Sterblichkeit als Trost (über „nach eden“ von Daniela Seel)

„Am Morgen danke ich meinen Augen
dafür, dass sie mich vieles nicht sehen lassen.“

Der etymologische Ursprung des Paradies, erfährt man in Daniela Seels Gedichtband „nach eden“, ist das awestische pairi daēza, eine eingezäunte Fläche. Die Entstehungsgeschichte des Garten Eden ist eine Geschichte der menschlichen Grausamkeit. Denn Sklaven mussten unter menschenunwürdigen Bedingungen Mauern errichten. War es diese Grausamkeit, die in der biblischen Geschichte vom Paradies ausgeschlossen werden sollte? Und wer überhaupt „hat die Mauern um Eden gebaut“?
Diese Mauern, deren Steine die Grausamkeit bezeugen mit der sie errichtet worden sind. Ausgangspunkt von Seels Auseinandersetzung mit diesem biblischen Garten ist die Frage, wie weibliches Verhalten sanktioniert wird. Wer hat das Recht, etwas zu benennen? Ist die Geschichte von Eva nicht auch die Geschichte der Unterdrückung von weiblichem Wissen?
Daniela Seels Leseart folgend trifft Eva, als sie in den Apfel beißt, die Entscheidung Verantwortung zu übernehmen. „Eva wusste, was sie tat, als sie aß.“

Sie sagte Nein zum Paradies und Ja zu Schmerz und Verantwortung. Aber warum sollte
man das tun? Ist Unmündigkeit nicht ein geringer Preis für ewiges Leben in ewigem
Wohlstand?
Eva beantwortet diese Frage mit Nein und bricht auf zu einem „Ausgang des Menschen in die Zeit. In Sterblichkeit.“ Sie erkennt, dass der Versuch die Dinge, die Sphären klar zu teilen und voneinander abzusondern, nur mit Gewalt möglich ist. Dass diese Ordnung grundsätzlich fehl geht, weil sie ausklammert und ausschließt, wie viel Verantwortung, Wissen und Erkenntnis mit Sterben zu tun hat, und wie viel einerseits ausgegrenzt, andererseits umhegt und eingezäunt bleibt aus dem unbewussten Drang, sich gerade diese Tatsache der Sterblichkeit vom Leib zu halten.

Seels Langgedicht ist ein Ausbruch, ein radikales Infragestellen dieses menschlichen
Agierens zwischen „Möglichkeitssinn und Machbarkeitswahn“. Man kann die Gedichte als Plädoyer verstehen, sich der Tatsache zu stellen, dass wir alle „verwachsen ins Sterben“ sind. Vieles müsste anders gedacht und hinterfragt werden vor diesem Hintergrund. Es wäre ein Denken, das sich an Eva orientiert. Ihr Mündigkeit zuspricht und wie sie die Verantwortung für das eigene Handeln anerkennt:

Könnte ich meine Grausamkeit verlernen,
indem ich ins Sterben einkehre, nicht verdammt,
sondern zum Sterben begabt. Ein geräumiges,
gastliches Sterben, das alles Vergängliche
als verwandt denken kann. Das mich meint
von Eva her und um Grausamkeit weiß,
weil sie sich für Erkenntnis entscheidet.
Für Wehe und Weh. Für den Auszug aus Eden.
Für Verletzlichkeit […]

Daraus erwüchse eine Haltung, die die Trauer nicht ausschließt, sondern Sterblichkeit und  die Nähe von Geburt und Tod mitdenkt.
„Welche Folgen haben die Umstände einer Geburt für ein Kind? Wie wenig Wissenschaft noch davon weiß.“ In „nach eden“ treffen Reime auf Essayistisches. Persönliches auf Allgemeines.
Geschichtliches und Mythisches auf Alltagsbeobachtungen. Es geht darum, wie Wale Trauer teilen und was Kinder fragen. Wie sich Einzelheiten der eigenen Familiengeschichte wiederholen.

Es ist ein Langgedicht, das streckenweise wie eine Erzählung funktioniert. Dabei gibt es verschiedene Stränge, die unterschiedlichen Formen folgen. Mal sind die Verse poetisch verdichtet, ein anderes Mal essayistisch, mal lautmalerisch und hermetisch. „nach eden“ ist eine Reflexion über Sterblichkeit und Grausamkeit. Aber auch ein Klagegesang. Eine Kulturgeschichte, die das Ich nicht ausspart. Die sich eingesteht, selbst Teil der Grausamkeit zu sein. Ein Band, der Sterblichkeit als etwas Tröstliches betrachtet. Allein das ist ein revolutionärer Gedanke.

Menschliche Grausamkeit erleidet das lyrische Ich selbst bei einer Fehlgeburt. Auf solche, sehr harten Passagen, folgt häufig die Anrufung des Walgesichts, hier erlaubt sich Daniela Seel weiterhin hermetisch zu schreiben. Eigentlich, sagte sie vor einiger Zeit im Rahmen der Dortmunder Lyrikgespräche, würde sie am liebsten ausschließlich hermetische Gedichte schreiben. Bei ihr bedeutet das jedoch keinen Ausschluss, sondern vielmehr das Festhalten an einer Möglichkeit, Lesearten nicht von vornherein vorzugeben und einzuschränken, eben keine Zäune um den Text zu ziehen, ihn offen zu lassen und die Verantwortung für das, was ankommt, bei der Leserin zu belassen.
In diesem Band nun, der von Eva ausgeht, sich an ihr orientiert, hat Daniela Seel eine
Balance gewählt zwischen Offenheit und Klarheit. Bestenfalls weiß die Leserin am Ende der Lektüre nicht nur besser, warum Eva tat was sie tat, sondern begreift zudem, ähnlich wie das lyrische Ich:

Ich habe, was ich brauche.

 

Elke Engelhardt