckung und damit Gefahr. Hier werden Sicherheit und Gefahr im Moment des Fallens enggeführt: Das Sich-in-die Arme-Fallen ist eine Falle, die potentiell zum (Ab)Sturz führen könnte und die das Ich an der Schwelle zur Vereinigung zum Wir umkehren und in seiner Einsamkeit verharren lässt. Wie leicht Nähe in Distanz umschlägt (und umgekehrt), wird sprachlich vor allem dort ausgelotet, wo Synonyme oder phonetische Ähnlichkeiten Räume für semantische Sprachspiele oder Gegensätze öffnen. So auch in den beiden Teilen, die der Beziehung des Ichs zu seiner Mutter gewidmet sind. Denn deren Aufarbeitung ist für das Ich ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Menschwerdung:
[…]
mutter
nicht
deine arme
lass mich ein mensch sein
der an keine nabelschnur
gebunden ist
[…] (S. 43)
Im ersten Mutter-Teil gibt es auf der einen Seite den Wunsch nach einer liebenden und unterstützenden Mutter. Andererseits versteht das Ich, dass es manche Aspekte ihres Verhältnisses nicht allein tragen kann und dass eine Konfrontation – ein „crash“ (S. 42), der auch wieder durch eine Paronomasie in die Nähe des Wortes „crush“ (S. 42) gerückt wird – unvermeidbar ist:
[…]
GOTT bin ich wütend
dass mir das nicht früher
ich hätte kein einziges mal sterben müssen
ich crashe seit jahren aber
wann krachen wir in einer unserer
umarmungen erstmals
gegeneinander
im wegstehen wir uns schon längst
wann crasht es
[…](S. 45)
Es crasht wenige Seiten später im zweiten Mutter-Teil. Und nicht nur die Mutter-Kind-Beziehung und das Ich crashen – es crasht auch die Form. Der erste Teil hat noch die Form des Zyklus‘ und legt dadurch nah, dass diese Art der Mutter-Kind-Beziehung ebenfalls in einer zyklischen Wiederholung gefangen ist. Der zweite Mutter-Teil schwebt nun formal zwischen Gedicht und Zyklus. Ob der Crash Mutter und Kind vielleicht auch aus ihrer sich abwärts spiralisierenden Dynamik befreien könnte, bleibt offen. Das Ich jedenfalls fühlt sich unmittelbar danach nicht entladen oder gar erleichtert, sondern kann nur in Form zweier alleinstehender Verse wimmernd fragen: „mutter wer macht mich jetzt / erwachsen“ (S. 69). Es folgt darauf nur noch ein einziger Text, der jedoch ausreicht, um den Band nicht in dieser Traurig- und Hilflosigkeit enden zu lassen. Er adressiert den Leser scheinbar direkt und fordert ihn behutsam auf: „vergessen Sie das blumengießen für / einen moment und die verletzungen“(S. 71).
Zwischen Verzweiflung und Hoffnung liegt nur ein Umblättern, ein Wimpernschlag – der Band entwickelt sich wie das Leben selbst. Elspaß buchstabiert aus, wie im 21. Jahrhundert gedacht, gefühlt und gesprochen wird. Ihre Texte spüren dem Existenzial nach und oszillieren hierbei stetig zwischen Selbstauslöschung und -erhaltung. Immer schwingt sie mit, „die anstrengung / die es kostet zu bleiben“ (S. 57).
Annalena Eßer