Volker Sielaff würfelt nicht

es ist eine Binsenweisheit, dass man verschiedene Dichter und Dichterinnen auf je verschiedene Weise lesen muss. und doch kommt diese Einsicht in den Gedichten Volker Sielaffs besonders zum Tragen. denn sie erfordern ein anderes Sich-Einlassen. wenn Jan Kuhlbrodt behauptet, dass es keine unverständlichen Gedichte gäbe, das sei nur eine Frage des Aufwands, so müsste man anhand der Gedichte Sielaffs ergänzen: oder der Zeit. mehr noch, der Versenkung. 

Volker Sielaff legt es nicht auf neue Formen an, obwohl er durchaus einen Formenreichtum aufweist. er legt es auch nicht auf Originalität an, obwohl er durchaus überraschende, ja einprägsame und groteske Zeilen hat, die unerwartet kommen. sein Ziel war von den ersten Gedichten an, auch, wenn möglich, auf ausgestellte Komplexität zu verzichten. aber eben nicht, um ein nur simples Gedicht zu schaffen, nicht um einer Oberfläche oder eines einfachen Effektes wegen, sondern, um anzuhalten, um sich Zeit zu lassen. denn komplex ist seine Wahrnehmung sehr wohl. nur will er nicht aufdringlich sein, nicht auftrumpfen und schon gar nicht mit Metakonstruktionen prunken. das bringt seine Gedichte zuweilen an den Rand des zu Offensichtlichen, dann wieder an den des Verstummens – oder auch, wenn er sich dann doch immer wieder vorwagt und mehr in den Blick bekommen will, auch der Ungelenkheit (man bedenke hier die Ambivalenz mit: nicht „gelenkt“ „gerichtet“, nicht erledigt, ähnlich wie im Wort „ungeschickt“: mit keinem zu erledigenden Auftrag versehen, an kein definiertes Ziel kommend etc). das muss nicht unbedingt ein Manko sein. wir kennen zum Beispiel von Adalbert Stifter eine gewisse Steifheit, die, manchmal mit dem Kitsch im Bunde, wahrhafte Größe und Tragödie erreicht. bei Sielaff ist es freilich eher ein Nichtbrillierenwollen, ein Sich-Sperren (das übrigens in sich, in Klang und Gestalt, durchaus geschmeidig sein kann, eher stehen Haltung und Gedanken quer). solch Literatur ist geradezu tageszeiten-, jahreszeitenabhängig. ab und an erscheint sie einem etwas lapidar, wenig angereichert, zu sehr im kleinen Umkreis – Sielaff hat dies selbst bemerkt und hin und wieder in überraschend grellen Ausfallschritten sein Repertoir erweitert um Groteskes und Surreales. doch kehrt er stets zur Reduktion, wo er herkam. mit dem (langsamen) Älterwerden nun scheint er seine Form zu finden, und zwar, wie im Rückblick fast zu erwarten war, in einer Kürzestform, dem kurzen, haikugleichen Gedicht, dem Epigramm, der Sentenz und den rhythmisch sondierenden Reflexionen.

hatte er im letzten Band dies noch nur im letzten Kapitel, aber bereits sehr gekonnt, angedeutet, so kreist der neue Band „Ovids Würfelspiel“ nun ganz um diese Kürze, geht in ihr auf. und das, was einem dann manchmal etwas zu wenig, etwas zu beliebig herausgepickt scheinen kann, gewinnt, wenn man ihm nur Zeit gibt und Raum, diese Stille und mittsommerliche Intensität stehender Luft, auch die lakonische Größe der Reife in seinen besten Momenten. denn er selbst, so sehr es auch scheint, würfelt nicht: er schaut dem Würfelspiel Welt zu. geht man in seinem Rhythmus des Beobachtens mit, oder geht eben nicht, sondern „lässt sich gehen“, ohne auszupendeln, pendelt mit, dann atmen diese Gedichte immer wieder Weisheit und Öffnung.

Vom Nutzen der Poesie

Nach dem Lesen eines Gedichts im April

ist für eine Weile alles gut.

Unglaublich, dass die Leute noch immer

keine Gedichte lesen.

Sie verstehen ja so gar nicht

zu leben!

schreibt es sich dann wie von selbst im Autor. das wird man als authentische Verwunderung lesen. man darf sich aber von manch einfacher Sentenz nicht täuschen lassen. unter den Zeilen gärt es durchaus gerade da, wo sie eben vieles nicht sagen. es kann eine Kunst sein, sich das Expressive zu versagen, manches ungetan zu lassen, im Angedenken an all das, was noch zu schreiben wäre. Volker Sielaffs Gedichte halten die wunde Stelle des Augenblicks offen, denken das Ungedachte mit. und nur, wenn man diese Leerstellen mitliest, dies Warten einzeichnet und selbst beginnt, auf das richtige Wort zu warten, wird man sie mögen. ob der Erzähler/Dichter (whoever) in der Sauna ist, antike Dichter liest („Horaz, du kleine Honigbiene!“) oder eine verkorkste Gesprächskultur registriert – über die kleine Analyse, den Eindruck, der wiedergegeben wird, hinaus geht es Sielaff darum, anzureißen, nicht auszuformulieren. wer sich zu sehr an den erklärenden Logos klammert, wird, gerade weil die Gedichte auf der Oberfläche winzige Narrative und Auslegungen anbieten, nicht wirklich weiterkommen. dies Verfahren der Reduktion kann vielleicht erst wirklich gelingen, wenn der Autor (oder die LeserInnen) Erfahrung angesammelt haben, wenn sich ein Wort nicht nur mit ein, zwei Szenen, einer eindeutigen Bedeutung verbindet, sondern ganze Geschichten in sich birgt, ein Reservoir an Bestimmungen beinhaltet. dies zu öffnen, ohne es auszuschütten, aber ohne auch nur ölgötzenhaft davor stehen zu bleiben, das ist die Kunst.

Giacomettifliege

Ich habe die Fliege

nur als Schatten gesehen.

Sie sonnte sich

in der Abendsonne.

Lange Gliedmaße, gestreckt.

Verdöste ein Fliegenjahrhundert

auf der Buchseite, die ich gerade umblättern wollte.

von solchen Gedichten, die nicht nur der Form nach an japanische Traditionen erinnern, kann man mit Fug und Recht sagen, dass sie fast nichts mehr sagen (als das, was wir schon irgendwie kennen?). ist das nun banal? oder ermöglicht es nicht überhaupt erst wieder das Wort: langsam, behutsam, als eine Art Vorbereitung der Möglichkeit des Worts. oder nein, eher noch als eine Nachbereitung dessen, was nicht in Worte zu fassen ist, und schon, flüchtig, verflogen ist.

Jasminblüten

In der Teeschale die kreiselnde Schrift:

spricht nicht von gestern,

sprich nicht von morgen.

Öffnet sich sanft –

zu keinem Sinn.

Deine Zunge schmeckt,

deine Augen trinken.

Nur von Gedanken:

keine Spur.

 

Hendrik Jackson