Yevgeniy Breyger – Fasziale Dynamik

Bunt ist das Laub. Bunt, die Kleidung. Die Tiere bunt, die Menschen von Kopf bis Fuß. Bunt, die Gedichte, die guten wie die schlechten. Die Seen, die Himmel, die kreisenden Planeten, die Gottheiten und die Computer. Erinnerung strömt durch Gelenke, sammelt sich in Faszien, wird Information, Narrativ, Krankheit – wird übertragen.

Am Beginn seines elften Kaddischs schreibt Paulus Böhmer über die Viren im Urin der Nager. Das Wesen der Krankheit ist untrennbar an das Wesen des Lebens geknüpft, so, sinngemäß, Novalis. Ich stellte mir das Gedicht früher als Körper vor, als dynamisches Mobile, bestehend aus Fleisch & Skelett, versuchte mit Hilfe von Effekten & Affekten über das Schreiben nachzudenken – nicht ausreichend. Hilfestellung: Nehme ich an, dass es auf diesem Planeten Leben gibt, impliziere ich die Annahme, es gäbe unbelebte Planeten, trenne also lebendiges von unbelebtem Gewebe, nutze ein Konglomerat wissenschaftlicher & subjektiver emotionaler Definitionen, Sinneswahrnehmungen & -täuschungen ebenso, um diese Trennung in Gedanken zu vollführen. Dachte ich als ich an das Gedicht dachte und ihm einen Körper zuwies an den Körper eines Untoten?

Vorsichtig, fein wage ich ein neues Gedicht – Vergangenheit & Zukunft dieses Gedichts vermischen sich zu seinem Fundament. Es richtet sich vehement gegen die Gegenwart, die Vehemenz ist leise, kraftvoll, besonnen. Es biedert sich nicht mit tagespolitischen Inhalten & Gesellschaftskritik an, stellt sich auf keine Bühne, schreit nicht. Es setzt sich auf einen Stuhl und spricht den wahrsten Satz, den es denken kann. „Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus“, so Celan.

Viren vermehren sich nichtlinear. Die fraktalartigen Wucherungen würden im Vakuum konzentrische Kreise beschreiben. Im realen Raum ist ihre Ausbreitung abhängig von äußeren Bedingungen wie Temperatur, Oberflächenstruktur und Gewebedichte. Das Modell einer virulenten Vermehrung sei das Modell dieses neuen Gedichts. Das Gedicht spricht unchronologisch, denn es gibt keine Chronologie. Das Gedicht spricht multiperspektivisch, denn es gibt kein Subjekt. Das Gedicht misstraut der Immanenz nicht weniger als der Transzendenz und stellt performativ die Geste dar, die es beschreibt.

Der lebendige Körper dieses Gedichts maßt sich keine Aussage an, er erschöpft sich nicht im Spiel von Senden und Empfangen, wird vom Chaos zusammengehalten – darin erst trifft er das Eigentliche, wird aktuell & zeitlos.

Gegen die Trägheit, gegen das Vergessen, gegen Grobheit, Geschrei, gegen Theater, gegen die Bühne, gegen die Politik & die Menschen. Für sich, für die Menschen, fürs Erinnern, Verzeihen, für das Verbeugen und das Aufhalten der Tür für den Nächsten, auch wenn es keinen Nächsten gibt. Für die Neurose und deren Überwindung, für die Kinder, die Schwalben, die Kreidefelsen Süditaliens und die Notlüge. Gegen den Exzess, gegen die Gewalt & im Gegenzug für das Zaudern, für die Wunderheilung im letzten Moment. Geh‘ in dich, sage ich zu mir, was ist deine Geschichte?

Ein Pferdchen trabt müde über ein Blumenwieslein, es scharrt mit den Hufen, klopft an deine Fenster, will heute bei dir übernachten. Lass es herein, die Mähne ist weich.

Nicht das Pferd selbst soll das Gedicht stellvertreten, vielmehr das Hereinlassen des Pferdes ins Haus, Hereinlassen der inneren Spannung ins Gedicht. Dem Symbolischen einen Anfang entgegensetzen. Betreten der allereigensten Enge als Voraussetzung des originären Gesprächs.

Begreife ich die Enge als Breite, schließt sich die Frage an, inwieweit innere Breite & Enge eine Substanz konstituieren, die zugleich den immanenten & transzendenten Kern des Gedichts speisen kann. Wobei Immanenz & Transzendenz nicht als polare Begriffe verstanden werden dürfen – die Transzendenz als das Außenliegende, kein spiritueller, göttlicher Gehalt, der von Schreibenden angezapft werden kann, sondern die Gesamtheit ebenjener glücklicher Findungen, die der Eigendynamik der Sprache inhärent sind, aus ihr entstehen. Um zum Körper zurückzukehren – jene Substanz sei lebendiges Gewebe, gekennzeichnet durch Elastizität (Dynamik) & Kapazität (Gedächtnis). Faszien.

Faszie, aus dem lateinischen fascia für Band, bezeichnet weiche Gewebestrukturen im menschlichen Körper, Komponenten des Bindegewebes, die den Körper als umhüllendes & verbindendes Spannungsnetzwerk umschließen. Sie dienen dem Zusammenhalt der Organe, dem An- & Entspannen von Muskeln, unterstützen den Heilungsverlauf nach Frakturen und garantieren die Beweglichkeit von Gelenken. Zudem wird ihnen die Fähigkeit zugesprochen, Informationen zu speichern. Positive, wie negative Emotionen, Traumata und Glückserfahrungen werden in die Gewebestruktur eingeschrieben, bleiben lange Zeit abrufbar/ablesbar.

Mein neues Gedicht weist entsprechend der faszialen Dynamik 3 verschieden geartete Faszienschichten auf.

1. Oberflächliche Faszien – deren hohe Elastizität (variable dynamische Sprache – transzendentes Schreiben) das Ansammeln sprachlicher Findungen fördert (entsprechend des Ansammelns von Körperfett in Verbindung mit pränataler Gewichtszunahme).

2. Viszerale Faszien – weniger dehnbar, verbinden die Organe und halten sie zusammen, halten ihre Spannung konstant, sodass die Organe eine Eigenmobilität im Körper behalten, ohne den Ort zu verlassen und ihre Funktion einzubüßen (gnadenloses Einlassen auf die innere Spannung, innere Breite & Enge, ohne Pose zu beziehen, Hereinlassen des Pferdchens ins Haus).

3. Tiefe Faszien – ausgestattet mit zahlreichen hochsensiblen Rezeptoren für Schmerzempfinden, Bewegungsänderungen, Druck & Schwingungen, Änderungen des chemischen Milieus und Temperaturschwankungen (Erkunden & Einarbeiten der immanenten Erinnerungen, Glückserfahrungen, Traumata – Übertragen der Krankheit, sich aussetzen, Gedächtnis).

Für die Erkenntnis, fürs Erkunden, fürs Innehalten, für das Warten, den Fortschritt, das Wachstum, für Wahrhaftigkeit und Lüge zugleich, für das Gedicht und gegen sich selbst, für sich und gegen das Gedicht.

Wenn es um das Glück geht, dann geht es um die Jagd nach dem Glück, um das Verwandeln des Unglücks in Glück & umgekehrt. Wenn ich mir vor Augen führe, dass nicht einmal Glück & Unglück in ihrer ureigenen Form es vermögen, als polare Begriffe zu wirken, schaffe ich es unter Umständen, mich gänzlich von der Polarität abzulösen. Welches Verhältnis gehen solche Begriffspaare miteinander ein? Wie steht es um das Verhältnis zwischen Realität & Fiktion, Wahrheit & Lüge, Verstehen & Unverständnis?

Im Buch Insister fingiert Hélène Cixous ein poetologisches Gespräch mit Jacques Derrida:

– Die Jagd nach der Wahrheit, das ist unser ewiges Zwiegespräch.

– Das Jagdglück. Die Jagd nach dem Glück, die Jagd nach Glück

– Ich laufe der Wahrheit nach, ich jage sie. Sie jagend verjage ich sie sagst du

– Im Wissen, dass du sie jagend verjagst sage ich

– Ich stelle alle Zusagen in Frage, angefangen mit dem Gesagten, den Reden und anderem Sagen-Wollen, und noch vor dem Anfangen, angefangen mit den Worten

– Die Jagd nach dem Glück, das ist Stendhals Jagd und meine ist es auch.

– Die Frage der Wahrheit setzt mir zu

– Du setzt ihr zu. Man weiß nie, wer wem zusetzt, wer wen belagert, zurückhält, gefangennimmt, wer was angefangen haben wird

– Die Frage der Wahrhaftigkeit noch mehr, man kann nichts beweisen, was die Lüge angeht. Daher mein Verhältnis zur Literatur.

– Welches Verhältnis?

– Der Glücksfall Literatur. Literatur als Chance. Nie wird man sie in flagranti beim Delikt der Lüge oder Wahrhaftigkeit ertappen. Weder Lüge noch Wahrhaftigkeit, die Literatur, man wird niemals beweisen können, dass ich lüge

– Deshalb hältst du dich seit jeher ganz nah an die Literatur

– So nah wie beinahe, an den Gestaden. Man wird niemals beweisen können, dass ich drinnen oder draußen bin. Es trifft sich, dass ich mich manchmal darin finde, natürlich verloren. Ein natürlich verlorenes Kind.

– Aber du verweilst dort nicht. Die Literatur ist deine Versuchung. Zwischen der Literatur und dir.

Das Zusammenfallen von Text & Körper schöpft beiderseitig Erinnerung an die Oberfläche. Die Krankheit sei das Vergessen. Die Krankheit sei das Erinnern. Sich der Krankheit auszusetzen, wird unumgänglich bleiben. Ebenso die Tragfähigkeit des Körpers im Angesicht der Wirkkraft von Gegengewichten, beständig, wieder und wieder. Die Stimme muss nicht gefunden werden, sie ist da. Lass sie frei – verliere sie nicht. Sei tapfer. Die Plattentektonik ist eine handfeste Wissenschaft, die innere Bewegungen der Erde beschreibt. Das Schreiben von Gedichten ist eine handfeste Wissenschaft, die das Wirken von Mensch und Welt ineinander verschränkt. Du wirst nicht umhinkommen, dich auszusetzen – vergiss, was du tust, verlasse dein Haus, nimm die Hand.

 

zuerst erschienen in: Aus Mangel an Beweisen, Heidelberg 2018, Deutsche Lyrik 2008-2018, Herausgegeben von Michael Braun und Hans Thill, S. 256-260, mit Dank an den Wunderhorn-Verlag!