Der leise Nachhall des Sklavenrufs

– Lyrik unter der Lupe: Bob Dylans Blowin‘ in the wind

«Für seine poetischen Neuschöpfungen in der grossen amerikanischen Songtradition» hatte Bob Dylan 2016 den Literaturnobelpreis bekommen. In seinem Buch «Die Philosophie des modernen Songs» erweist Dylan nun einer Auswahl seiner persönlichen Vorbilder die Reverenz. Das ist passend für einen, der sich ausgiebig bei anderen bedient hat. Doch zwischen den launigen Vignetten zu Elvis Presley oder Willie Nelson vermisst man die Künstler, deren Werk Dylans Karriere den entscheidenden Anfangsschub gegeben hatten.

Als Dylan 20-jährig ins hippe Künstlerquartier Greenwich Village zog, dichtete er sich eine Jugend als Zirkuskind und proletarischer Wanderarbeiter an. Seine bürgerliche und jüdische Herkunft verschleierte er auch mit der Namensänderung. Bis ins Detail imitierte er die Kunst des Gewerkschafters und Protestsängers Woody Guthrie. Und nach dessen Tod zelebrierte er seine Nähe zu dem Songwriter-Pionier und empfahl sich als Haupterbe.

In Dylans «Philosophie» taucht nun Guthrie nicht auf. Ebenso wenig die vielen Songs, denen Dylan die Melodien für seine eigenen entnommen hat. Allen voran wäre «Blowin’ in the Wind» zu nennen, sein erster Hit, mit dem er vor 60 Jahren die Spitze der Folk-Szene erklomm. Dessen Melodie stammt von einem afroamerikanischen Spiritual mit dem Titel «No More Auction Block». Komponiert wurde es wohl von entlaufenen Sklaven der Bürgerkriegszeit. «Nie mehr auf die Versteigerungsbühne!», hofft und fleht hier eine Stimme. «Nie mehr Peitschenhiebe! Nie mehr!»

Dylan eignet sich die schlichte, markante Melodie für die Strophen seines Songs an. Auch er besingt die Freiheit, jedoch auf verfeinerte Art. Statt «No more» zieht sich nun «How many» durch den Song. Wie viele Kanonenkugeln müssen noch fliegen, bis sie verboten werden? Wie viele Menschen müssen sterben, bis einer kapiert, dass es zu viele sind? Man kann das geschichtsphilosophisch lesen: Lernt der Mensch aus der Geschichte? Doch es sind rhetorische Fragen. Es sind verdammt noch mal zu viele! Statt die Botschaft herauszupoltern, gibt sich der Refrain zweideutig. «The answer, my friend, is blowin’ in the wind.» Ein klares Bild, das aber nicht leicht zu deuten ist. Einerseits ist die Auskunft flüchtig, andererseits auch allgegenwärtig und für jedermann sichtbar. Der Sänger spricht wie ein Orakel in Rätseln und deutet an, Bescheid zu wissen. Doch ob die offensichtliche Absurdität des Kriegs die Botschaft ist, oder die Einsicht, dass sich an der Gewaltspirale nie etwas ändern wird – das bleibt dem Hörer überlassen.

Dylan sprach die Wut der Bürgerrechtler an. Doch sein Song ist nicht aggressiv, sondern mit seinem luftigen Refrain entwaffnend. Und er ist noch heute singbar, während die Kanonenkugeln gerade wieder fliegen. Die Bildsprache ist universell, auch die Rassenthematik wird nicht erwähnt. Höchstens ganz leise hallt der Ruf der Sklaven aus dem alten Spiritual noch nach: «And how many years can some people exist / Before they’re allowed to be free?»

Hat Bob Dylan die schwarzen Sklaven ausgebeutet und ihrem Werk die Identität gestohlen? Hat er die Leistung des Protestsängers Guthrie in unredlicher Weise in seinem Image verschwinden lassen? Oder hat er deren Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit bewahrt, in einem Werk, das nun zur ganzen Menschheit spricht?
«The answer, my friend, is blowin’ in the wind.»

Florian Bissig

Text vom 15. November 2022 aus der Aargauer Zeitung, mit Dank an CH Media