Bin grad unterwegs, melde mich später

Liebes Tagebuch,

neulich, als ich mit Johannes, der mich in seine Kunstklasse an die Hochschule eingeladen hatte, auf dem Rückweg im Boardrestaurant vom ICE saß, draußen dunkel und Tunnel, irgendwo im mittleren Hessen, sagte er: »Aber Robert, es muss doch möglich sein in diesem Land mit über 80 Millionen menschen (er sagte ›menschen‹ klein), hinzugezählt der deutschsprachige Markt, mehr als knapp 100 Leute zu finden, die sich für dieses geile Buch interessieren.« –
»Nein«, sagte ich, »mehr ist nicht möglich und wird es nicht sein.«
Ich sagte das sehr entspannt in diesem Transitraum, der so herrlich anonym leuchtete. Weil es mir ganz gut geht und ich aus irgendwelchen Gründen ein Talent für Voraussicht besitze, seltsam. Ein Glück auch, dem ich misstraue. Wann wird es anders kommen?
Für mich war immer klar, dass es nur diesen einen Verlag geben wird, der dieses Buchdoppel machen kann (falls es vollständig dazu kommt, das steht in den Sternen). Die Jahre der Produktion haben gezeigt, bewiesen schier – stets, wenn sich auf dem Weg jemand gewichtig begeistert interessierte, früher oder später ließ die anfängliche Begeisterung nach. Was für mein Gefühl nicht an der Sache lag, sondern am zaghaften Erkennen, dem Türspalt der Erkenntnis, welche Ausdauer die verlegerische oder rezipierende Seite bräuchte, um diesen irren Autoren auf die Welt loszulassen. Es gab sogar Verleger, die vor 10 Jahren schon sagten: »Geiles Projekt, aber ich habe keine Ahnung, wie ich das verkaufen soll.«
Klar bin ich ein Spinner. Und sind wir mal ehrlich, ein Ausnahmefall.
Es ist nicht einfacher, heute.
Brauchen wir sowas? Zu Recht und zu Unrecht gibt es für beide Antworten Argumente. Ich kenne durchaus Dichter älteren Semesters, die heute sagen: ›Weiß nicht, ob ich den Weg nochmal gehen könnte, den Mut hätte, ihn zu gehen – die Zeiten haben sich geändert.‹ Was in den 60ern, 70ern mal möglich war, keine Ahnung. Es gibt auch gegenläufige Bewegungen, ja. Corona hat, was die Welt betrifft, keine neuen Probleme geschaffen, aber die bestehenden sichtbarer gemacht. Die Probleme, die struktureller Natur sind, dafür bin ich zu klein, um zu überblicken, welche Hebelkräfte allseits wirken, ahne aber, von Bildung bis Politik, Grundeinkommen und Verlagsförderungen, Feuilleton und Veranstaltungsgunst, dass wir weit davon entfernt leben, ein Paradies zu sein. Doch ist das Paradies zu verlangen?
Nein und ja. Denn was für ein Glück es doch ist, auf einem Flecken Erde zu leben, der nicht zur Hölle wurde, geworden ist … alles ist relativ, auch Haarschnitte.
Wie viele Freunde in meiner Freundesliste hier interessieren sich für das Lesen? Und wen muss ich abziehen, als durchaus interessiert, aber fernab vom Algorithmus? Dass kookbooks als Verlag immer schon ein prekäres Schiff war, ist ein offenes Geheimnis. Dennoch, jedes Mal, wenn das gesagt wird, fühlt es sich so an, als sage man tatsächlich was Neues. Erstaunlich vielleicht deshalb, weil die letzten zwanzig Jahre doch relativ regelmäßig großes Lob und Preise die dort veröffentlichten traf; was, so habe ich mir sagen lassen, ja sogar zu Verschwörungen führte. Es gibt also Misstrauen, Missgunst? Vielleicht auch ein anderes Problem der sozialen Netzwerke, dass sie dazu neigen, eher Erfolge mitzuteilen – weniger Misserfolge. Was überwiegt im Unsichtbaren?
Was mich verwundert, hier auf dem Dorf, sind die Abhängigkeiten von Quacksalber- und Schönwettermalerei. Fernab der Städte, die haben ihr eigenes Trallala. Und ja: Hannover …
Die Tierkot-Attacke neulich war doch deshalb so laut, weil das Bild stimmte. Natürlich geht es um Hilflosigkeit. Ich weiß von Kolleginnen (seltener selbst in diesen Kommunikationen dringehangen), dass es am seidenen Faden hängt, immer. Der Gedanke der Verpassten Hauptwerke damals war: ›Alles könnte ganz anders sein.‹ Es ist nicht anders, nie. Die Handvoll Kritikerinnen und Kritiker, die aus irgendwelchen Gründen diejenigen sind, die sich um die Literatur in Deutschland kümmern, (man könnte auch Vornamen nennen, schon wird alles kleiner), sind diejenigen, die es sind. Wären es andere, mit anderen Geschmäckern, Vorlieben, Sympathien, bei allem Talent zur Abstraktion, würde anderes besprochen oder bepreist. Was mit Selbstverständnissen zusammenhängt, eine Menschheit ohne Sieger und dennoch darf gefeiert werden? Selten Kluge. Ebenso auf der Seite der Schreibenden. Und es ist ein Glück zu nennen, diejenigen wenigen zu haben, die es sind, als letzte Überlebende ihrer Gattung, nämlich dem Wort zugeneigt – auch das lehrte mich Norbert Hummelts Buch über das literarische Jahr 1922.
Wir waren schon immer die Wenigen.
Alle sitzen in einem Boot, umso schlimmer also, wenn einige mehr sitzen und andere weniger. (Man stelle sich vor, alle Kritikerinnen müssten für ein Jahr Verleger werden, alle Verlegerinnen Schreibende, alle Schreibenden Kritiker usw. – vermutlich würden alle etwas begreifen und einige: ›aufhören‹). Womit ich wiederhole, was ich neulich schon bei Sabine schrieb: Die Sache mit der Kotattacke sagt, dass wir so oder so Angeschmierte sind. Man hätte auch Senf nehmen können, aber das wäre weniger ein Erzeugnis gewesen. Womit ich nicht klage, nur verstehen übe, als Etüde auf dem Klavierbrett.
Das hiesige Geschäft (sic!) wird genauso über- wie unterbewertet. Meine Erfahrung mit Rezensionen ist, dass sie sich in Verkaufszahlen nicht niederschlagen. Geredet wird stets viel, viel Qualm, häufig weniger Feuer. Was kein Vorwurf ist, doch es gibt Mails, die belächle ich, das bemühen ist rührend. Wozu? Wo doch alle wissen, wie viele am Rande stehen. Und ja, es ist ein anderer Rand.
Andererseits wird alles entschieden, das lehrt mich das Leben hier mit unterschiedlichen Stipendiatinnen und Stipendiaten – ich sitz hier, so gesehen, am richtigen Ort für meine Radikalismen. Ich seh einen Haufen sehr unterschiedlicher Pflanzen, auch aus der Musik und den Künsten. Charaktere sind unterschiedlich, Märkte auch, die Welt ist bunt. Und gemein. Zuweilen ungerecht; was nicht heißt, dass es im Einzelfall gerecht zugehen mag. Karrieren werden gemacht, das heißt: sie werden erzeugt, von denjenigen, die sich auf dies und jenes einigen; mal geht es um Charisma, mal um Diplomatie. Seltener um die Sache selbst, wobei es auch das gibt. Immer eigenwilliger, radikaler sein Zeug treiben, damit löst man sich auch ab von den Menschen. Mal ist das zum Glück so, manchmal leider. Was beim einen unerfolgreich bleibt, wäre bei einem anderen Schöpfer erfolgreich. Wenn ich was gelernt habe, dann dem Lärm zu misstrauen und wenn es still wird – hinzuhören. Das ist gegen den Zeitgeist, führt meist aber zum Wesentlicheren.
Judith backt gute Orangenkekse. Das sind nach so Stipendien die Dinge, die hängenbleiben. Und ja, nimm Fotos mit rein. Ich träume von einer Welt, die dafür da ist, dass wir es uns gut machen. Dumme Utopie, weiter weg denn je, der Himmel donnert.
Stereotypen sind genauso in der Welt, wie wir es wollen. Und wie wir es nicht wollen. Für die Existenz lässt sich niemand anzeigen. Was auf der einen Seite der Medaille Wirklichkeit besitzt, hat woanders keine. Bedürfnisse sind wie Fliegen – es gibt Therapeuten, ohne die wir nicht wüssten, wie unglücklich wir sind. Ebenso Poesie. Die Selektion als Prinzip, wie wir meinen Qualität zu erzeugen und was ein Gespräch über Handwerk damit zu tun hätte, dafür müsste ich umblättern.
Wenn ein Buch der Spiegel wäre, der weint? Auf der Seite geblieben weiß auch ich, dass es Zufälle sind, die nur Dumme für ernst nehmen. Andererseits ist Geld virtuell bis es Brot wird. Oder Buch. Werden folgende Drucke möglich sein? Die Schamanen, die die Sprache verraten – ihre Sprache – was ist schlimmer? Kein Schamane zu sein?
Angemessene Lösungen gibt es sowieso nicht. Meine Beobachtung ist, dass unsereins weitermacht. Damit die Welt zu einem schöneren Ort werde, darum ging es doch ursprünglich, oder? Warum ich diese Zeilen schreibe? So ist das mit Tagebüchern, auch wenn es Gründe gibt, braucht es sie nicht.

Das Leben im Eigenwillen der Sprache, die Sehnsucht einer Mitteilung, die anders gerät oder schlicht auch die Vorstellung, Felsen zu sein, Fels. Welche Ungerechtigkeiten und Berührungen hie und da; auch du bist ein Wunderliches, das daneben liegt. Selbst Harald Schmidt schreibt Bücher, oder Pep Guardiola. Womit ich mich zuletzt frage: Wann hat Robert Habeck eigentlich die Zeit gefunden – oder hat das seine Frau allein gemacht – die Korrekturfahnen ihres gemeinsam verfassten, neuaufgelegten Romans durchzugehen? Es geht hier gar nicht um mich. Die Branche an sich ist erledigt. Aber das ist nicht schlimm, denn dann wird sichtbar, worin die Wirklichkeit besteht. Erfolge lügen. Und der Zug verschwindet im Licht.

Dein fröhliches Kamel, die Schildkröte

Robert Stripling am 28.02.23