Dichtung als magische Praktik. Zu Philip Lamantia

Kurz vor Erscheinen des Buches hatte ich etwas wie Albträume, jedenfalls schien mir, Lamantia greife weit hinein in etwas, das unter eine Art Bilderverbot fällt, setze sich darüber hinweg, was als Grenze gilt. Mir kam er erst spät zu Bewusstsein und fesselte mich sofort. Seinen 1962 erschienenen Gedichtband Destroyed Works hatte ich aus den „Collected Poems“ ausgewählt, weil mich sein Titel unmittelbar anzog. Diese Gedichte sind unerhört schön, exzessiv-subjektiv, nicht selten ausladend und pflegen etwas wie einen hyperaktiven Stil. Inhaltlich wird zwischen Christentum, fernöstlichen und indianischen Mythen oszilliert, immer einem Gott hinterherjagend, der sich hinter und in den Dingen verbirgt und nur im Rausch erfahrbar ist. Unmittelbar ins Auge fallend ist die Tendenz, vorhandene Mythen weiterzuspinnen, eigene Figurationen und Säulenheilige zu platzieren. So ist zum Beispiel „weiß“, vom Farbwort bis zu abgeleiteten Namen wie etwa Bianca, sehr oft Ausdruck „infernalischer Musen“, der Dauerpräsenz harter Drogen. Der hier freigesetzte, wie entfesselt klingende Sound hat durchaus mit der großartigen, zwischen Street-Art und gemurmelten Satzfetzen stehenden Beatlyrik zu tun, spiegelt aber mehr noch eigenwillige Aneignungsprozesse europäischer hermetischer Traditionen wider. Bild und Ton greifen hier explizit nach den Sternen.

Denn hier schreibt einer wie andere schießen: auf die Zwölf. Weniger als ein halbes Jahrhundert nach Lautréamont, Arthur Rimbaud und den folgenden als ekstatisch, visionär und innovativ zu wertenden Strömungen der europäischen Literatur nimmt Philip Lamantia den Faden an der Westküste der Vereinigten Staaten der 1940er Jahre wieder auf. Wenn Dichtung im Nachkriegsamerika ein Ausrufezeichen darstellt, dann – neben dem antibürgerlich-rastlosen Versuch der Beat-Generation, Leben und Literatur zu amalgamieren – durch den elementaren Rückgriff auf nicht-amerikanische Traditionen; speziell den Surrealismus, den Lamantia früh in den Museen seiner Heimatstadt und bald darauf in New York durch niemand Geringeren als André Breton höchstselbst kennenlernt. „Es ist wahrlich nicht die Angst vor dem Wahnsinn, die uns zwingen könnte, die Fahne der Imagination auf Halbmast zu setzen“, sagt er 1924 im Ersten Manifest des Surrealismus, und das könnte sich Lamantia auf die seine geschrieben haben.

„Nie mehr Neue-Welt-Posen aus der Steinzeit!“, heißt es im Zyklus „Die Apokalyptik“. Diese Zeile zeigt, wie erhellend paradoxale Formulierungen sein können, wenn Steinzeit nicht als Vorzeit, sondern als erstarrter, auf ein Amerika der Scholle abzielender Provinzialismus gelesen wird. Nach Lawrence Ferlinghetti schließt Lamantia die Lücke zwischen dem europäischen Surrealismus und der radikalen amerikanischen Kulturrevolution, die in den 1950er Jahren Autoren der so genannten San Francisco Renaissance einerseits und die eher an der Ostküste beheimateten späteren Beats lostraten. Allen Ginsberg betrachtet Lamantia zeitweise als seinen Lehrer und Michael McClure sagt über ihn, er habe den europäischen Surrealismus nach Hause geholt. Bereits im Teenageralter veröffentlicht Lamantia erste Gedichte, und zwar in ausdrücklich dem Surrealismus verpflichteten Zeitschriften wie View oder VVV (beide New York). – Was für ein Auftakt!

Geboren wird Philip Nunzio Lamantia am 23. Oktober 1927 als einziges Kind sizilianischer Einwanderer in San Francisco. Schon in der Grundschule schreibt er Gedichte. Nachdem er im Alter von 16 Jahren die Werke von Joan Miró und Salvador Dalí im Kunstmuseum von San Francisco gesehen hat, beginnt er sich für den Surrealismus zu interessieren, bricht die High School ab und zieht nach New York City, wo er für kurze Zeit Assistenzredakteur besagter Zeitschrift View wird. Dort lernt er neben Max Ernst seinen späteren Mentor André Breton kennen, der ihn begeistert mit den Worten begrüßt, eine Stimme wie die seine würde nur alle einhundert Jahre ertönen. (Hier fällt mir natürlich die ikonische Briefstelle ein, mit der Paul Verlaine den blutjungen Rimbaud elektrisiert aus der Provinz nach Paris einlädt.) Mit nur 19 Jahren debütiert Lamantia mit dem Gedichtband Erotic Poems (1946). In den folgenden Jahren unternimmt er ausgedehnte Reisen durch die USA, nach Mexiko, Marokko, Frankreich und lebt eine Zeitlang in Spanien. Während seiner US-Reisen in den 1950er Jahren nimmt er als Gast der Washoe-Indianer in Nevada an deren Peyote-Ritualen teil, die seine Lyrik nachhaltig inspirieren. Mittels der heiligen Rauschpflanze des Peyote-Kaktus besteht die brandend-rauschende Möglichkeit, aus großen, meskalin-geweiteten Augen auf eine in den ewigen Kreislauf zurückflutende, in der Transzendenz umherschweifende Welt zu blicken.

Am 7. Oktober 1955 nimmt er zusammen mit Allen Ginsberg, Michael McClure, Gary Snyder und Philip Whalen an der legendären Lesung in der Six Gallery in San Francisco teil, auf der er bezeichnenderweise keine eigenen, sondern Texte seines drei Jahre zuvor unter ungeklärten Umständen verstorbenen Freundes John Hoffman liest. 1959 erscheinen seine beiden nächsten Gedichtbände Ekstasis und Narcotica in David Haselwoods Auerhahn Press. Allein die Titel dieser ersten drei Bücher zeigen, wohin die Reise gehen kann, wenn im Anfang der katholische Katechismus steht und man später das riesige Arsenal an Denk- und Schreibmöglichkeiten wittert, sobald man surrealistische Theorien, Bilder und Texte für sich entdeckt hat. Körperliche und geistige Rauschzustände, Reden in Engelszungen/Glossolalie – neben der Erweiterung des Wirklichkeitsbegriffs durch Traum und Traumlogik ist darüber hinaus Lamantias Hinwendung zu mystisch-okkulten, häretischen Traditionen unübersehbar.

Auch hier, ein Titel mit Sprengkraft: Destroyed Works. Er geht zunächst ganz konkret auf einen Vorfall zurück, bei dem eine Vielzahl von Texten seit Lamantias Debüt einem Brand zum Opfer fielen – ob Unfall oder bewusst herbeigeführt, ist unklar. Er deutet aber auch den wohl jede Autorenkarriere begleitenden Gedanken ans symbolische, alles Bisherige annullierende und damit von Allem befreiende Autodafé an: Wo andere Werke sammeln und gesammelt gewichtig herausbringen, macht Lamantia sie kaputt (in depressiven Episoden, auch das ist überliefert, nicht nur symbolisch, sondern über jenen Vorfall hinaus auch immer mal wieder real). Denn nichts, was sich der menschliche – ins Fleisch gefallene, also per se disqualifizierte Geist – ausknobelt, hat vor dem absoluten Nichts (a.k.a. absoluten Alles) des bei Lamantia katholisch grundiert bleibenden Gottes Bestand oder Wert. Seine Gedichte scheinen angesichts dieses weitreichenden Risses, der durch die Natur des Menschen rollt, übellaunig hingeworfene Brocken oder auf der Spur von Gottes Idiom wandelnde, es nachbildende ewige Versuche zu sein: „ich hab die Schnauze voll von Sprache“ versus „ich spreche all die Gedichte Gott nach“ – besser lässt sich dieses Dilemma kaum auf den Punkt bringen.

Ich, der ich im verbiestert-provinziellen Part Deutschlands aufwuchs, zudem unter der Glocke kauzig witzlos anmoderierter Katholizität, kann vielleicht ahnen, was in einer Zeile wie „Ich gehe ständig im Schmerz umher“ stecken mag. Nämlich der Weltschmerz, der pubertär aufbricht, um ein Leben lang spürbar zu bleiben, weil’s immer nicht reicht. Als Sohn einer Konvertitin ist das Bemühen immer einhundertfünfzig-, das Gelingen immer nur zehnprozentig gewesen, was mir ein Arsenal an Gefühlssprüngen bescherte, deren Reichweite bei aller Liebe meist doch nur für zu-Tode-betrübt reichte. (Der schließlich erschienene Band Destroyed Works hat darüber hinaus einen Vorgänger selben Titels, der jetzt mit dem Zusatz Typescript kursiert; diese zwischen 1948 und 1960 entstandenen Gedichte hatte Lamantia allesamt ausrangiert und nie veröffentlicht, am Titel aber festgehalten. Interessanterweise hat er sie nicht vernichtet, sondern offenbar nur in den Schubladen begraben.) Lamantia schließt in vier großen Kapitelbögen alle und alles in den Text mit ein. Zeit und Raum verlieren in dieser als magische Praktik verstandenen Dichtung ihre sortierende, strukturgebende Funktion und fließen zusammen. Lebende und Tote, Dinge und Menschen, Topographien und Bewusstseinszustände, Zeitalter und Religionen, ob Vorsokratiker oder Drogengesichte von letzter Nacht, mesoamerikanische oder griechisch-antike Gottheiten – in den Gedichten hat all das phantasmagorisch Platz.

Aber ob gleichermaßen? Gleichberechtigt? Ich weiß es nicht. Fast möchte ich meinen, dass der einzigartige Furor dieser Gedichte aus einer Art archäologischem Wahnwitz, einem hasserfüllten Rundumschlag erwächst. Alles, was war (und zwar das mittlerweile Kontrafaktische, nunmehr Ausgelöschte wie Amerikas Naturvölker zum Beispiel) nutzt Lamantia dazu, die spießig-wohlige, an den Rändern katholisch-anglikanisch-whatever verdämmernde Gegenwart aufzuschrecken, damit sie – nach Art des Katharsis-, ja Exorzismus-Gedankens – aus der Haut fahre. Denn dann zeigt sich, was die Welt quasi wirklich ist: eine „[g]eisteskranke Bude in Form von Licht!“. Das Licht selbst schon ist korrumpiert vom grundsätzlichen Unsinn, auf der Welt zu sein. Also wenn die Substanz dessen, was uns sehen, die Dinge erkennen lässt, sogar unter die Haut geht (Hypodermic Light), dann als unergründlich falsches, realiter die Kriege und das Gemetzel dieser Welt anheizendes Gift. Wenn Lamantia eine kohärente Poetik gehabt hat, dann eine, die die Zeitgenossen frappieren und zuweilen vor den Kopf stoßen musste, artikulieren sich hier doch Zusammenhänge, die unter anderem das revolutionäre Potenzial des Surrealismus eklatant in Worte fassen. Seit Rimbaud sind die Sehergaben des Dichters zu schärfen, ganz bewusst zu erweitern; Lamantias Praxis des Drogengebrauchs – immer noch das klassische, die Schlagzahl der Bilder erhöhende Vehikel – ist lebenslang produktiv auf das Herstellen der Vision, das Sehen, gerichtet. Ein Kunstwort wie Apocamantica müsste demnach so etwas bedeuten wie Endzeitsehen, eine Fähigkeit, die mir Lamantia zu haben scheint, wenn er bereits vor einem halben Jahrhundert von globaler Umweltzerstörung buchstäblich ein Seher-Lied singt: „Du bist’s, die Kommende – Wunderschöne Zerstörung! / Dich besing ich, Zerstörung […] In der stärksten / Fäulnis glühst du wie Neon WUNDERSCHÖNE ZERSTÖRUNG DER ERDE!“

In seinen späteren Jahren kehrt Lamantia noch deutlicher zum Katholizismus seiner Jugend zurück und schreibt Gedichte, die seinen wiederentdeckten Glauben widerspiegeln. Auch sie harren künftigen Übertragungen. Fast auf den Tag genau vor 16 Jahren, am 7. März 2005, stirbt Lamantia in einer engen, fast ausschließlich mit Büchern möblierten Wohnung in San Francisco unerwartet an Herzversagen. Ich kannte ihn lange nicht. Er eröffnet mir eine ganze Welt.

 

Marcus Roloff