Starkes Stimmengewirr

In zwei Neuerscheinungen dieser Tage aus kleineren Verlagen oder Reihen, in Tim Hollands „wir zaudern, wir brennen“ (Rohstoff) und in Tom Bresemanns „von jeglichem wort, das durch den mund des menschen vernewet“ (Klak), wird, lyrisch aggregiert, ein „Wir“ auf unterschiedliche Art beschworen und die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum gestellt, die Frage auch nach Gewalt, Macht und – Utopie.

Tom Bresemanns Band irritiert und fasziniert zunächst. Wer spricht hier? Markige Sprüche tauchen auf, Mittelalterdeutschanleihen und Beschreibungen von nahenden Umwälzungen, Katastrophen oder gar neuen Welten. 

dennoch ist eine gewalt da, die idee,
diese idee hat millionen menschen ergriffen,
und sie reden mit tausend zungen

In welche Apokalypse oder, je nach Umschlagsszenario auch Endzeitutopie sind wir da geraten? Kann der Autor das ernst meinen? Es gibt nur Andeutungen …
Vom Ende her erschließt sich dann der Band als sehr konsequentes Sampling von Zitaten. Das Konzept ist einfach, aber durchweg gelungen: Bresemann kompiliert die Zitate aus Geschichte und Literatur zu einem fast monchromen Epos. Er mäandert sicher durch Sprüche, Prophezeiungen, Anrufungen und einfach auch hunderfach gehörte Phrasen, als spräche nur eine Stimme. So zeigt er in einem Rundumschlag das Panoptikum des menschlichen Wollens, die Vermischung von Individuum und Kollektiv im Perpetuum Mobile der Geschichte und seiner ewig verfehlten Hoffnungen. Ein stolzer Abgesang. So viel war möglich, hier spricht noch einmal stark ein vielstimmiges Subjekt (der Geschichte?), geworfen in Umwälzungen. Aber dies Subjekt ist eben Illusion, es ist nur ein Konglomerat aus Geschichte und Sprache, Repitition… Vieles hat dabei den Sog von Songs.

Die Irritationen bei Tim Holland sind ähnlicher und doch zugleich ganz anderer Natur. Hier weiß man zunächst nicht, wer spricht, weil so viele so unterschiedlich sprechen, aus einer Gruppe heraus oder zumindest in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und einem Kollektiv. Sein „wir“ scheint eins der Wahl (aber welcher?) – im Gegensatz zu Bresemanns geschichtlichem oder schicksalshaftem „wir“ – und zerfällt dann auch schon mal in „Ichs“ oder ein einzelnes Ich. Auch bei Holland ist der unmittelbare lyrische Zugang ohne Beschränkungen gebaut. Jeder einzelne Satz hat fast Popqualitäten. Doch nach und nach baut sich dabei ein vielschichtiges, ja verwirrendes Szenario aus Aufrufen, Nachrufen, Manifesten, Rekapitulationen, Fußnoten, Kommentaren und Bekenntnissen auf. Nicht umsonst ist eins der häufigsten Wörter „gleichzeitig“ – und am Ende gibt es sogar ein Schlagwortregister, so weitgefächert sind die Themen und zum Teil auch die Genregesten. Während also Bresemann Stimmen konglomerisiert, zerschießt das Ich Hollands in Schizzowelten oder Diversität.

Andererseits überrascht dann auch Holland mit einem nahezu ungebrochen beschworenen Kollektiv:

wir hatten gelernt zu unterscheiden, hatten gelernt zu teilen. in arbeitsgemeinschaften übten wir weiterhin gefühle als übung für gefühle.

Das wiederum korrespondiert mit pathetischem Überhang einerseits (die Diamanten sind ein weiteres wiederkehrendes Motiv):

im kern des neptun regnet es diamanten, diese sind zu bergen

– und einer Fähigkeit des Ichs zu sich verheddernder Ironie und Reflexion andererseits. Die bis ins Slapstickhafte reichenden Bemerkungen aus dem Leben mit Beschädigungen, adornitisch gesprochen, und der gewaltige Anspruch der Sprechenden klaffen, ähnlich wie in den Gedichten Monika Rincks, absichtsvoll auseinander (schon im Titel den Zwiespalt einführend). So sehr der Autor auch die Befähigung hat, entropisch fliehende Wortketten beieinander zu halten, so sehr merkt man doch: hier stimmt etwas nicht mit dem Pathos: 

wellen buckeln sich heiß* und weiter wellen von wellen und unter einer welle noch eine welle und drüber und wieder drunter, auch wellen mit einzellern und wellen und wellen von quallen, eine wurzelmundqualle und eine staatsqualle und in der quallenblüte eine quallenschule, prä-adulte rudel von quallen, ein schwarm von quallen, ein volk von quallen, organisiertes wasser im organisierten wasser,

Es schäumt, kurzum, in sich abwechselnden Schriftarten nach und nach über. Da stellt sich auch die Frage: Ist das noch sanfte Ironie, was da mitschwingt – oder schon Ulk?

Kurzer Exkurs zur Frage nach Ulk und Ironie: In den Weiten des beziehungsreichen Humors steht zwischen der ausgreifenden Satire und dem auf eine Pointe zusammengezogenen Witz irgendwo im Nebel der sich verlaufende Ulk, der auf dem Weg zum Quatsch stecken bleibt. Wie bei allen Bastarden hat er den Nachteil der Vermischung und Unklarheit, aber den Vorteil der Anschlussfähigkeit und locker schlenkernden Beweglichkeit. Muss die Satire ihre eigenen Kriterien immer wieder überprüfen und erfüllen, der Witz reißen und genau treffen, so ist der Ulk zwar noch nicht bei der Beliebigkeit des Quatsches angekommen, hat aber bereits seine Lockerheit und, was vielleicht noch wichtiger ist, Ambivalenz: man sagt etwas damit und sagt es doch nicht. Das kann feige, aber eben auch sehr clever und weitsichtig sein: der Ulk legt sich nicht so gern fest, möchte aber schon noch ein bißchen was bedeuten. Damit eignet er sich in dieser Zwischenwelt zwischen Aussage und Klamauk gut auch für die Poesie.

Tim Holland hat das sehr gut verstanden. Was er baut, ist, trotz aller Emphase, immer auch Groteske, Harlekinade, surreale Maskerade – kurzum hat den Schalk im Nacken, den Ulk als Gefahr hinter oder als Telos vor sich. Wenn Bresemann Dystopie aufwirft, um Utopie noch einmal zu bewältigen und zu beschwören, so könnte man umgekehrt von Holland sagen: Er redet utopisch, um dabei bukolisch zu glucksen und die nahende Dystopie ertragen zu können. Dabei dissoziiert seine Rede in tausend kleine Splitter, die zwar von dieser zwackenden pathetischen Anrufung zusammengehalten werden, vom Manifestcharakter und dem luziden Tonfall – aber thematisch auseinander fliegen, virtuos bis plakativ, philosophisch bis lakonisch: „jede verantwortung lehne ich ab. (…) ich schlafe wie raureif vor dem morgen.“

Sinds Nägel die da auf den Kopf sausen und einen großen Wurf festtackern, oder ist das Juckpulver in die Nase? 

Interessant ist, dass sowohl Holland als auch Bresemann eine Sprache verwenden, die starke Narrative und Emotionen aufruft, das genaue Geschehen aber in einer diffusen Ungewissheit belassen, sodass man sich nie sicher ist, in welcher Dystopie man sich einstweilen befindet, klingen doch die Bedrohungen des ganzen Menschengeschlechts immer wieder an. Nichtsdestotrotz schwingt in beiden Bänden ein unverhohlener Überschuss mit, geht ein Leuchten durch die Zeilen, erstaunlich. Der Sound beider Gedichtbände ist also eigenartig hoffnungsvoll. Es dürfte aber klar geworden sein, dass die beiden Lyriker dies angeblich authentische Sprechen sehr ambivalent gestalten, als ein je sorgfältig orchestriertes Stimmengewirr. Die große Frage bleibt, wo emphatisch gesprochen wird, wo ironisch oder distanziert-reflektiert.

Kurzum: sowohl irrlichternde als auch kraftvolle Zeilen, die eine Menge verhandeln… dabei lesen sich beide Bände trotz ihres Anspielungsreichtums erstaunlich süffig, i.e. sind dem Rauschhaften ergeben. Dem gebührt Lob und folgt Gesang – oder Auslegung.

Hendrik Jackson