Steine, Öl und Flüsse (Stauffer und Stifter)

Ousia, das ist ein kühner Titel für ein lyrisches Werk. Gehört es nicht seit spätestens 1945 zum Basiskonsens „skeptischer Generationen“ (H. Schelsky) auch von Lyriker*innen, dass Essenzialismen überholt sind? Es meint Substanz, Wesen, Natur – und zählt zu jenen philosophischen Grundbegriffen, die von den Akteuren der okzidentalen Philosophiegeschichte am häufigsten überstrapaziert wurden. Wer traut sich eine solche programmatische Anspielung noch zu? Es ist die 1978 in Oberösterreich geborene, inzwischen in Wien, Berlin und Moskau lebende Verena Stauffer. Ihr zweiter Gedichtband Ousia folgt auf ihr Romandebüt Orchis (Kremayr & Scheriau, 2018). Dass sie unter anderem Philosophie studierte, relativiert die Verwunderung über ihre Titelwahl. Es geht sicher um eine routinierte Umdeutung oder Anreicherung der „Ousia“, so die Annahme vor Lektürebeginn.

Adalbert Stifters Optieren für das „sanfte Gesetz“ kleiner Naturphänomene und gegen alles Eruptive springt da einem in den Sinn, schon nach wenigen Seiten. Und es fühlt sich wie eine kleine Bestätigung an, gegen Ende des Bandes zu lesen, was wie eine stiftersche Selbstermutigung daherkommt: „Durch den Turmalin das Spiel der Worte sehen“ („Gladiatoren der Rede“). Turmalin heißt bekanntlich eine der sechs Erzählungen in der Sammlung Bunte Steine, die allesamt für den der Poesie eigenen prismatischen Forscherblick auf ein „noch Kleineres und Unbedeutenderes“ stehen sollen. Dem entgegengesetzt ist der Blick des „Unkundigen und Unaufmerksamen“, der auf das Augenfälligere und Reißerische hereinfalle. Was dem Unkundigen klein und unbedeutend ist, ist dem Forscher groß und gut. Letzterer beabsichtige mit seinen Schriften, „ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen“ – und das Diminutiv ist genauso wenig zufällig gesetzt wie bei Stauffer, in deren Gedichten es nur so wimmelt vor Diminutiven und kleinsten Dingen.

Ihre mineralogie- und geologieaffine Poetik des Kleinen in der Hinwendung zur erdgeschichtlich Überdauernden verknüpfen Stauffer und Stifter mit einem Gerechtigkeitsstreben. Das „sanfte Gesetz“ gilt diesem ja auch als eines der „Gerechtigkeit“, des Allgemeinwohls. Der Unterschied ist, dass Stauffer ihren anthropozentrismuskritischen Gerechtigkeitsdiskurs performativ auflöst. Sie macht ihn zum integralen Bestandteil der Gedichte. Stifter dagegen belässt ihn in der „Vorrede“ zu den Bunten Steinen.

Ihre Ichs rufen „Liberté“ und „Egalié“ aus oder machen Ansagen: „Was gebraucht wird: […] Permafrost“ („Pleorama“). Doch sie sind gleichzeitig „Untätige“, „beobachten ihre Beobachtung“, wie im Gedicht „Tetsu-Sen“, das als ein sich selbst über die Schulter schauender, die Beobachtung 1. und 2. Grades verschränkender Text systemtheoretisch mit Niklas Luhmann interpretiert werden könnte. Sie hadern mit dem betrachtenden Leben, das das tätige ausschließt: „Trügen wir unsere Solidaritätskostüme / nicht nur als Verkleidung / dann balancierten wir an umkämpften Grenzen / […] / Stattdessen sitzen wir in unseren Küchen / in unseren Einbauküchen, schreiben Gedichte / über Würmer und Öl, Monde und Gendergerechtigkeit / Gedichte, die uns ersetzen“ („Verkleidung“). Und ihre Naturbetrachtungen sind absolut inklusiv, denn: „Auch die Bohrstation ist Natur, ist Kunst, ist liebenswert – Raffinerien reinigen sich selbst // Drehen sich um. Die Natur ist nicht mehr natürlich / Es sei denn, sie reinigt sich selbst, dreht sich um“.

Das Gedicht „Georama“, dem das Zitat entnommen ist, dürfte inzwischen als prophetisch gelten: Als hätte es geahnt, dass nach seinem Erscheinen der Ölpreis weit ins Minus rutschen wird und Ölhändler draufzahlen müssen, um ihren Rohstoff loszuwerden, weil die Covid-19-bedingte Überproduktion die Kapazitäten der Öllager zu übersteigen droht. Das war ein historischer Zeitpunkt, an dem sich die Raffinerien (und mit ihnen die „angezapfte Erde“ („Panorama“)) umdrehten, um sich selbst zu reinigen. Das Rohbenzin „Naphtha ist Ousia / zu Substanz gepresst“ („Flieder“) – und fand plötzlich nicht mehr so recht einen Abnehmer.

Zwischen Stauffer und Stifter gibt es weitere Gemeinsamkeiten: Da wären die religiös-mystischen Untertöne und die entsprechenden Metaphoriken („Gesteinsschichten […] wie Oblaten“ („Aufstauen“)). Oder die Leichtigkeit, mit der düster-bedrohliche atmosphärische Ästhetiken aufgebaut werden. Darin ist Stauffer eine Virtuosin. Nur die Art, wie sie das tut, ist eine andere: durch kataklystische Serialisierungen von Wortgeographien resp. substantivische Reihenbildungen, listenartig und klangverwandt, wie im Kapitel „Der schwarze Fluss“, in dem sie die Verwendung botanischer und anderer Fachsprachen unter Beweis stellt; durch eine häufige Setzung deiktischer Genitivkonstruktionen (z. B. „Fluss der Krumpe“), mit denen einerseits die wesentliche Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt, in neuer Akzentuierung auftritt und andererseits die lesenden Augen auf den abgelegenen Anschauungsbezirk der sprechenden Ichs kalibriert werden, der größeren kollektiven Gedächtnissen ansonsten unbekannt bliebe.

Wie bei Stifter sind ihre Textlandschaften menschenarm. Wenn Menschen auftauchen, dann vereinzelt und als „Kleinod“. Ein solches ist auch der „Fischer Gerhard“ im gleichnamigen Gedicht: „Ein Fischer am Ufer hockt, Beeren brockt, mit Hirschhaar fliegenfischt / Ein Fischer nichts erwischt […]“. Der Fischer, das ist ein Alter Ego von Stauffers Ichs: „Ich […] angle alte Träume“, „Die alte Freude schwimmt im Fluss, sie dringt vor in alle Klüfte, ich angle ihr nach“ („Schwarzer Fluss“), „Immer stehen / die Angler, mit ihren hohen schlammgrünen Stiefeln, mitten in der eisigen Strömung / fischen, so lange man denken kann, den Sprüchen nach, den kümmernden, den sorgenden / den verbindlichen, doch die Worte sind schneller als Fische, lassen sich nicht fangen / beißen nicht an, flüchten jeden Köder“ („Atmen“). Und wenn Stauffers Angler „nichts erwischen“, erhöht sich die Frequenz, mit der sie Bilder abwechselt und sie ineinander verwebt, verdichtet sich ihr Wortwerk, ufert ihre Gedichtsprache aus, im quantitativen wie qualitativen Sinne, als würde sie die Seite, auf der sie gesetzt ist, überschwemmen wollen, um in ein Prosagedicht überzulaufen – wie im Triptychon „Para dies“.

Es ist zum Teil unmöglich, die „Gehalte der Reden“ Stauffers zusammenzufassen. So nennt sie dann auch eines ihrer Gedichte. Man staunt nur, wie gebannt man darin versinken kann. Und wieder aufatmet, wenn ihre Gedichte eine klassischere Form annehmen, aufklaren, den Überblick wahren, sich reimen: „Wer hat gesehen und niemals berührt / Eine, die immer das Feuer geschürt / Ohne Hülle keine Haut, ohne Grenze kein Staub / Ohne Kapsel keine Frucht, Berührung als Raub“ („Raub“). Das ist eine weitere Qualität ihrer Texte: dass sie sich entlang einer Sinuskurve bewegen und nicht nur wahnsinnige Spannung generieren, sondern auch Entspannung.

Warum also „Ousia“ im Titel? Hat es etwas mit der „Urpflanze“ und der „uranfänglichen Erde“ zu tun, die auch vorkommen? Nicht nur. Viel näher ist „Ousia“ an dem klangverwandten englischen „oozing“. Stephen Fry spricht in einer BBC-Radiorede über Sprachpedanterie von den Vorzügen einer „language that oozes like a lake of lava“, einer post-eruptiven Sprache, die wie ein Lavafluss trieft. Verena Stauffers Ousia erinnert daran, dass sich Weltliches, ausnahmslos, in einem unbedingten Ausdrucksstreben befindet, nach außen dringen und sich exprimieren will.

Alexandru Bulucz


Diese Rezension erschien zuerst in den manuskripten Nr. 228, vielen Dank an die Redaktion und den Autor