Ich sage bewusst ‚Festivals‘, da es sein kann, dass ich mehrere meine, obwohl es wahrscheinlich nur eines gewesen ist, das ich hier meine, weil ich mich bewusst darüber hinwegtäuschen will, dass dieses eine alles andere als glorreich war. Es war ein Literaturfestival der provinziellen Art und begann für mich damit, dass ich befreundete Kollegen traf vor dem Hotel, das ein gelber Klotz war, erschreckend nüchtern in einer auf Festival getrimmten Kleinstadt der ebenfalls gelben Flyer und Programmhefte.
Parks spielten eine Rolle, protestantische Kirchen und Zelte, ein alter kranker Dichter kam vorbei, den ich sofort erkannte von Fotos, und sagte freundlich aufgedreht Hallo und sagte lachend meinen Namen und dachte aufgeregt, dass er mir vor kurzem in einer E-Mail empfohlen hatte, mal einen eher unbekannten Amerikaner zu übersetzen. Aber er reimt, wollte ich ihm jetzt zurufen, da war er schon beim Hallo mit den Kollegen und ich ließ es sein, weiterzureden und sah sinnlos zu Boden und die Reime abgeflammt in meinem Kopf.
Auf dem Zimmer schrieb ich an einem Gedicht weiter, das einen politischen Inhalt haben sollte, aber einfach nicht hineinwollte in das Gedicht. Als ob meine Sprache sich sperre, Nachrichteninhalte zu verwenden, ich wunderte mich selbst darüber. Aber das ist der Punkt, ich mag nicht aufschreiben, was andere aussprechen. Die Zeit drängte, der Abgabetermin rückte näher; ich versuchte, in der kurzen Stunde bis zum Auftritt in mich zu gehen und den Grund für diesen Abscheu herauszufinden. Doch ich schrieb stattdessen Teile in dieses alte Gedicht hinein, montierte wahllos Dinge, die mir jetzt wie Wahnwitz vorkamen, zum Beispiel, wie ich eines Nachts von Lukas Bärfuss träumte, der mir irgendwie verliebt in mich vorkam und übellaunig und rasant zugleich zuraunte, er würde das Schreiben tief innerlich hassen, woraufhin ich ihm wie befreit zunickte, um in einem nächsten Traum zu verschwinden; oder Teile eines kleinen Flughafens im Süden vor mir sah und mich ankommen auf einer Mittelmeerinsel, deren sozial Prekäres (ist gleich: ungleich Verteiltes) ich meinem Touristenblick aufbürdete und so einmal mehr die Rolle des vollkommen unwissenden Erzählers (in Traum wie Gedicht) einnahm, in dem nichts vorging als dass das an die inneren Aufschreibesysteme gekoppelte Augenpaar immerfort nur munter herumglotzte und irgendein anderes Sensorium im Hintergrund die so genannte Stimmung oder Atmosphäre mitnotierte, diese quasi immer nur Grauzone morgens zu nennende numinose.
Gegen Ende dieser einen Stunde öffnete ich die Minibar und nahm einen Schluck aus dem 0,2-Liter-Weinfläschchen, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber da klopfte es an der Tür und wir wanderten zum Lesungsort, der eine leere protestantische Kirche war. Auf der Bühne erscheinen sollten gleich vier Übersetzer, drei Dichter und zwei so genannte professionelle Sprecher. Meine Rolle gefiel mir eigentlich, es war die des Übersetzers des einen Projekts, also des Mitübersetzers eines der beiden vor dem Altar vorgestellten aus dem Spanischen übersetzten Bücher.
Der Moderator war ein pensionierter Radiomoderator und begann sofort mit einer auf Heiterkeit getrimmten Stimme zu sagen, wie schön er dieses Festival finde, und die Autoren, und diese Altarraumbühne; ich war sofort gespannt darauf, wann er mich etwas fragen würde. Meine Gedanken schweiften während der Veranstaltung immer wieder ab, ich lauschte den Stimmen zwar, konnte mich aber auf das Gesagte nicht konzentrieren, weil mir meine zu diesem Zeitpunkt todkranke Mutter einfiel, die mich Anfang der Neunzigerjahre nach einer Rilke-Fernsehdoku einmal aufforderte, es doch mal mit Gedichten zu versuchen. Dass mir das jetzt einfiel, verwirrte mich und etwas in mir brach quasi an Ort und Stelle zusammen, weil ich mir vorstellte, wie sie, unendlich vor sich hinkauernd, restlos zerfallen würde.
Der befreundete Dichter neben mir flüsterte plötzlich meinen Namen und ich gab ungerührt Auskunft über unser Projekt, das meines Erachtens von der Win-win-Situation leben würde, dass die Interlinearübersetzung von einem Native-Speaker stamme, die dann in einem zweiten Schritt, von mir durch alle mir zur Verfügung stehenden Internetwörterbücher geschoben, zum besten aller möglichen Ausdrücke vordringen müsse, der, daraufhin von ihm abgesegnet und verifiziert, ganz am Ende ein hervorragend lesbares, deutschsprachiges Gedicht ergäbe.
So ungefähr hörte ich mich reden, als ich redete, und was ich dachte, war währenddessen zerstoben.
Marcus Roloff