– ein exegetischer kommentar zu Michael Lentz ́ „Chora“ –
der kosmos ist eine zu gewaltige textur, als dass ein reim sich auf sie machen ließe – es sei denn, jemand enträtselte die semantischen nähte und fäden, läse die falten und sprünge im innern der kosmischen schale und fände wieder – den urtext. dieser ist das ewige aleph-beth, nachschöpfung im poetischen spiegel eines postdemiurgischen ichs. tiqqun!
„OGOTT / oGOtt passiertwat mit mir?/ mit mir oGOtt passiert was. / passiertwat / oGOtt / mit mir? / oGOtt / was mit mir passiert. / oGOtt mit mir passiertwat.
dabei ist der band überaus anspielungsreich: so lassen sich unter anderem bezüge zu Celans krügen aus „Mohn und Gedächtnis“ (Lentz: „der krug ist nicht gefäß / weil er her / gestellt wurde“), Rilkes Sonetten an Orpheus (Lentz: „das undurchlässige das uns verlassen verschmäht“) und den Duineser Elegien („die heilige insel ist der schrecken anfang“) finden; Hölderlin („ende elysium o holder holler// du bedeckender flecken“) wird ebenso in die zeilen gelautet wie die Bibel: „kainer und aber“, „am anfang das war“. alles immer unmittelbar, um dann doch wieder zu verschwimmen – oder auch umgekehrt: sinn erscheint unerwartet in einer andeutung – so etwa bei dem Sloterdijk persiflierenden: „du muss dein eben / räendern“. sinn wird beim lautdichter Lentz (die texte müssen laut gelesen werden) eben evoziert – hierin ähnlich der lautsemantischen lyrik von Dagmara Kraus („kummerang“), mit der Lentz ́ gedichte nicht wenig gemeinsam haben.
im letzten grunde geht es aber um die poetische heilung der `shvirat-ha kelim ́ – des zerbrechens der mystischen gefäße zu beginn der schöpfung:
„der mund/ das alphabet/ schafft gott und gott den aion/ der aion den kosmos der kosmos die zeit/ die zeit das werden das werden schafft mich aus lauter/ quellen schaffe ich nur die abschrift der tradition// […] das werden das werden schafft mich aus lauter quelle tikk/ un takk ich nur die abschrift tradition/ die fehler rücken tikkun takkun/ vor am anfang war das / beth fiel aus/ dem mund.“
der geschaffene mund, der zu sprechen beginnt, setzt das urlauten des göttlichen mundes fort im SEIN (beth), das behausung ist (beth/baith) wie sprache. der dichter als nachschaffender demiurg arbeitet folgerichtig als moderner mystiker mit den mitteln kabbalistischer gematria in anspielungsdistanz.
so bildet sich in Lentz ́ gedichten ein sinn- und anspielungsgeflecht, das sich lebensbaumhaft verzweigt, wird das ich zum spiegel der welt: der geburt („dies ist chora die nacht der mensch hängt einem entgegen… die krone („keter“) fällt durch das leere haupt“) folgen erfahrungen, reiche lektüren, reflexionen – und am ende eben das „to-t“, im sinne des mystischen anagramms:
chora
hora
ora
ra
a
ara
aora
ahora
achora
wird die obere reihe bezeichnet durch chora/amorpher raum, hora/zeit, ora/bete, ra/böse, bildet das a/aleph die spiegelachse, wobei die obere hälfte gemäß kabbalistischer lehre der vorderseite des ez chaijm, des lebensbaums entspräche, die untere hälfte aber – den qlipoth, den schalen des todes? handelt es sich um das alpha privativum, das emeth/wahrheit (leben) zu meth (tod), oder um das schöpferische aleph, das meth (tod) zu emeth/wahrheit (leben) macht? gespiegelte spiegelung, gut und böse, leben, wahrheit und tod versammelt um den urlaut des aleph-alpha in kosmogoner urmetrie.
das buch endet schließlich mit der (elften) sephira erkenntnis/da ́at – und das taw als letzter buchstabe des hebräischen alphabets setzt den schlusspunkt. doch poesis beginnt immer wieder neu, formt wieder chora; tiqqun ist nur die afinale berichtigung der ursprünglichen fehler in der poetischen matrix der schöpfung im unendlichen poetischen prozess.
Christian Wollek