»versenk dich in die bewegung des wassers«

Anmerkung des Herausgebers: 

Dies ist der Auszug aus einem Email-Wechsel, der ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen war. Christian Metz hat ihn mir auf Anfrage ohne eigene nachträgliche Redaktion für eine Publikation überlassen.
Ich habe mich zur Herausgabe entschlossen, da er die von Verena Stauffer in ihrem Pecha Kucha angestoßene Auseinandersetzung einerseits erweitert, andererseits mit dieser zum Teil in reziprokem Einflussverhältnis stand (Christian Metz  hatte dabei von dem Inhalt des Pecha Kucha keine Kenntnis)

 

Lieber Christian Metz

ich schreibe dich an als „König“ des Close-readings, in der Hoffnung, von dir Aufhellung zu erfahren. oft kommen wir in der Lyrikkritikakademie auf dich zurück und viele sind zurecht begeistert von deinen intensiven Lesarten. wir hatten ja auch schon einen Disput in der Akademie bezüglich der Kritik von Nico Bleutge.

nun hat Verena Stauffer sich den Anfang von Bleutges Band vorgenommen, sie hat dann noch weiter dran gearbeitet und daraus eine ziemlich entschiedene Kritik gebastelt, die sie auch in der Akademie vorgestellt hat. Peter Geist war begeistert, ich fand es auch sehr treffend, aber inzwischen nagen mich die Zweifel. deshalb wende ich mich an dich, an wen, wenn nicht an dich? du kennst seine Sachen sehr gut.

hier einmal der Anfang, um den es (auch) geht:

„versenk dich in die bewegung des wassers

mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung

ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen

ein zwischending aus gas und flüssigkeit

das die welt umpflügte“

also nun, vielleicht kannst du mir folgende Fragen dazu beantworten:

1) wieso jenes Licht? welches? das des Meeres? und was ist dann DEM LICHT. welche Lichter mischen sich da und wieso ist das eine DAS Licht. das Licht der Erkenntnis? das wäre ein ziemlich feiste Metapher. wenn keine Metapher ist es, meinem Geschmack nach, reichlich unpräzise. Wohlfühl-Dämpfe, angenehme Ungenauigkeit.

wurde nicht gerade Bleutge für seine Präzision gelobt? hm? nun ja, sagen wir es so, Präzision ist meist sehr prosaisch. mein erster Verdacht schon hier: vielleicht breitet er eher eine angenehme Ungenauigkeit aus, in der dann Namedroppping von vermeintlichen Beobachtungen auf einmal ungemein präzis wirken. Fake-Präzision?

2) aber lesen wir möglichst unbefangen weiter: erzeugt (!!aber da schon stolper ich, wie unsensibel. das Licht, ein Zeug? ok, zeugen, erzeugen, gebären. hmmm aber für mich steckt in erzeugen etwas Handwerkliches, es passt nicht, aber dazu später mehr)

„ihre Verbindung ein anderes Licht“ – also um was geht es, um eine Super-Metapher auf das Erkennen? dann doch reichlich überladen. oder darum, dass hier zwei Lichtquellen ihr Licht vermischen, dann doch reichlich unpräzis (welches Licht, woher, wohin, wie, farbig= etc) – aufgeblasen in der Ungenauigkeit

3) nun springt er: „verwandtschaft von flucht und begreifen“. wenn es vorher mit dem Licht eine Metapher sein sollte, erschließt sich mir das Begreifen, dann steht aber die Flucht ein bißchen unbeholfen rum. fluchtlinien, na klar, aber was haben die mit Licht, das auf das Meer fällt, zu tun? (handelt sich ja wohl um den Bosporus). ja, klingt gut und weit, aber steckt da auch irgendeine Substanz drin? oder ist das nur „freies“ Aufrufen von Assoziationen? oder gar, wie Kritiken andeuteten: poetische Metamorphosen? nur: dafür gibt es sich zu präzise, zu wenig traumhaft, zu konstatierend. zu guter letzt zu uneingebettet. und wieso Flucht? auf mich wirkt es nur erratisch.

(Verena schreibt dazu: eristischer Syllogismus)

4) „ein zwischending“ (schon wieder aua!) „aus gas und flüssigkeit“. ja herrje, was soll das denn sein? ein Ding, das weder flüssig ist noch verdunstet?

ich begreife langsam, dass ich die Flucht ergreifen will.

5) „das die welt umpflügt“  – ok, das ding da pflügt die Welt um. da es ja nicht das Dampferbild ist, das das Meer durchpflügt – kann es sich nur um eine verkrachte Metapher handeln, eine absichtliche Katachrese. aber wozu?

wir haben irgendwelche zwei diffusen Lichter und die sind ein echtes Ding der Gedanken, die die Welt umpflügen? mal ehrlich, worum gehts? oder sind das wirklich nur Vernebelungsstrategien? Unbeholfenheiten? weiter unter kommen dann ja ein paar schlichtere Beobachtungen. aber gehen die über solide Sätze einer guten Prosaerzählung hinaus? wo ist das Lyrische, wenn zwischen verhauen und bieder-brav kein surplus zu erkennen ist.

ich schreibe dir, weil ich nicht ungerecht sein will. ich möchte wissen, was dran ist. und die vielen Preise müssten ja eine Grundlage haben. das ist der vielbepriesene Anfang eines viel gelobten Buches. vielleicht kannst du mir weiterhelfen, vielleicht wird daraus eine interessante Auseinandersetzung um Stand und Wesen der zeitgenössischen Lyrik? was meinst du? ich habe ja inzwischen meine Problem mit Polemik: man kann für so vieles, und aus guten Gründen, Verständnis entwickeln. aber Bleutge treibt mich zurück ins Polemische: ist es das, wofür wir angetreten sind? aber bevor wir grundsätzlich werden (das dann im nächsten Brief, wenn du Zeit hast) – erst einmal wirklich Zeile um Zeile, vielleicht kannst du mir die Augen öffnen?

ganz herzlich

Hendrik

 

 

Lieber Hendrik,

(…)

Bleutge: ich habe mich mal dran gesetzt. Ob du etwas damit anfangen kannst?

„versenk dich in die bewegung des wassers

mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung

ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen

ein zwischending aus gas und flüssigkeit

das die welt umpflügte“

1.

Als entscheidend für diese fünf Verse sehe ich den Tempuswechsel an, welcher den ersten Vers von den vier folgenden trennt. Erster Vers setzt voll auf den Präsenseffekt. Die anderen vier beschreiben eine vom ersten Vers unabhängige Szene.

„versenk dich in die bewegung des wassers“ ist also die performative Aufforderung an die Leser jetzt. Eine traditionsreiche Figur der Immersion, die zugleich den Rhythmus der Wellen mit dem des Verse gleichschaltet: Das linde Wellenschlagen in der Sprachführung des ersten Verses passt sehr gut zu dieser Figur. Eintauchen in die Welt der Literatur. Kennen wir konzeptuell aus der Romantik: Neoromantik würde ich also sagen, die aber nicht abgedroschen ist: inception (auch als Film), arbeiten mit solcher Metaphorik und solcher Rahmung.

Ich habe den Text nicht vor mir, aber wenn ich mich richtig erinnere, kommt dieser Vers oder kommen andere einzelne Verse im Präsens wiederholt vor. Die erste Zeile hat sonst aber nichts mit dem ab V. 2 beginnenden Bild zu tun. Außer, dass sie halt sagt: tauch da jetzt ein. Oder schöner eigentlich: versenk dich, weil in diesem ver-senken, das leicht Schräge, das Schiefgehen schon drin ist (wie auch der vers, aber naja)

2.

Das Bild, in das man jetzt eintaucht, ist eine Welt-Ursprungs-Phantasie. Klar, sie liegt in der Vergangenheit (mischte, erzeugte). Weltentstehung also. Das Kluge ist: da gibt’s ja gerade noch kein Wasser: man versenkt sich also (vom rahmenden Bild des Wassers aus) in ein Bild, in dem jedes Wasser und damit auch dezidiert Leben ausgeschlossen ist. Wo kein Leben, da nur Dinge. Das heißt eigentlich erst nur Teilchen: Lichtpartikel.

Wenn man sich anschaut, was Physiker über solche „Urknall-Phantasien“ schreiben, dann sind die sich über einen Ablauf einig: Es wurde dunkel direkt nach dem Urknall. Und doch gab es ja lichtspendende Quellen (Sonnen, whatever), deren Licht aber verschluckt wird, gleichsam für sich und getrennt bleibt.

Jetzt ist diese Phantasie hier von unserer Welt (oder gar der Erde ?) aus gedacht. Auch das finde ich nicht dumm, diese Welt zum Standpunkt der Perspektive zu ernennen. Deshalb gibt es „das Licht“ und eben auch „die (unsere) Welt: Deshalb kann sich aber auch im Rückblick „jenes Licht“, das von der Dunkelheit nach dem Urknall abgeschirmt war, mit „dem Licht“ vermischen. Beide Lichtarten tauchen ineinander ein – wie der Leser in das Medium Wasser. Ich würde sagen: keine Metapher, sondern Beschreibung eines physikalischen Phantasmas (Modells?), und zwar präzise. Obwohl halt „Beobachtung“ nicht geht, weil Urknall, ist das doch auch eine präzise Beobachtung.

Man nennt solche Vermischungen von Lichtwellen und Lichtwellen (oder auch Teilchen und Teilchen) Diffraktion: Bei Lichtbeugungen vereinen sich die Lichtstrahlen nicht, sondern bleiben jeder für sich bestehen, sie interferieren und erzeugen doch zugleich ein Drittes: ich mag also, dass Ver-senken aus V.1 in Ver-bindung wieder aufgenommen wird. Weil es zeigt, dass das Binden klappt und eben auch nicht. So hat man drei Lichtarten: jenes Licht, das Licht, das aus der Diffraktion sich ergebende „andere Licht“.

Eristischer Syllogismus finde ich übrigens großartig an dieser Stelle. Ja, aus diesem Widerstreit aus dem Nichts, weil es ein logisches Davor nicht gibt, muss Welt wohl entstanden sein.  So könnts doch gehen. Und ich würde das also überhaupt nicht gegen den Text verwenden. Sondern sagen: eristischer Syllogismus – genau das führen die Verse gekonnt als Ursprungs-Phantasma vor. Toller Kommentar zum Materialzustand unserer Welt – oder?

3.

Ich kann also auch etwas mit dem Erzeugen anfangen: Sogar mehr als mit „zeugen“ pur. Darüber hatte ich erst nachgedacht, ob „zeugen“ nicht reichen würde. Aber gerade das Fertigen, das Machen mit dem Zeug, mit dem Material, mit der Materie – gebt dem Bild eine Nuance, die mir gefällt. Denn aus Licht(teilchen) entsteht ja tatsächlich in diesem Urknallfall erst Materie.

Dass in dieser Phantasie mit dem „er“ ein männliches Prinzip waltet, das man traditionell (und schon klar falscher Weise) mit der Aktivität verbindet, wird vom weiblichen „ihre“ als nächstem Wort auch aufgenommen.

4.

Jetzt der Sprung zur Metaebene: „verwandtschaft von flucht und begreifen“ – das finde ich als das Fliehen von einem gerade sich zusammenballenden Teilchenmaterial, als Anordnen des Teilchenmaterials (wie du es ja mit der Fluchtlinie richtig sagst) und als Anordnen als Vorstufe/Teil des Begreifens ebenfalls konzise. Gerade weil in der Flucht die Ambivalenz angelegt ist von Ordnung und Auflösung der Ordnung (quasi erste Entropie, die einsetzt, Verteilung der Teilchen im Raum), finde ich das konzise. In diesem Urbildungs-Moment erweist sich etwas als verwandt, was sich sonst ausschließt.

Zugleich ist der Riss – weg vom Bild, hin zum Kommentar – sicher gesetzt. Denn er wird jetzt zugleich noch einmal verstärkt: durch den Wechsel im Sprachregister: hin zum hässlich wirkenden Wort „Zwischending“. Das hier aber passt, weil wir es ja mit der Bildung von Materie aus Material und damit mit dem „Ding“ zu tun haben. Die Aggregatzustände (gasförmig, flüssig, aber eben kein Wasser!) passen auch zum Weltentstehungs-Phantasma. So stellt sich das die Physik doch konzeptuell vor – oder? Dass sich beides – wie zwei Medien (Leser in Verswelle) ineinander versenkt. Die Strukturanalogie zur erste Zeile bleibt hier weiter bestehen, nur das wir da jetzt halt fest (Schrift) und Geist (Leser) haben, die sich verschränken.

(Weiterhin nirgendwo Bosporus, kein Meer oder so. Das bin ich alles ja auch los, wenn ich den Zeitsprung zw. V1 und dem Rest ernst nehme)

5.

Bleibt noch das Umpflügen der Welt, also tatsächlich mehr als das Umpflügen der Erde, die es ja noch nicht gibt. Auch das finde ich einen sehr guten Move: dass hier eben diese unsere Welt (wie sie sich konstituiert) bestellt wird, wie ein Acker, den es noch gar gibt. Aber damit eben so umgeschichtet wird, dass die Materie fruchtbar wird, für das folgende Wachstum. Und zugleich ist da jetzt mit der Lichtteilchen-Vermischung und Erzeugung eben gerade nicht mehr einfach nur Nichts. Sondern eben schon Material, das man bearbeiten und beackern kann. Mir leuchtet’s ein.

So würde ich erst einmal einsteigen. Ohne damit schon was über die Qualität des Textes insgesamt sagen zu wollen und zu können. Man müsste schauen, wie es mit der Setzung dieser Brüche weiter geht. Mit dem Unterbrechen der Bilder, mit dem Performativen. Aber vielleicht reicht das für den ersten Eindruck dennoch?

 

 

Lieber Christian Metz

ich danke Dir für diese wirklich großartige Demonstration deines Geschicks, Verse mit Bedeutung aufzuladen oder Implizites auszulesen. ich sage das nicht ironisch: solche Lesarten sind es, die die Literatur geradezu aus der Taufe heben, sie lebendig machen und glühen lassen.

und auch dies muss ich zugeben: ich fühlte mich einen Tag lang regelrecht ertappt bei einem unverzeihlichen Fehler in der Lektüre. ich scholt meine Selbstsicherheit – ja, dies Präteritum, dachte ich, hätte ich überlesen – und darauf gründete all mein Unverständnis.

ich war auch froh: nun klärte sich etwas, nun bekam ich ja meinen Bleutge-Zugang – und doch überzeugte mich der Anfang nicht, auch nicht und erst Recht nicht mit deiner Interpretation. ich versuchte mir vorzuhalten, ich sei nun voreingenommen, wolle unbedingt meinen Standpunkt verteidigen – und in der Tat machte ich in mir einen starken Widerwillen gegen eine gutmütige Lesart aus und fragte mich, wo jener eigentlich herkommt. wirklich aus dem Text? wir werden hoffentlich sehen, ich nehme mir vor, mir Mühe zu geben. also das Präteritum. 

ich glaube an dieser Stelle müssen wir das Experiment des super-close-readings doch verlassen. es ist ja so, dass man sich nicht über alles intuitive Verstehen, das auch noch die begründeten Werturteile mit unterlegt, jederzeit Rechenschaft ablegen kann.

also durchforschte ich den Rest des Textes nach diesem Präteritum? warum hatte ich es überlesen? nun ist es so, dass es mehrere plötzliche Präteritumstellen gibt – und definitiv nicht alle sind einem vermeintlichen Urknall zuzuschreiben, ja nicht einmal alle einem weiter gedachte Evolutionsprozess: „die kanalrouten waren den wellen voraus // leichte fahrzeuge bahnten ihnen den weg“. 

ich denke nicht, dass Bleutge hier eine Weltentstehungsgeschichte aufzieht (aber ohne den ganzen Text vor sich zu haben, konnte das so aussehen, ja!) – die Präteritumeinschübe kommen unregelmäßig und unvermutet. ich denke vielmehr, dass Bleutge eine Gegenwart zeichnen will, der die Vergangenheiten eingeschrieben sind. 

ich finde das übrigens eine sehr schöne Idee, so vorzugehen und permanent die (Sprach- und Historie-)Schichten in den Dingen aufzuzeigen. so hatte ich ihn immer gelesen – und würde nach der Lektüre des ganzen Textes immer noch so lesen.

ich würde trotzdem sagen: mit deiner Interpretation überfrachtest du Bleutges Text – und da würde ich ihn sogar vor dir „in Schutz“ nehmen. diesen Urknall in zwei Zeilen aufzurufen, das würde (zu Recht) den Text überfordern – und nichts davon steht ja auch da, es steht nur: „mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung ein anderes licht“

das kann nun wirklich alles Mögliche bedeuten, meinetwegen auch den Urknall, aber als mehr als eine untergründige Lesartassoziation wäre das hier nicht zu markieren.

ich finde diese Vagheit in dem Bleutgeschen Textbeginn weiterhin sehr unbefriedigend. wenn er wirklich den Urknall aufrufen wollte, müsste er sehr viel genauer werden, das würde das Gedicht sprengen. oder er müsste es benennen – dann wüsste jeder, dass diese seine Aussagen doch recht pauschal sind. ja, ok Licht mischt sich. oh! ah! 

nein ehrlich, das würde rein gar nichts aussagen über den Urknall. genau so könnte man ja einen kaum schulbuchfähigen Satz wie „Die Erde ist durch Abkühlung entstanden“ für ungemein präzise halten, wenn man ihm einen Rattenschwanz von Erklärungen unterlegt.

entschuldige meine zuspitzende Formulierung, sie soll illustrieren, nicht abwerten. 

mit anderen Worten: Bleutge hält es vage. es sind verschwommene Assoziationen, ein ungefähres, meditatives Nachdenken über Fragen wie: wo, kommen wir her? was ist das? inwiefern ist hier noch etwas von der Vergangenheit zu finden? welche Prozesse sind das? wie fantastisch wirkte sich Abkühlung aus, wie veränderte sie die Welt?

aber genau diese Fragen stellt er nicht, legt sie nicht einmal wirklich nahe. er bleibt distanziert und pauschal, aber er simuliert Präzision („jener“, „das“). das ist es, was mich ärgert an den Zeilen. fake-Beobachtungen. 

und doch: in dem Einspruch gegen deine Überbeanspruchung von Kontextwissen und auch im Einspruch gegen seine Lobhudler, die das Nebulöse, das seine Verse zeichnet, als Präzision umdeuten, gefallen mir plötzlich die Zeilen die an den Eingangstext anschließen (da, wo es dann tatsächlich konkreter wird).

ja, im ständigen Widersprechen, nämlich an dieser Stelle nicht nur dir, sondern auch mir in dem, was ich bisher über Bleutge dachte, mach ich erst einmal eine Kehre und denke: aber das ist doch eigentlich ganz wunderbar: eine aus Meditationen aufsteigende Spekulations-, Assoziations- und Erinnerungswelt, die Wort für Wort, aber in Blickdistanz, abschreitet, was in den Oberflächen eingelagert ist. 

und was mir bisher Hauptkritikpunkt war: dass man bei Bleutges Gedichten keine Subjekte (zum vermeintlich angesprochenen Leser komme ich noch), keine Geschichten, keine konkrete Geschichte (des Menschen), keine großen Reflexionen, keine Gesellschaft, keine Erkenntnisse, kaum Sprachreflexion, keine Verflechtungen, kaum Metaphern (außer verkrachten Katachresen), kaum Bewegung, keine Dialoge findet, also nur „allgemeines assoziatives Gewaber“, wie ich es vielleicht ausgedrückt hätte, gerät ihm plötzlich zum Vorteil. warum sich nicht einmal völlig rausnehmen, in einen leicht entrückten Raum entschweben, der allzu viel konkretes Menschtum nicht aushielte, der fern des Geschreis und der Überfrachtung gerade Minimalstes wieder zu seinem Recht kommen ließe und doch dabei den ganz großen Bogen spannte, in dem eben hier und da, in freischwebender Annäherung, auch die großen Dinge von Entstehen, Vergehen und Erinnern angespielt werden. nur angespielt, nicht mehr! – um das Zarte daran, das Zweifelhafte auch, nicht zu erdrücken und echter poetischer Empfindung Raum zu geben.

das ist das Schöne an Kritik – nur ein, zwei Schrauben anders eingestellt – und schon ändert sich die ganze Beleuchtung und andere Schatten werden geworfen. ja, genau so etwas in ungefähr hatte ich immer von Bleutge erwartet und vielleicht ärgert einen nichts so, wie das, was einem eigentlich nahe ist. 

aber löst er es ein? am Anfang für mich nicht. ich kann auch deine wunderbaren Erklärungen nicht mit seinen Zeilen in Übereinstimmung bringen – und wenn dann nur in einer Pauschalität, der ich nicht viel abgewinnen kann. aber ich bin nun eingestimmt! ich folge ihm, wenigstens einen Moment lang lieber und wenn es dann durch das Packeis geht, kommt eine wirklich großartige Zeile: „leichte fahrzeuge bahnten ihnen den weg durch das packeis // wollten die schönheit des neuen kontinents abwarten“. 

die erste Zeile ist angenehm schlicht und deutlich, die zweite von umwerfender Grandezza. die feine Anspielung auf Bergsons Zucker – grandios. doch halt. ich rücke meinen Blick nochmal zurück: leichte fahrzeuge (…) wollten die schönheit abwarten? leider doch verhauen. und so geht es mir oft. wo die Gedichte nicht abstrakt-vage („wo sich alles aus masse in kraft verwandelt“, „ein zwischending aus gas und flüssigkeit“) sind, sind sie entweder recht banal – oder verhauen ihre Metaphern. mal verkracht („erkundungsgeschwader für müde strahlen“ – was soll das sein?), mal leicht verschwiemelt („gespür für veränderte routen“ der Aufwand hier, sich das mühselig vorstellen zu müssen und der Gewinn, der das Begreifen beschert, stehen in keinem guten Verhältnis), dann wieder eher abstrakt („als wollten sie die zeit streuen“ – wie macht man das?). auch die Art und Weise, Dinge sozusagen in leicht spätexpressionistischen Anflügen zu personalisieren und Tätigkeiten ausführen zu lassen, überzeugt mich nicht recht. 

damit wären wir beim Anfang: wer wird denn angesprochen? ich glaube nicht der Leser, sondern jedes „selbst“, man kann diesem je-selbst folgen: durch eine „Tür“ zum Beispiel, man kann auch versuchen „wie der Tonsand zu denken“. es richtet sich an einen selbst wie in einer Meditationssitzung – und das ist auch die Kraft der Bleutgeschen Verse: stell dir dies vor, stell dir das vor, träume hiervon und erinnere das und schau, was es alles noch so gab und was damit zusammenhängt. das klingt jetzt böse, ist aber nicht so gemeint: es sind sehr viel anregende Zeilen darunter, die ganze Stimmung ist angenehm. aber ich halte es nicht mehr als 10 Zeilen aus, ohne abzuschweifen. und hier liegt das Manko sicherlich auch bei mir: ich war auch immer schon schlecht im Meditieren, ich konnte auch dort nie folgen, ich brauche, um konzentriert folgen zu können (und sei es nur mir selbst oder dem Atem) geistiges Futter, Substanz. ob mein Mangel nun auch der Bleutges ist, lasse ich gern dahingestellt sein. ich finde Gedichte als Meditation haben ihre Berechtigung, unbedingt – aber … aber, ja was? folgt aus der Kritik oder Feststellung eines  Mangels die Notwendigkeit, zu formulieren, was Dichtung machen soll? ich möchte mich (und andere) vorerst von dieser Schlussfolgerung suspendieren. (i would prefer not to)

was meinst du?

mit herzlichsten Wünschen,

Hendrik 

 

 

Nein, nein, nein, nein – mehrfach beim Lesen deiner Argumente, lieber Hendrik, habe ich den Kopf geschüttelt. Lesend dauert das seine Weile, aber würde man sich das im Zeitraffer anschauen, würde das Aussehen wie auf nem Heavy Metal-Konzert. Heißt: unsere Sichtweisen gehen weit auseinander. Gut so. Interessant so. Wie erkläre ich, wo ich damit bin?

Ich habe Bleutges Gedichtband vor zwei Jahren rezensiert, ihn hochgelobt. Und das mache ich eigentlich immer nur, wenn ich zuvor lange und ausführlich gelesen habe. Umso überraschter war ich, als ich jetzt, nachdem ich aus Göttingen nachhause kam, den Bleutgeband aus dem Regal gezogen habe: keine einzige Eintragung von mir. Kritzelfrei. Lektüreleer.

Dabei war ich mir sicher, dass ich den Band über Wochen mit mir herumgetragen hatte. Nur eingebildete Genauigkeit, dachte ich? Aber dann habe ich daran gedacht, dass ich den Band in den USA gelesen hatte. Da hat mir die F.A.Z. keine Bücher geschickt. Ich hatte nur ein PDF, nur das Typoskript, also eine lose Blattsammlung. Und die habe ich mit mir herumgetragen. Um sie dann nachträglich, nachdem ich geschrieben hatte, einzuscannen, gemeinsam mit allen Aufzeichnungen, die ich dazu gemacht hatte.

Das sind neben den bearbeiteten Texten so 15 Seiten mit Notizen, aus denen ich dann Stück für Stück meinen Artikel kondensiere. Viel Material, wenig Beitrag. Ich bin ja auch kein richtiger Literaturkritiker, niemand wartet da auf meine Artikel, ich muss sie auch nicht in einer Redaktionskonferenz durchkämpfen. Ich lese quasi außer Konkurrenz, brauche viel zu lang, versuche aber nur dann zu schreiben, wenn ich wirklich nachgedacht, eingeordnet, klare Urteilsformen gefunden habe.

Warum ich das erzähle? Weil ich mich nach deiner Nachricht gefragt habe, ob meine „Weltursprungs-Phantasie“ tatsächlich eine fehlgeleitete Lektüre gewesen sein könnte. Entstanden, weil ich nur die ersten Zeilen des Gedichts vor mir liegen hatte und einfach angefangen habe zu lesen. Meine Aufzeichnungen sagen anderes. In zweierlei Sinne.

Zum einen würde ich dir widersprechen. Das charakteristische Bleutge Gedicht ist nicht dieses erste, den Band eröffnende, das ich damals schon, obwohl das Inhaltsverzeichnung einzelne Titel aufweist, als ein zusammenhängendes Langgedicht verstanden habe. Das prototypische Beobachtungsgedicht ist aus meiner Sicht „Gradierwerk“ – schon der Titel „werk“ zeigt, a) Bleutge ist kein Poststrukturalist („Vom Werk zum Text“) reinster Form, b) er hat es mit dem Werk, im Sinne des Handwerks (vgl. das Erzeugen aus dem ersten Gedicht). Er schreibt also seinen einmal eingeführten Fundus fort, geht um dieses Handwerkliche zu betonen, aber wieder auf einen Begriff zurück, der sich in Barthes-Zeiten nicht als Scharnier zwischen Dichtung und Saline ergeben hätte: das nenne ich – an derer Stelle – entspannten Poststrukturalismus. An Barthes hängt das nämlich zugleich schon noch, weil das im Rückgriff auf „Werk“ mitschwingt.

Das erste Gedicht von Gradierwerk ist also – aus meiner Sicht – eines jener Sehstücke, die Bleutges Lyrik bis dahin ausgemacht haben: Und schon da zeigt sich: nicht nur Beobachtungsschärfe macht es aus. Das ist kein naiver Realismus. Sondern immer schon einer, der vor Augen stellt, was eigentlich nicht zu sehen ist, weil das Erscheinende sich nicht aus dem Sehmoment allein ergibt, sondern aus einer Überlagerung z.B. mit Lektüreelementen, wie sie hier etwa von Droste oder auch Kling stammen. Das Bild wird als Beobachtung evoziert, aber nicht einfach im naiven Sinne vom Realen nachgeahmt. Denn das Gelesene, das da intertextuelle ins „Werk“ einfließt, stammt ja nicht aus demselben Sehmoment vor einer Saline. Da werden Sehmomente überblendet:

„scharzdorn, geschichtete, bündel, reisig

über das wasser rinnt, im reiseln, rieselnde

tropfen, ein dauerndes plitscher, fast

knisterndes drippeln…“

Da liest man auch die charakteristische Nuancierung und Ausfächerung, der vor Augen gestellten Phänomene, wie man sie von Bleutge kennt. Daher der Eindruck und das Urteil über seine Sehschärfe, die hier vorgeführt wird.

Grundlage des Urteils über den Text war damals zudem, so sagen mir meine Skizzen, dass ich die Verarbeitung bis in die großen Züge des Bandes beeindruckend fand. Damit meinte ich so etwas wie: im ersten Gedicht geht es – im Zuge der Weltursprungs-Phantasie – um das Zwischending im Übergang von Gasförmig/Flüssig. Genau darum geht es in diesem Gedicht auch wieder: denn im Gradierwerk werden die Teilchen in so keine Partikel zerlegt, dass sie ja tatsächlich Teil von minimalen Tropfen und der Luft werden, so dass man sie vor der Saline stehend einatmet: als gasförmig, flüssige Partikel gleichermaßen. Da wird das Prinzip der Lichtzerlegung in anderer Weise wieder aufgenommen und durchgespielt. Um das zu markieren, hatte ich in meiner Kritik einen Satz über genau das Zusammenfallen des Gasförmig-Flüssigen geschrieben. Einen Satz, mit dem man als Leser wahrscheinlich nicht viel anfangen kann. Aber ich weiß noch, dass ich sehr froh war über diesen Satz. Und darüber dass ich ihn in meine Kritik einbetten konnte. Weil ich dachte: wenn jemand ganz genau liest: das erste Gedicht des ersten Zyklus, das erste Gedicht des letzten Zyklus und sich dann – Eitelkeit – meine Kritik dazu vornimmt, dann sieht dieser hypothetische Leser, dass seine Beobachtung sich mit meiner deckt und sich in diesem Band in beschriebener Weise ein Kreis schließt.

Aufgrund solcher Beobachtungen kam ich zu dem Schluss: dieser Band ist von höchster Qualität, weil er bis zuletzt und bis in Detail weiß, was er da konzeptuell will. Das würde ich auch nicht sehen, dass ich das etwas reinlese, auflade, überinterpretiere.

Zum anderen – das hat jetzt lange gedauert, bis ich dahin kam, entschuldige. Zum anderen haben mich meine Aufzeichnungen noch einmal in meiner Lektüre bestärkt, weil sie sich sehr intensiv mit dem ersten Zyklus auseinandersetzen. Aus meiner Sicht ist dieses erstes Langgedicht Bleutges Versuch, über das bislang Geschriebene hinauszugelangen.

Ich habe das damals festgemacht an den Einfaltungen von verschiedenen Zeitebenen. Auch darüber ist ein knapper Ausschnitt in die Rezension gekommen, die dieses Charakteristikum benennen. Mehr als ein kurzer Absatz dazu war aber nicht drin. In meinen Aufzeichnungen – beglückender (narzisstischer?) Moment – schreibe ich tatsächlich auch schon von „Weltenstehung-Phantasien“, die als ein Element in dieses Langgedicht eingelassen sind. Das wusste ich bei der erneuten Lektüre nicht mehr. Aber wie schön (nur für mich), dass ich bei der zweiten Spontanlektüre jetzt denselben Eindruck hatte. Das spricht aus meiner Sicht schon vom Verfahren her gegen die These, ich hätte da von Außen etwas an den Text herangetragen. Vor zwei Jahren in den USA wäre ich doch hoffentlich mit ganz anderen Assoziationen und Gedanken an den Text herangetreten, wie jetzt zwischen zwei Abenden, an den Monika Rinck in Göttingen ihre Poetikvorlesung gehalten hat.

Ob ich bei der Bezeichnung „Weltentstehungsphantasien“ bleiben würde, wenn ich mir den gesamten Zyklus anschaue? Ja, schon. Nein, vielleicht auch nicht: Vielleicht gefällt mir die „Elementarphantasmen“ auch gut, die ich als Bezeichnung wieder gefunden habe. In jedem Fall ist das in den ersten Zeilen kein einmaliger Fall, sondern korrespondiert mit Passagen in den Gedichten auf S. 8 und auf S. 12. Das ist also eine eigene Zeitebene dieses Textes, der aber auch noch andere, ebenfalls in der Vergangenheit liegende Zeitschichten aufruft. Also: nicht jede Vergangenheit hier ist dieselbe Vergangenheit. So wie die Orte ja auch von der kurdischen Hochebene bis Grönland reichen.

Aber ich belasse es bei den Elementar-Phantasien, weil ich sie damals schon so auffällig fand. Ich hatte mir damals lange überlegt, woher ich so eine Verschaltung kenne. Was ich damit anfangen kann. Warum sie anderen wohl missfallen würden. Und so habe ich eine längere Passage geschrieben (nichts davon hat es in den Artikel geschafft, auch das nur Grundlage des Urteils), über die Strukturanalogie zwischen Bleutges Gedicht und Terence Malicks Film „The Tree of Life“. Ich erinnere mich gut, wie ich diesen vielstündigen Film gesehen hatte, der in seine Familiengeschichte lange Sequenzen von Elementar-Phantasmen einspielt. Wellen, die anströmen, Tropfen, die sich lösen. Sogar Dinosaurier, die ein Duell austragen. Die Reaktionen im Kino war heftig: Heftiges Aufstöhnen, heftige Langeweile. Ich fand das gewagt, großartig, mutig, weil total daneben. Ich habe diese Szenen noch heute – so bilde ich mir ein – in ihrer eigenwilligen Schönheit, ihrer Detailgenauigkeit (auch da: kein Realismus, nur gebaut, wie bei Thomas Demand) und Beobachtungsschärfe sehr genau in Erinnerung.  Das ist strukturell, was Bleutge hier macht: Und das ist etwas, was er in keinem seiner vorherigen Bände gewagt hätte.

„denk wie muscheln und kalk,

zelle um zelle baute sich an, traum von geweben, häuten, wo du hinein-

gehst, siehst du nicht mehr hinaus, als wäre alles mit allem

verbunden, virus der welpost, nicht mehr grund keine

nacht in gedanken, ständig im kreisen, wachsender stoff

der sich trug, vom atlantischen wasser umfaßt, nach dem ermüden

meer geschlossen, als wäre es sand, als würde das licht sich

verstärken, wege wie luft in den raum zeichnen.“ (8)

Das ist so eine der Malick Szenen bei Bleutge, gekonnt von einer Formation des „Denkens“ aus entfaltet. Die Verwandtschaft zum „Schwarzdorn-Ästchen“ im Graduierwerk liegt auf der Hand (um Verwandtschaft geht es im Langgedicht zweifach). Aber doch ist diese Szene als Einfaltung in den Eingangstext ein größeres, poetische Wagnis. Das versucht ein Dichter, in seinem Arbeiten einen Schritt weiter zu gehen, ohne das Bisherige komplett über Bord zu werfen. Als käme es darauf an, dass eigene wieder aufspringen, ausfransen zu lassen, um daran anknüpfen zu können. Und diese Ausfransungsstelle liegt nicht am Rand, sondern in der Mitte der Textur, das eröffnet sich jetzt also Raum für Neues.

Aus dieser Beobachtung heraus, und das ist mein letzter Punkt, versprochen, hatte ich mir überlegt, wie man diese Form von Innovation beschreiben könnte: Heidegger habe ich dann – aus diesem Anlass – wieder gelesen. So wie ich jetzt wieder Bleutge gelesen habe. Im leeren Band übrigens, so dass ich noch einmal wie von Vorne und doch mittendrin einsetzen konnte. Heidegger hatte ich mir damals also aus der Bibliothek ausgeliehen:

Deshalb beginnt meine Kritik dann mit einer knappen Passage über Heideggers These über das Schreiben des einen, aber eben unsagbar bleibenden Gedichts. In diese Tradition von Innovations-Vorstellungen würde ich Bleutges Arbeiten einordnen. Und zwar auf einem sehr hohen Niveau aufgrund seiner poetischen Sorgfalt, aufgrund seines Muts mit diesem ersten Zyklus etwas Neues zu eröffnen, das zuvor für ihn wohl nicht denkbar gewesen wäre. So mein Eindruck aus der Lektüre der vorherigen Bände. Dass man nach dem Wagnis quasi wieder einen Sicherheitsschritt zurück macht, und sich im „Gradierwerk“ noch einmal seiner Fähigkeiten versichert, kann ich da – auch wenn das wohl Projektion ist – ästhetisch (nicht psychologisch!) gut nachvollziehen.

So? Vielleicht.

Herzlichen Gruß

Christian

 

 

Lieber Christian

hab noch einmal Dank. ich möchte jetzt zu deinen schönen Ausführungen eigentlich gar nicht mehr viel schreiben. schon gar nicht ihnen trotzköpfig widersprechen. dieser echte Pluralismus der Herangehensweisen ist das für mich Entscheidende, das mich (und hoffentlich andere) weiter bringt. 

es führt uns an einen Punkt, der für mich zunehmend zentral wird in der Auseinandersetzung mit Lyrik und Lyikkritik: inwiefern sind wir vorgestimmt, wenn wir etwas lesen? welche Präferenzen/Wertungen haben sich dem Blick bereits eingeschrieben, bevor man sich dem Text wirklich nähert und bestimmen seine Lesart? 

man kennt das ja, auch in unserer Lyrikkritikakademe war das wiederholt Thema: wenn man den Dichter, die Dichterin einmal kennt, entwickelt man Verständnis. Rainald Goetz nannte das einmal Korruption durch Nähe. in der Akademie aber neigten die meisten für mich überraschend dazu, zu sagen: nein, das ist Vertiefung und perspektivische Annäherung. und das ist nicht nur meine Erfahrung. deshalb zweifel ich zunehmend am dezidierten Urteil (so wie das auch Czernin in seinem neusten Beitrag auf lyrikkritik.de ausführt und ich das inzwischen von manchem „älteren“ Kritiker hörte). das Skrupolöse erfasst mich. Ernst Jünger stellte einmal das Skrupolöse gegen das Posaunenhafte, vielleicht hat jedes seine Berechtigung, das Posaunenhafte, um Gesamtverhältisse gerade zu rücken – oder genau umgekehrt: das allzu Gerade, auf das sich alle einigen können wieder in eine kritische Schieflage zu bringen (was hier meine Absicht war) – das Skrupolöse, um genau zu werden, einfühlsam, auffaltend. 

ich halte letzteres auch für anknüpfungsfähiger, es beschließt nicht, etwas verhalte sich eindeutig so und so und erledigt es. 

in diesem Sinne finge jetzt eine Beschäftigung mit Bleutge für mich erst wirklich an, vermutlich. bisher war es ja eher ein Ärgern, Ändern-wollen und Aufstöhnen. ein Widerreden-Erfinden. ja, ein zu schnell ablaufendes Wutkonzert.

ich habe ja auch schon weiter gelesen und einiges von dem gefunden, was du ansprichst. gerade die Passage mit dem schazdorn zum Beispiel finde ich sehr schön. diese Unsicherheit, ob da bei Bleutge nicht viel mehr rauszuholen ist, finde ich für mich (und die Literaturkritik) letztlich produktiver (und nicht nur freundlicher). 

sie führt an Punkte zurück, wo ich meine Voreinstellungen überprüfen muss. kann sein, dass da auch einfach Temperamente aufeinander prallen und es keine Übereinkunft geben wird. dann ist das eben so. kann man das dann nicht einfach so stehen lassen?

oder eben auf anderes zielen. so wird auch diese Auseinandersetzung in anderer Hinsicht weitergehen, vielleicht interessiert dich das, denn der erste Satz deiner Kritik: „Der Imperativ der Innovation hat die Kunst fest im Griff. Er fordert, dass der einzelne Künstler sich mit jeder Arbeit neu erfindet. Der Tanz um das Goldene Kalb der Innovation macht vergessen, dass sich große künstlerische Qualität gerade auch durch Kontinuität und Wiedererkennbarkeit auszeichnet.“ – ist genau ein Thema, das jüngst Alban Nikolai Herbst an Katharina Schultens versucht hat zu exemplifizieren in der bezeichnenderweise „Wiederholung“ genannten Literaturzeitschrift. an selbigem Ort werde ich ihm antworten (und das dann auch auf lyrikkritik.de dokumentieren).

und ja, vielleicht schimmert hier ein Grunddispens auf, der aber wohl nur eine unterschiedliche Stoßrichtung markiert (nicht so sehr eine unterschiedliche Auffassung).

ich, als Verehrer des Pastiches, der vielfältigen Annäherungen und – das ist mir besonders wichtig – als jemand, der mehr an Differenz und Nicht-Identität bzw dem Aufgehen in fremden Identitäten interessiert ist, muss natürlich sowohl einem zu klassischen Formbegriff (obwohl ich als einer der ersten damals gegen die Verachtung z.B. des Reimes opponierte) als erst Recht einem übrigens recht metaphysisch verbrämend anmutenden heideggerschen Gedanken eines einzigen Gedichtes widersprechen. nun ja: und dann passiert es bei einer Lesung angekündigt zu werden mit den Worten: „Jackson erkennt man immer wieder“. obwohl ich mich leider eitel geschmeichelt fühlte – dachte ich doch: Mist, umsonst versucht, die Fährten zu verwischen und ein anderer zu sein. 

wer weiß das schon, an was man schreibt? und vielleicht ist meine Kritik an Bleutge nichts weiter als eine Selbstvergewisserung.

ganz herzlich

Hendrik