Die Kunst, Eigenes zu finden und zu verstärken

Das Lektorat von Gedichten ist eine heikle, oft schwierige Angelegenheit. Wie gehe
ich als Lektorin vor, wenn ich den Eigenheiten der Lyriker:innen in ihrem Schreiben,
ihrem Individuellen gerecht werden möchte? Wie viel bringe ich als Lektorin von mir
selbst mit ein und was lasse ich unbedingt außen vor?
Zuerst wäre die Frage zu beantworten, was dieses Eigene ist, das die Dichtung eines
bestimmten Autors, einer Autorin ausmacht. Findet sich eine wiedererkennbare
lyrische Stimme, die es zu unterstreichen gilt, ist es ratsam, Gedichte zu bündeln, die
diese Stimme widerspiegeln, und herauszuarbeiten, was die Kennzeichen des je
eigenen Stils sind. Es sei denn, ein gewisser Stilpluralismus macht die Poetik der
Schreibenden ganz bewusst aus. Dann wird das Polyphone als Kennzeichen der
eigenen Schreibweise gezielt gefördert, Gegensätze und Paradoxien gesucht und
beibehalten, die einander ergänzen und verstärken.
Da Lektorat immer auch Mentorat bedeutet, schauen Lektor:innen, ob es Motive gibt,
wiederkehrende Themen, die in ihrer Bedeutungsvielfalt und Plastizität weiter
ausgearbeitet werden können. Was sind die Fragen, die den Schreibenden unter den
Nägeln brennen? Was sind die Themen, in denen ihre eigene Stimme am besten zur
Geltung kommt? Wovon lassen sie lieber die Finger, weil etwas Bestimmtes in einem
Manuskript nirgends Korrespondenzen findet und zu sehr herausfallen würde?
So ergeben sich nach und nach auch die inhaltlichen Bausteine; wünschenswert
wäre eine spannende Dramaturgie im Aufbau des Ganzen, das schlussendlich
entstehen soll.
Weitere Fragen während des Arbeitsprozesses sind diejenigen nach der Offenheit
bzw. Verdichtung der Texte: Wie kryptisch und offen darf es sein, um nachvollziehbar
zu bleiben? Sind Verklammerungen und Verschachtelungen der Motive in sich
stringent oder taucht etwas auf, das zu sehr herausfällt, obwohl dies nicht
beabsichtigt ist? Diese Frage stellt sich nicht bei Gedichten, die bewusst irritieren
oder gar unzugänglich bleiben wollen; im rein Subjektiv-Privaten verharren möchten.
Gehen die Bedeutungsebenen und Interpretationen bei der Lektüre eines Textes
doch immer über die Intentionen des Autors/der Autorin hinaus, so ist es dennoch
ratsam, Bedeutungen nicht komplett zu verändern, bzw. zu verschieben.
In allen Formen der Dichtung ist das Streichen eine der wichtigsten Aufgaben der
Lektor:innen. Wir streichen, um zu verdichten; um zu bündeln, um nicht gewollte
Redundanzen zu entfernen; um pointierte Schlussverse zu gestalten ohne
weiterführende Erklärungen.
Während der Diskussion mit den Autor:innen schulen wir deren eigenen Blick hin auf
die Frage: Wann kann ich meinen Text so stehen lassen? Ja, jede/r, die/der
lektoriert, lernt selbst etwas für die eigene Schreibarbeit dazu. Und immer wieder
sollen die Schreibenden zum Experiment ermutigt werden. Ungeübte meinen häufig,
in der Lyrik etwas erklären zu müssen. Diesem Hang gilt es entgegenzusteuern.
Aber es bleibt ein Balanceakt. Niemals sollte man den Stil gänzlich verändern. Dies
kann nur als spielerisches Experiment stattfinden, um die Grenzen des eigenen
Schreibens ins Fließen zu bringen und zu erweitern. Auch muss die lektorierende
Person jegliche subjektive Geschmacksurteile hintanstellen. Das Subjektive
auszulassen, ist der einzige Weg, eine annähernde Objektivität zu erreichen und
dem je Individuellen gerecht zu werden und respektvolles Arbeiten zu ermöglichen.
Deshalb ist es nötig, sich der eigenen Subjektivität bewusst zu werden; was ist der
subjektive Geschmack der Lektorin/des Lektors; davon muss abstrahiert werden.
Denn mag jemand z.B. keine Reimgedichte, so können diese dennoch eine hohe
Qualität aufweisen, die einem zugänglich bleibt, wenn das eigene Geschmacksurteil
zurückgestellt wird.

Sonja Crone