Eine Liebe zum Detail, zum poetischen Filigran, mag man als Grundvoraussetzung einer jeden dichterischen Unternehmung annehmen, und man merkt sie Daniela Seel in jeder Zeile ihres Gedichtbandes an, der unter dem Titel Was weißt du schon von Prärie? in ihrem eigenen, dem Berliner KookBooksVerlag erschienen ist. Dabei realisiert die Lyrikerin hier auf den ersten Blick – bei aller sofort auffallenden Neigung zum Detail –recht wenig, was man als Leser mit dem Genre der Lyrik verbinden könnte – Prosaminiaturen wären ein geläufigerer Ausdruck dessen, was die reisefotografisch bebilderten Seiten des Bandes dem Leser darbieten.
Die Texte, die in einer paradoxen Weise artifiziell produziert und zugleich authentisch unfertig scheinen, entbehren einer linear verfolgbaren Gedankenführung. Angeordnet in verdichteten rhythmisierten Staccato-Sequenzen, durch Binnenreime und zahlreiche lyrische Stilmittel (vor allem Inversionen und Ellipsen) stark poetisiert, füllen sie meist nur das obere Drittel der Seiten. Von Wort zu Wort wechseln innerhalb kürzester Sequenzen semantische Bezüge, Topoi der Romantik werden durch Kumulationen mit technischen oder theoretischen Termini gezielt gebrochen. Regungen und Bewegungen, die von Seels Worten ausgehen, ecken unaufhörlich an und weisen sprunghaft von sich auf anderes und den Leser, und nicht selten, so scheint es, auf die Dichterin selbst. Kitsch und Konvention werden drastisch umgangen, aber dieser Umweg bleibt nicht unbemerkt und folgenlos: Er erscheint bisweilen wie ein Versuch, sich dem Schreiben in geordneten, man kann auch sagen: in gewohnten Syntagmen zwanghaft zu entziehen. Was damit gewonnen ist, lässt sich wiederum schwer beziffern: ästhetisches Erleben reiner Sprachkunst, die jedoch den Bezug zu sich selbst verloren hat?
„Um wie viel verschobene Proportionen, ein Kreidestrich, isoliert. Die Birnen blinken methodisch, Aurora, ihr Fiepen durch Rigips, diffundiert.“ Die Proportionen, von denen dieser Text spricht, scheinen auf den ganzen Band übertragbar zu sein: Die Konturen der Sätze sind in sämtlichen Texten ebenso verzerrt wie deren semantische Bezüge. Doch einem Leser Daniela Seels darf es nicht daran gelegen sein, etwas zu erfahren, sondern vielmehr daran, eine Erfahrung zu machen. So endet auch der eben zitierte Text, in dem ein Licht auf- oder auszugehen droht, mit den Worten: „Und was haben Sie daraus gemacht? Ich möchte das in die These fassen: Je größer die Immanenz, desto mehr haftet an.“ Dies kann durchaus als Befragung des Lesers des Bandes verstanden werden. Je größer die Immanenz, desto mehr haftet an? Eine Tautologie freilich, doch verstanden als ein poetologisches Programm durchaus vielsagend. Denn was die Texte des Bandes bezeichnen, das ist eine von Semantik und Inhalt losgelöste, reine Präsenz. Weil im Lesen schnell sehr klar wird, wie bewusst Seel jedes Wort arrangiert, wie exquisit ihre Wahl des einen und des nächsten Wortes sich ausnimmt, lässt der Lektüreprozess eine Dichterin imaginieren, die sich und ihre Umwelt mit einem überdreht wachen – man möchte sagen, einem poetisch-psychodelischen – Bewusstsein erlebt und dieses in ihre Dichtung, einer Form von Egoexistenzialismus im Gewand der poetischen Sprache, zu wandeln weiß.
Ihre Gedichte sind entsprechend der Wege und Gänge durch Landschaften rhythmisiert, sodass letztlich Raum und Zeit tatsächlich poetisiert werden. So treten Zustände des Geistes und durch die bebilderten Fotografien und die geografischen Kapitelüberschriften auch Bewegungen desselben zu Tage, die sich nicht anders als progressiv luzide beschreiben lassen. Seels Gedichte sprechen trotz aller Sprachkunst nicht von Sprachlichem, sondern bilden einen Zustand des völligen „Jetzt und Hier“ ab, des „Alles oder Nichts“. Präsenz und Bewusstsein als Parameter, die in der Lektüre ineinander und auf den Leser übergehen, sind Leseerfahrungen, die anhaften, um auf die Immanenz zurückzukommen, und zwar auf eine andere, weit tiefere Weise als linear gewonnene Textaussagen.
Insofern wäre ein Vorwurf an die Texte, inhaltsleer oder beliebig zu sein, auf gewisse Weise zutreffend, und er könnte dem Leser auf den Lippen liegen, der Lyrik bevorzugt, die sagt, wovon sie spricht. Doch zugleich erscheint dieser Vorwurf armselig und altbacken, reagiert er doch nicht auf ein avanciertes Verständnis von Lyrik, wie sie hier vorliegt: Sprachkunst jenseits von Abbild und Ideal, systemisch und affektiv.
Ein zweifelhaftes Dasein, dies mag man zugestehen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die zeitgenössische Lyrik (und dieser Einwand ist bereits aus früheren literaturhistorischen Epochen bekannt) dem Vorwurf der hermetischen Selbstbezogenheit und der rein sprachartistischen Beliebigkeit ausgesetzt sieht und solche Leser, die nicht bereit sind, die Poesie als scheinbar undurchdringliche Herausforderung zu zelebrieren, im Buchladen in andere Regale greifen. Hier ließe sich übrigens ein Zitat aus dem Band passend anschließen: „Geben Sie uns eine Weile. Auch dieser Raum entsteht durch Gebrauch“.
Und weder die einen noch die anderen können sich hier im Recht fühlen. Denn jede Lyrik, die ihren legitimen Raum fordert und einnimmt, muss akzeptieren, womöglich auch nur in diesem, einem sehr begrenzten Raum wirken zu können. Der Raum dieses Bandes lässt sich als ein Dark Room der reinen Präsenz verstehen, den man halbblind vor Sensibilisierung verlässt – erreicht man im Lesen denselben Zustand psychodelischer Berauschung wie die Dichtung selbst. Dichtung als ästhetische Erfahrung, die sich von völliger Befremdung nährt und darauf setzt, dass sie gerade damit durchkommt – es kann funktionieren, wenn auch nicht in allen Texten des Bandes gleichermaßen. Denn man kann dem Band durchaus zu Gute halten, neue Wege sprachartistischer Selbsterfahrung zu beschreiten; man kann ihm aber im selben Atemzug vorwerfen, sich dabei von Zeit zu Zeit in einer gewissen Beliebigkeit zu verlieren. „keine kontrolle im aber, im oder, im alter, eschenhof, pickliges kinn, katzen dick und dünn spatzen, kein hämmern, differenz kollerte längs von lehnen, ein strang-ding auch, seide, notgemacht, saumbateaus gestengras, die prinzzirbeltaste, ist winter, ist heulschanze, tube, riesennebel […]“. Ein Riesennebel ist an solchen Stellen, an denen die Sequenzen allzu knapp und die Bilder beinahe gewollt werden, genau das, worin sich der Leser gefangen sieht: Dem einen Graus, dem anderen Genuss, dies gerade nicht durchdringen zu können – so bleibt vom benebelnden Eindruck der Liebe fürs Detail zuletzt auch ein benebelter Geschmack der sprunghaften Beliebigkeit im Detail zurück.
Christina Rossi