Aus einem Prosaprojekt

Vorspann

Vergegenwärtigen kann ichs mir nicht, und wenn doch, dann nur als Bildhülse, Worthülse, nichtssagendes, klischeeüberzogenes Ding, das ich mir vorstelle. Mich erinnernd dringe ich in Zeiträume ein wie in den falschen Film, Laufzeit zirka neunzehnhundertachtundsiebzig bis zirka zweitausend. Ich weiß nur, dass ich nicht mal das Arsenal meiner halb angelesenen Begriffe zur Verfügung habe, sondern nur meine ungeschulte Phantasie, beziehungsweise die geschulte hohe Schule der Hemdsärmeligkeit, will sagen nichts als Privatepistemologie zur Verfügung habe.

Okay, das ist auch was, das Eigene, was ich hörte und sah, besser als nichts, besser als gleich in die klischierten Trompeten der Leere leere Luft zu drücken. Wie auch immer, es geht mich was an, das ist es. Und zwar so, wie jedes sonstige historische Faktum auch, das da ist, sich zu erkennen gibt und mir die sinnlos-freie Sicht (auf was eigentlich?) verstellt. Das quasi im Weg steht und ihn versperrt, was ich nur als nicht von mir stammendes Gerümpel auffassen kann, Hinterlassenschaft derer, die gekommen und gegangen sind (kommen & gehen: definiert das etwa Geschichte?), mich angehend, weil am Gehen (wohin eigentlich?) hindernd. Und zwar als jemand, der es sich selbst klarmachen will. Ab jetzt, zweite Lebenshälfte, hingebracht in heillos purem Dasein, gedichtet im Schatten eines GROSSEN zwo drei vier GEBERS VON ALMOSEN. (Immer her mit den Zitaten, in Zitaten denken ist wie Schildermaler in der Wüste sein.)

Was aber ist dran an der Erinnerung, dass ichs Sprechen gelernt hab in Mecklenburg/Berlin, mehrfach in Schüben. Erst Aktuelle Kamera, Frohe Botschaft, die freundlichen Predigten von Pfarrer Winkler (dessen unheilbar fleisch- und offenbleibende Ellenbogenwunde aus Weltkrieg II ich als Kind anstarrte wie das Tier eine Bedrohung), halbgares, nicht aufhörendes, eigenes inneres Reden in Form nicht geschriebener Briefe an die, deren schräg gelegtes, missgelaunt in den Himmel blickendes Gesicht ich jahrelang vor mir sah, deren Stimme ich nie hörte, die dann wegzog nach Grimmen oder Grimma – Städtenamen, die bis heute abgesperrt ruhen in präpubertärer leidenschaftlicher Trauer, die ich damals wie heute zu nichts als noch mehr Trauer verwende, beziehungsweise verschwende, aus dem Leben gerissen, umflort. Dann Bücher der elterlichen Schrankwand, Aktmalerei, Gedichte von Morgenstern, Brecht und Tagore, Felix Krull illustriert im Großformat, chinesische Vasen, Lexika, Storm und Fontane, zwischendurch Noll, Reimann und Kafka, später Aktfotografie und Architektur, Vogelkunde, Hunderassen, die Bibel, und schließlich am Ende der dunklen, nach Berlin verlegten Neunzehnhundertneunziger Jahre Gespräche mit meinem Vater über dessen Lektüre seiner nur für ihn vorgesehenen Stasiakte.

Ich saß währenddessen, während meine Eltern an einem Freitag im Sommer 1999 ihre Stasiakten einsahen, mit meiner damaligen Freundin Rebecca etwa drei oder vier Stunden in einem Café am Berliner Alexanderplatz und redete über die benzingetränkten Wälder von Mecklenburg, einen Russen, der meine erste Freundin Yvonne, wir waren dreizehn Jahre alt gewesen, vorm ehemaligen Neustrelitzer Carolinum, vor der jetzigen Lazarettkaserne HAUS DER OFFIZIERE anbaggerte, ihr Zigaretten runterschmiss, ihr etwas zuraunte, vom zweiten Stock aus auf Russisch FIGGIFIGGI rufen mochte, fröhlich grinsend, woraufhin ich, der es im Nichtverstehen verstand, wegsah zum Glambecker See, einfach den Kopf drehte und die Höckerschwäne beim Landeanflug anpeilte. Ich weiß nicht, ob sie mir zuhörte oder ob ich mir das jetzt nachträglich alles einbilde. Dass sich Zeit und Ort überblenden wie die falsche Tonspur über einer ungeschnittenen Filmszene oder wie aus einer schlecht konstruierten Bahn tief in mir drin entgleisende Murmeln, steht ja fest, und auch, dass ich dastand im Gang des Cafés und Zigaretten zog, als die Eltern gegen sechzehn Uhr von der Stasiunterlagenbehörde zurückkamen. Mein Vater setzte sich und murmelte außer Atem halb zu mir, halb zu sich, ich weiß nicht, wer das gewesen sein könnte. Wer hat dich bespitzelt, fragte ich sofort, das ist es eben, keine Ahnung. Aber du hast die Liste mit den Nicknames, ja, die Decknamen habe ich, aber die geben mir erst in einem Jahr, frühestens, die Klarnamen raus. Aber das ist doch was, sagte ich, das machen die extra, sagte er, damit man nicht hingeht und denen aufs Maul haut. Klar, ist auch gut so, gedulden wir uns halt.

 

Marcus Roloff