Noha Abdelrassoul
“Ich, schwirrender Kreisel, ich” – Kurzkritik zu Valerio Magrellis Gedicht Porta Westfalica
Über Sprache, Visualisierung, Erinnerung, sinnliche Wahrnehmungen von Natur und Gegenständen und über den Einbezug von Elementen aus dem Alltag, wird, während einer Taxifahrt, eine Verbindung zwischen einem fremden Ort, und einem “ich”, aufgebaut, die in eine unabsehbare, humorvolle Komposition mündet: “Porta Westfalica meines Seins”.
Dabei springt der/die Sprecher/-in von einem dieser Mittel, zum anderen, kehrt immer zurück zum Aspekt der Sprache als Zwischenbaustein und auch zu sich Selbst, jedes Mal mit einer neuen Rolle:
– Beim ersten Mal auf der Suche nach “zwei Worten”, die einen Ort benennen, unter dem sich die/der Sprecher/-in sich nichts vorstellen kann
– Beim zweiten Mal als jemand, der aktiv in ein vorgestelltes Bild, das vermutlich aus der Geschichte hervorgerufen worden ist, agiert und den “verschanzten Mann aus dem Versteck” holt.
– Das dritte Mal, in der Selbstwahrnehmung, nach der Situation des stechenden verstauchten Knöchels, als Reaktion auf die eiskalte Luft. Eine Selbstwahrnehmung, die in einer Selbstironie ausgedrückt wird: “Ich, schwirrender Kreisel, ich /Schraube, die aufspringt, nicht mehr.”
– Danach folgt die Sorge um den Taxameter, der weiterdreht. Es folgt die letzte selbstironische Zusammenfassung: “Porta Westfalica meines Seins”.
Selbstironie lässt sich aus zwei Lesarten herleiten:
Erstens, wenn “Porta Westfalica meines Seins” als Gleichsetzung dem vorher erwähnten “Fluß des Taxameters” beabsichtigt ist. Zweitens, als Ausdruck des Unsinns des Seins, denn Porta Westfalica ist ein Wort, unter dem weder Sprecher/-in noch die, die am Anfang des Gedichts gefragt werden, sich Konkretes vorstellen können. Auch die Polysemie des Seins ist nicht auszuschließen: Denn für Porta Westfalica werden mehrere Bedeutungen am Anfang vorgeschlagen und mit dem Einbau von jeder Bedeutung, kommt auch ein neues Sein zustande. Das Sein unterliegt der Sprache und wirkt hier wie ein Kompositum aus beliebigen sprachlichen Elementen.
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Regina Menke
Zu dem Gedicht „Der atlantische Tag“ von Patrizia Cavalli
Der Text wirkt beinahe schlicht. Er scheint einen Zustand zu beschreiben, zu dessen Erleben ein Mensch fähig ist, den zu fassen in einer anderen als einer poetischen Sprache aber schwierig ist. Ich denke kurz an „Idyll“ von Elke Erb (wegen der Kram-Gedanken; der Fähigkeit, mal hierhin, mal dorthin zu denken; die Welt aus diesen Gedanken heraus existieren zu lassen) und an „Daß ich dem Mond mein Gemüt überließ“ von Christine Lavant (wohl, weil auch hier Wasser in den Himmel gerät; es zwar kein „Segeln“ gibt, aber ein Boot und Inseln; und wegen der Formulierung „Daß ich dem Mond mein Gemüt überließ, bringt mich der Lösung nicht näher“ – könnte, was Lavant als „Lösung“ bezeichnet, in Cavallis Gedicht die „Heilung“ sein?).
Doch mir ist klar, dass diese Vergleiche keine genauen Annäherungen sind, es steht hier ja alles ganz anders.
Ein (von Anfang an nicht / kaum verkörperter) Verstand übt sich ein in den Alltag, die zahmen Nachmittage, als sei das eine Voraussetzung, um den „atlantischen Tag“ zu empfangen.
Der nicht zum ersten Mal kommt.
Jegliches Wollen des Körpers scheint einer „keuschen Verliebtheit“ gewichen.
Die da spricht, sieht von sich ab; ihre „Materie verflüchtigt sich“, sie mischt sich in ein Knäuel von Stimmen, während die Stadt sich erhebt und schwankend in der Brise segelt (und Ausgangspunkt ist hier, wie bei Erb, ein (menschlicher) Verstand / Geist).
In der letzten Strophe „taucht die dunkle dichte Insel wieder auf“: eine feste Substanz, die den Körper auch wieder dessen Grenzen spüren lassen könnte. Doch das wäre „Heilung“ und brächte „Übel“. Weil es vom Zustand des „atlantischen Tags“ in den Alltagstrott führen würde / an einen Ort, wo freies Sinnen und z.B. Dichten nicht möglich sind?
Ich bleibe vor dem Gedicht mit Fragen zurück, z.B.:
Ist ein Vorwand, zu bleiben, sanfter, als ein Vorwand, zu gehen?
Werden die schlechten Nachrichten aus dem Haus fortgeschickt oder ins Haus hinein?
Ist die Konkretion (Verortung / Verkörperung) die Heilung, die sie Bedrohung nennt?
Ist die Konkretion die Bedrohung, die sie Heilung nennt?
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May Mergenthaler, today, in the role of the polemicist
Some quick, somewhat acerbic impressions of – “Porta Westfalica” by Valerio Magrelli
Berlin, June 4, 2021
The intimacy of poetry, the focus on the self, is a major aspect of poetry, yet, I cannot help myself to see it as an appalling type of self-absorption. Thus, faced with the poems by Patrizia Cavalli and Valerio Magrelli, I chose the latter, because the title suggests a historical topic, a more expansive view of the world, when compared to the beginning of Cavalli’s poem, which begins with reflections on the thoughts and feelings and sensations of a lyrical speaker. This aversion to the subjectivity of poetry, which reaches a pinnacle in current Instagram poetry, is something I need to think about more. But now, my task is to think about, sense, the poem “Porta Westfalica”.
I read it and hear it, on lyrikline.org, in the original Italian, pronounced by the speaker, the author Magrelli. I hear Italian. Rolling “r”s, flowing language, beauty, and I hear the cliché that the Italian language is to many Germans, or Americans – and others, who speak a less melodic language.
“Porta Westfalica”: I have heard of it before, I may have seen the name passing a sign for it on the highway, with my parents, as a child, but I have never thought much about it. I googled the words first, before I ventured back into the poem. And what I read was confirmed by the speaker: nobody knows exactly what it stands for. Only that is not Roman and that the name goes back to the 18th century, when Latin and French were fashionable. I also find out that there was a so-called Außenlager of the KZ Neuengamme in Porta Westfalica, active from March 1944 to April 1945, where prisoners of the concentration camp were supposed to build underground production sites for weapons that were protected from the bombs of the Allies. I am surprised that this aspect appears not to be mentioned by the poet.
And so, I go back to the poem to read about the lyrical speaker`s drive from the German city of Minden to the Porta Westfalica and I allow myself to sucked in by his subjectivity, even though I am resistant. I read that the vowels in the name Porta Westfalica are bright and like weapons of a man entrenched in the woods. I google “war” and “Porta Westfalica” and find, on Wikipedia, the title of a book: Jochen Bergmann: Der unterirdische Krieg an der Porta Westfalica. Untertage-Produktion im Dritten Reich. Epubli Verlag, Berlin 2011. Thus, perhaps Magrelli knew about the camps and the idea to build underground weapons factories. But why does he mention only the man holding the weapons, not those who were forced to build them? The association to commemorate the KZ outpost was founded only in 2009; the poem is from 1992. Perhaps information was lacking?
But I read on: The author finds the panorama of the Porta, the view of a river valley between two hills. Is that the “weapon” he found? The speaker also visits the Kaiser Wilhelm’s memorial, a statue, with the words “Manuel war da” engraved, which are in German already in the original. I am sure he is trying to say something. Something about writing being like a river, the river of time? The “name is the river among rivers.” It is the river that stays? Manuel is now as eternal as Wilhelm? Am I to think about the fact that an unknown Manuel is now as famous as Bismarck? And now? I need to think more, I suppose, to solve the riddle that the author (not the speaker) has prepared for his readers.
Then, the speaker finally leaves the taxi to walk around in the woods around the statue. He (I assume it is a he who is similar to the author) has a sprained ankle, and I am thinking of the KZ prisoners and think, really? You want me to think about, feel with you, the stinging of your ankle, dear speaker?
At the end, the speaker is thinking of the taxi driver, in a very collegial gesture – he thinks of his service person. Of the money propeller that keeps circling around. But why is the driver helpless or perplexed? And why would he clean the windows? Is he a thoughtless proletarian (of the modern kind), while the speaker finishes his poem with some deep thinking about the “Porta Westfalica of his being,” “canal,” “aorta,” “hemorrhage of time,” “dam.” Is he alluding to someone’s suffering in the war? He mentions “peace and war and the Latin language” earlier – as if peace and war were somehow on one plane?
Usually, I am very kind to poems, because I admire anyone who dares to and manages to write a poem and to even publish it and incite people to read it. This is an aberration, in which my true critical self has come to the fore. I stand to be corrected, and am ready to develop sympathy with the speaker and author of “Porta Westfalica.”
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Mariëlle Matthee
The title and topic of this poem, Porta Westfalica, took me by surprise. – Porta Westfalica von Valerio Magrelli
In dem Gedicht Porta Westfalica stellt der Dichter Valerio Magrelli innere Wahrnehmungen den äußeren gegenüber. Der Ich-Protagonist sucht nach zwei Wörtern: “Porta Westfalia“ und alles deutet darauf hin, dass er nach einer Art Namensschild sucht, das anzeigt, dass er den Ort erreicht hat. Porta Westfalica kann sich auf viele Ereignisse beziehen. Zum Beispiel ein vermutlich römisches Militärlager zur Zeit der römischen Niederlage, der sogenannten Varusschlacht, die zur Festlegung des Rheins als Obergrenze des Römischen Reiches führte. Oder an den Westfälischen Frieden, zwei 1648 geschlossene Friedensverträge, die das Ende zweier sich überschneidender Kriege markierten, des 80-jährigen Krieges zwischen Spanien und den Niederlanden und des 30-jährigen Krieges in Deutschland. Der Protagonist findet sich in einem Land voller unterschiedlicher Bedeutungen und Schichten wieder. Er kreuzt den Weg eines anderen, der vielleicht auch auf einer Suche war, aber gefunden hat („Manuel war da“). Und während der Ich-Protagonist auf das Panorama blickt, das jetzt Porta Westfalia heißt, ein Durchbruch in der Weser („Das Op-Art-Panorama aufgefächert zwischen Baümen/und Gewässern“), sucht er weiter nach den Worten („während die Schilder bald/deinen Bismarckturm, bald das Wilhelms-Grabmal ankündigen“). Die Landschaft Porta Westfalica, die von ihm als ‚Op-Art-Panorama‘ wahrgenommen, aber nicht erkannt wird, scheint sich im Ich-Protagonisten durch den Klang des Taxameters in seiner Vorstellung zu entfalten. Sie suggeriert, dass Porta Westfalica so sehr ein Teil von ihm ist, dass er sie nicht außerhalb von sich wahrnehmen kann, sondern nur in seinem Inneren.
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Lilith Tiefenbacher
Patrizia Cavalli – P. Cavalli. Diese schönen Tage. Ausgewählte Gedichte 1974-2006. Aus dem Italienischen von Piero Salabè. Carl Hanser Verlag. 2009.
Drei Strophen gibt es in Patrizia Cavallis Gedicht „La giornata atlantica“ – von Piero Salabè übersetzt mit „Der atlantische Tag“. Drei Strophen, in denen das Ich des Gedichts intellektuell, wie die deutsche Übersetzung zunächst suggeriert („mich mit meinem Verstand […] einstelle“) schreibend in den „lauen Frieden des Alltags“ eintaucht – wobei „mi dispongo“ auch „sich aussetzen“ bedeuten kann, eine Bezugnahme also, in der dem Gegenstand seinerseits Kontrolle über das Subjekt zukommt. Vermutlich schwingt das Ausgesetzt-Sein im Italienischen mit, denn um eine rein kognitive Operation handelt es sich bei dem, was in den folgenden Versen passiert, nicht – dafür ist der Alltag, auf den sich eingestellt wird, zu sehr gesättigt von Sinnlichkeit; dafür bleiben die Bilder zu sehr in der Schwebe, nicht unscharf wider Willen, aber zum Flimmern hergestellt. „Schimmern“, „flirren“, „schwanken“ und „verflüchtigen“ sind Wörter, die die ersten zwei Strophen in deutscher Übersetzung prägen, mir aber auch für einen metapoetischen Kommentar in den Sinn kommen. Dem „Wetter [„clima“] nicht mehr grolle[n]“ heißt es zu Beginn – ein Vorhaben, das im Original nicht nur meteorologisch, sondern auch in Bezug auf Umgebung, Atmosphäre des zu erfassenden Ortes, der zu erfassenden Zeit gemeint zu sein scheint. Auf dieses Vorhaben folgt der Vollzug in der zweiten Strophe, bis hin zur Auflösung der eigenen Materialität: „La mia materia evapora“, „meine Materie verflüchtigt sich“. Und dann? Nach der sprachlichen Hingabe an die Umgebung machen die letzten Verse einen Rückzieher, oder: vollziehen eine Rückkehr. Von Heilung ist die Rede, der Suche nach einem Körper. Auch das bleibt in der Schwebe, wer hier wem den Körper bringt und was das Übel ist am Ende des Gedichts. „Der atlantische Tag“, der, rückblickend, wie ein Traum aufkam, schließt mit dem Blick auf eine „dunkle dichte Insel“, Rückkehr des eigenen Ichs, das wie eine Liebende zu sich zurückgestreichelt werden will, über die Heilung zum Übel. Im Deutschen weniger lesbar bleibt die melancholische Gegenwärtigkeit, die Cavallis Gedicht evoziert. Schon der Titel vermag hier nicht zu sagen, dass „giornata“ (nicht „giorno“) eine Dauer betont, nicht im Sinne einer Anhäufung von Stunden, sondern im Sinne der Weile, des Verweilens in etwas, das unauffällig verstreicht. Tag und Dunkelheit, Sprache und Alltag werden einander so nahegerückt, wie „il male“, das Übel, mit dem Cavallis Gedicht schließt, und das Meer, einander im Italienischen („mare“) gar nicht so fern.
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Alexander Estis
Nett und amüsant – Kritik zu Valerio Magrelli: Porta Westfalica
(aus: Esercizi di tiptologia, 1992; übs. v. Theresia Prammer)
Ganz amüsant: Animiert von der Sonorität des lateinischen Ortsnamens inmitten all der deutschen (»ein Flackern / im dichten Konsonantenknäuel, das kurze / leuchtende Vokale freisetzt« – ganz amüsant!), macht sich der Sprecher in einem Taxi auf die Suche nach der Porta Westfalica, doch niemand kann ihm erklären, was diese eigentlich bezeichnet (»ob für eine Festung oder eine Schleuse – wirklich, ganz amüsant!).
Ganz amüsant: Der kolloquiale Ton (»genau, meine ich«), die minutiösen Beobachtungen (»die Statue, ihr linkes Bein bekritzelt mit der Aufschrift: ›Manuel war da‹«), das Vorüberziehen der Bilder und Schilder im Fenster des Taxis. Auch amüsant: Die Metaphorik des Gedichts: Der Wasserdurchbruch mit »Bypaß« und mit der »Mauer / eines Hydro-Berlins, inmitten / von Grundwassern« (das ist doch amüsant?), der Taxameter als Fluß, als »Propeller des Geldes«, der bedeutungsschwere Schlußakkord »Porta Westfalica meines Seins« (mittelamüsant).
Das alles – fast alles – ist zweifellos ganz amüsant. Tschechows Trogorin erscheint es als die größte Kränkung seines Lebens, daß er über seine Werke immer bloß zu hören bekommt: »nett und talentiert, nett und talentiert«. Magrellis Gedicht ist nett und amüsant.
Man kann aber immerhin sagen, das Gedicht werde seinem Anspruch vollauf gerecht: Es ist just so aufregend, wie ein Ausflug an einen Wasserdurchbruch per Taxi es zu werden verspricht. Damit reiht es sich als Kunstwerk zuletzt selbst ein in den Fluß jener Einzelbilder, die sowohl der Sprecher als auch die Leser indifferent an sich vorüberziehen lassen.
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Şafak Sarıçiçek
Irrfahrten. Zu Patrizia Cavallis ‚Der atlantische Tag‘ und zu Valerio Magrellis ‚Porta Westfalica‘
Auf Reisebewegungen subjektivierter Eindrücke befinden sich Patrizia Cavalli im ‚atlantischen Tag‘ und Valerio Magrelli, durch seine ‚Porta Westfalica‘ schreitend, gewiss.
Nur scheint sich Cavalli, nach einem ersten Blick des Lesers, schwärmerisch hölderlinesk, nicht körperlich, wohl aber in Gedanken, indem sie sich ,,auf den lauen Frieden des Alltags“ einstellt, umherzuschwirren: Der ,,atlantische Tag“ ist ,,wieder da“. Ein genereller Zustand, dessen spezifische Zustände Erhabenheit andeuten, wobei diese etwas zu platt oder zu unmittelbar daherkommen: das Licht ist hoch, die Töne des Lichts sind hoch, die Fensterläden schimmern milchig, man will dem Hochsprung nicht so recht glauben. Gehalt gewinnt der atlantische Tag mit einer ,,dunklen und dichten Insel“, mit deren Erscheinen sich eine Art “Du“ erklärt. Ein dunkles Du, dessen Gewissheit, heilend “Dunkel bringt“ und damit dem Gedicht anfängliche Plattitüden etwas vergibt.
Bei Magrelli hingegen äußert sich das Bewegen wesentlich mehr als eine echte, als eine körperliche Bewegung. So erschließt sich die Umgebung als eine Aneinanderkettung von Objekten im prosaisch anmutenden Lichtspieltheater mit dem Namen “Deutsche Provinz“. Auf der Suche nach den Worten “Porta Westfalica“ herrscht der Vorwärtsdrang. Versinnbildlicht durch die Taxifahrt, vorbei an Denkmälern vergangener Zeiten, deren Anspruch konterkariert wird durch ein profan eingekratztes ‚Manuel war da‘ – auf einem Statuenbein. Die gefühlte Symbolschwere des angestrebten Namens leuchtet auf als Irrlicht. Wir wissen nicht genau, wo unser Held auf der Suche ist, ob im Wald, ob in ‚Hydro-Berlin‘ oder in Minden. Wir bleiben ähnlich ratlos zurück, wie ,,der Fahrer der da ratlos sitzt“ angesichts dieser ,,Reise“, nur leider ohne Taxameter.
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Martin Piekar
1) Pstrizia Cavalli – Der atlantische Tag
Der beginn eines lauen Friedens ist die Klangkulisse dieses Gedichtes, es bleibt lau und die Atmosphäre wechselhaft unentschieden. Es sind keine Stimmungsschwankungen des Wetters, es ist eine Mischung aus Tagesform und Routine, die die Stimme in ihre Beobachtung legt. Die Stimmen von außen weben sich in die Stimme des Gedichtes hinein, es sind die Stimmen kleiner Mädchen und alter Männer zugleich. Ob diese pars pro toto für die Bevölkerung stehen oder extreme Auswirkungen?
Die Stadt erlebt den atlantischen Tag wie einen Lichtzug, als wäre es Teil des Wetters, fegt das Licht und seine Schatten über die Stadt. Das Licht flirrt. Die lyrische Stimme gibt an, dass ihre Sinne sich anker- und schwerelos verlieren. – einsam und grenzenlos. Ich frage mich, ob diese Wörter Gegensätze darstellen. Ist die Grenzenlosigkeit des Meeres die Spiegelung der Einsamkeit?
Diese schwerelosen Sinne senden schreckliche Nachricht heim, doch bleiben wir im flirrenden Licht ungewiss darüber, welche Nachricht. Dort, daheim, wo alles seinen Platz findet, wird die lyrische Stimme zur Nebensache und Materie verflüchtigt sich. Daheim, das ist nicht materialistisch.
Plötzlich taucht eine Insel auf und ich frage mich, wie tauchen Inseln auf? Bzw. Was ist eine Insel – ist nicht alles Land eine Insel? Verschwindet die lyrische Stimme anstatt der Insel sonst oder ist die Perspektive eine wechselnde an einem atlantischen Tag?
Er kommt doch erneut zu fester Substanz, ein Heilversprechen, eine zärtliche Sorge macht sich breit, die sich ihre, Übel durch Heilung bewusst ist.
2) Valerio Magrelli – Porta Westfalica
Eine Taxifahrt ist der Beginn – eine neugierige und zugleich kritische Dynamik treibt den Anfang des Gedichtes voran. Die lyrische Stimme sucht nach der Bedeutung der titelgebenden Worte. Es steht auch die Frage im Taxiraum, wohin diese Porta führen mag. Porta Wesfalica ist eine Deutsche Kleinstadt, doch sie mutet so lateinisch, … vielleicht auch leicht italienisch an.
Da vermutet die lyrische Stimme von einer Waffe des Mannes im Wald: die Varusschlacht. Ist es das? Ist Varus immer noch ein militärisches Trauma? Nein – es mutet eher an, wie die historische Tuchfühlung eines Ortes. Bismarckturm und Kaiser Wilhelm Grabmal und der Westfälische Frieden – folglich der Dreißigjährige Krieg, sind ebenso präsent an diesem Ort. Die Gleichzeitigkeit der absoluten Geschichte eines Ortes wird von der lyrischen Stimme erblickt.
Manuel, der Name eingeritzt in ein Statuenbein wird erblickt. Dieser alltägliche, spanisch, italienisch anmutende Name (Kurzform von Immanuel aus dem Hebräischem) ist ein Zufall und kein Zufall zugleich. Die Dynamik wird performativ, die lyrische Stimme handelt, wandelt um Porta Westfalica.
Das Geotop um die Stadt und die Denkmäler werden abgegangen und dann denkt die lyrische Stimme in zwei sich praktisch wiederholenden Versen an den wartenden Taxifahrer. Die Dynamik stockt und die lyrische Stimme schweift fortan von ihrer unmittelbaren Umgebung ab. Die Gedanken vom fortwährenden Taxometer gelangen über Kanal, Mündung, Biotop, dann zu einer Schleuse, Aorta, Blutsturz der Zeit. Da ist es wieder, das ganze Geschehene auf einmal stürzt. Stürzt in oder aus dem lyrischen Ich? Geschichte im Durchlauferhitzer der lyrischen Stimme.