Briefwechsel zwischen M. Roloff und T. Amslinger

Von: Marcus Roloff
Betreff: Re: ball, hugo
An: Tobias Amslinger

lieber tobias,

dass ein hugo-ball-projekt geplant ist, freut mich, und auch dass ihr euch zb ein e-mail-gespräch über dessen konversion zum katholizismus vorstellen könnt. ich mir auch.

ich bin nun alles andere als ein ball-spezialist, habe ihn allerdings als äußerst spannend in erinnerung (kenne eigentlich nur eine handvoll dada-gedichte).

das katholische berührt mich allerdings direkt (u. a. weil ich eine konvertitin als mutter hab), allein dass ball ein größeres projekt zum thema frühchristliche therapieformen und exorzismus geplant hat, scheint mir aus heutiger sicht großartig entlegen und gerade deshalb hochinteressant; leute wie origines, tertullian oder augustinus stehen da pate.

jetzt hugo ball: ausgewählte schriften!

herzlich,
marcus.

 


Von: Tobias Amslinger
Betreff: FORM oder INHALT?
An: Marcus Roloff

Lieber Marcus,

was ich mich frage: Ist es ein rauschhafter Aspekt des Katholizismus’ – das Überborden der FORM, die Liturgie, der Weihrauch usf. –, der den Dadaisten Ball angezogen hat? Ich selbst bin evangelisch getauft und zwischen schmucklosen weißgetünchten (zumal: dörflichen) Kirchenwänden aufgewachsen. An der katholischen Messe hat mich dagegen immer die FORM, das Theater, fasziniert. Ich glaube, wenn man sich ganz in diese FORM, in das Ritual hineinbegibt, dann passiert sehr viel mit einem – ganz unabhängig von allen INHALTEN.

Im Beitrag von Michael Braun über Hugo Balls Sympathie für Bakunin deutet sich dagegen eine andere Richtung an:

»In einer seiner kühnen Volten koppelt Ball hier den Erfolg der kommunistischen Idee an die Existenz einer religiös und vor allem katholisch grundierten Gesellschaft. Einen sozial verwirklichten Kommunismus kann es für ihn nur geben, ‚wo eine starke religiöse, katholische Tradition vorgearbeitet hat‘.«

Das könnten zwei mögliche Erklärungen sein: Einerseits das private, rauschhafte Empfinden der katholischen FORM – vielleicht die Gemeinsamkeit des künstlerischen mit dem religiösen Ausdruck? Andererseits die Sehnsucht nach einer öffentlichen, gesellschaftlichen Utopie, deren Voraussetzung Ball im INHALT des Katholizismus’ sieht.

Ganz herzlich aus Berlin
Tobias

 


Von: Marcus Roloff
Betreff: ewiges wort
An: Tobias Amslinger

lieber tobias,

nun, ich versteh mich eher schlecht auf utopismus und gesellschaftstheorie im engeren sinn, etwas, das ball ganz sicher auch vorhat; mich interessieren zunächst ganz unorthodox die theoretischen grundlagen des christentums, welt- und menschenbild im sinne von »herrgott, wie war’s denn gemeint?«, also theologisches, sämtliche mythische erzählungen, bibelauslegungen, polemiken gegen die sog. heiden (deren rekonstruierte fassung des (neu)platonikers celsus gegen die christen, matthes&seitz 1984, auch wichtig ist), und das alles unter dem oberbegriff oder der von anfang an verzweifelten prämisse der ERLÖSUNG. (gibt ja übrigens neben ball auch noch andere biografiebeispiele von autoren, die sich irgendwann dem katholizismus zuwandten: f. schlegel oder clemens brentano, die, glaube ich, ähnlich wie ball angesichts einer auseinanderfallenden welt etwas rettendes darin sahen.)

dieser gedanke, dass endliches elend sich ins ewige licht wirft, ist, inklusive aller mystischen spekulationen – schlicht ein wahnsinn, und der interessiert mich. das katholische daran ist ja seit 500 jahren ein anderer wahnsinn, nämlich der der hundertfuffzichprozentig STATISCHEN rückbindung (religio) an den urschleim (text), die jenseits von gegenwart den deckel auf jede art relativierung/zeitgemäßheit (= moderne) draufhält. also dieser ewigkeitsanspruch interessiert mich auch, der an das WORT, das ewig einmalige, ewig unverrückbar feststehende, erhoben wird. was ist das für ein sprachbegriff? das ist ja eben die mystik, an der der katholizismus festhält, unhintergeh- oder -fragbarer ausdruck unveränderbarer wahrheit (seliger lallender schau etc., grundansatz christlicher mystik, wär mir eigentlich lieber, weil das so viel möglichkeiten enthält, jedenfalls der form nach). das nächste ding: der wahrheitsbegriff! das GANZE, also das, was ursprünglich erdacht war, ist ein misslungenes projekt (s. paradieserzählung), aber das EINZELNE LICHT leuchtet. vereinzelung, sterblichkeit, fortpflanzungsdirektive etc., aus dem garten wurde die platonische höhle.

interessant, dass dich zunächst die FORM fasziniert, das katholische gewand (die bessere show), was ja diese rückbindung an die (ironiefreie) wortmystik widerspiegelt.

herzlich,
marcus.


Von: Tobias Amslinger
Betreff: Lautpoesie und Ekstase
An: Marcus Roloff

Lieber Marcus,

nachzudenken wäre auch über Hugo Balls Krippenspiel: Ball nimmt die Geschichte der Geburt Jesu und kleidet sie in dadaistisches Gewand. Ist das Spott? Ist das Verehrung? Geschrieben wurde das Krippenspiel 1916, lange vor der eigentlichen – wenn man sie so nennen mag – »katholischen Phase«. Wo also liegen die Wurzeln für die Konversion zum Katholizismus?

Ein weiterer Gedanke betrifft die Beziehung zwischen Dadaismus und Religion, insbesondere zu ekstatischen Strömungen wie den Pfingstgemeinden: Valeri Scherstjanoi wird nicht müde zu betonen, dass Hugo Ball eben nicht der Erfinder des Lautgedichts war, und stellt dagegen etwa den berühmten Pastor Paul, dessen Predigten glossalische Elemente enthielten. Diese sind auf den ersten Blick kaum von der dadaistischen Wortproduktion zu unterscheiden:

»schua ea, schua ea,
o tschi biro ti ra pea
akki lungo ta ri fungo
u li bara to ra tungo
latschi bungo ti tu ta.
«

(mehr dazu in einem Vortrag von Thomas Macho)

Das Phänomen der Zungenrede (Pfingstwunder) ist ein Ur-Christliches, später dann aber mehr eine pietistische denn eine katholische Erscheinung. Trotzdem: spielt das nicht eine Saite in Balls Religiosität an? Ist in der Litanei / in der Glossolalie / im Lautgedicht nicht etwas Ekstatisches, Rauschhaftes enthalten, das mit Balls Interesse für die katholische Mystik korrespondiert?

Andererseits gibt es den großen Gegensatz: Die Glossolalie, die ekstatische, bedeutungsfreie Rede als größtmöglicher Gegensatz zur unverrückbar festen Bedeutung des (göttlichen) Wortes.

Bewegt sich die Kirche, bewegt sich Ball zwischen diesen Polen?

Fällt er, durch seine Konversion »vom Dadaisten zum Katholik«, vom einen ins andere Extrem?

Tobias

 


Von: Marcus Roloff
Betreff: Die religiöse Konversion
An: Tobias Amslinger

lieber tobias,

zwei zitate aus die religiöse konversion (1925):

– »Die Kirche allein bietet Widerstand. Ihr souveräner Lebenswille bezwingt den erstickenden Relativismus.«

– »Daß für das Konvertitenproblem die Erfahrungen des Katholizismus nahezu ausschließlich in Betracht kommen, wird niemand bestreiten.«

ich kam auf den gedanken, dass ball nie nicht katholisch war; und dass er in dada einen unabschließbaren riesenraum im formalen sah, das gelall des geschöpfs in richtung schöpfer, also größtmöglich allgemein, ganz mathematisch: größtmögliche annäherung an die liegende acht, glossolalie als von semantischer (unter anderem) bevormundung entschlackt …

auffällig auch, wie kurz er nur dabei war, das cabaret voltaire gabs nur wenige monate. also alles nur probierter ausdruck, der sich eben wegen der absenz einer verabredeten konventional-semantik extrem schnell totlaufen kann/konnte.

herzlich,
m.
 


Von: Tobias Amslinger
Betreff: Vom Dadaismus zum Katholizismus
An: Marcus Roloff

Lieber Marcus,

mir scheint, es ist auf jeden Fall was dran an der These, dass der bedeutungsfreie Raum des dadaistischen Textes in eine Art Unendlichkeit führt: er reduziert das Wort, den Satz, den Vers nicht auf eine profane Aussage, sondern ist in alle Richtungen lesbar. So lässt sich die Glossolalie im eigentlichen Sinne (ich denke an das Gelalle des Pastor Paul) als ein Ausbruch aus der starren Klarheit des Protestantismus/des verkommenen rationalistischen Alltags begreifen, hinein in eine transzendente »Harmonie mit dem Unendlichen« – um mit Ralph Waldo Trine zu sprechen, einem höchst sonderbaren Amerikaner, der zu den Lieblingsautoren des Expressionisten Stramm gehörte.

Die Frage ist nun allerdings, ob Ball selbst ein derart mystisches Erleben im Auge (im Ohr) hatte, wenn er einen Text wie »Karawane« schrieb. Ist sein Dadaismus mystisch? Mir scheint, es gibt da zwei Seiten: Einerseits durchzieht sein dadaistisches Schaffen natürlich eine närrische Freude an der Provokation, die man nicht als religiös aufgeladen, sondern vielleicht eher als postpubertär bezeichnen möchte. Ball war ja gerade mal 20 Jahre alt, als er das Eröffnungsmanifest im Cabaret Voltaire vortrug. Und darin fallen Sätze wie die folgenden:

Dada: »Im Deutschen heißt’s Addio, steigts mir den Rücken runter.« – »Ich will meinen eigenen Unfug.« – »Dada ist der Clou. Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.« – Der letzte werbesprachliche Satz dürfte damit provoziert haben, dass er den Erhabenheitsanspruch von Kultur konterkariert mit dem Profansten einer Populärkultur, der Reklame. Ist das pubertär? Im avantgardistischen Fetischismus zeigt sich ein Generationenkonflikt beispielsweise auch, wenn Marinetti Zigarettenwerbung in eines seiner Manifeste packt, oder wenn Claire Goll in ihrem Jupiter-Roman Neger als Werbeplakatmotive zu Ikonen erhebt. Man könnte behaupten, die erste Avantgarde wäre ein ausgesprochenes Jugendphänomen. Quasi die Negation einer Vätergesellschaft, die Unsinn bierernst nimmt und dabei einen Kontinent in den Krieg schickt.

Und trotzdem, das ist die andere Seite, wird eben doch nicht nur Unfug gewollt. Vielmehr geht es darum, aus dem WORT das »Journalige, Aalige, alles Nette und Adrette, Bornierte, Vermoralisierte, Europäisierte, Enervierte« zu verbannen und zum WORT »außerhalb eurer Sphäre, eurer Stickluft, dieser lächerlichen Impotenz, eurer stupenden Selbstzufriedenheit, außerhalb dieser Nachrednerschaft, eurer offensichtlichen Beschränktheit« zu gelangen.

Dieser Impuls, der den von jeder Bedeutung unverbrauchten Ding-Charakter des Wortes betont, ist Balls Relativismus-Abkehr in späteren Jahren gar nicht unähnlich. Als Dadaist wie auch als Katholik wendet sich Ball gegen den Bedeutungsrelativismus seiner Zeit. Als Dadaist wie auch als Katholik stellt Ball dagegen das Wort in den Mittelpunkt: hier jedoch in seiner von jeder Bedeutung, absolut unverschandelten Eigenschaft als Wort-Ding; dort in seiner absoluten, dogmatischen Bedeutung, die die Kirche ihm gab.

Diese Sehnsucht nach dem absoluten Wort, die sich in der Person Balls in zwei unterschiedlichen Ausprägungen manifestiert, spiegelt sich in dem berühmten Bild aus dem Jahr 1916, das Ball beim Rezitieren von »Karawane« zeigt: Ball trägt ein kubistisches Kostüm, das einerseits auf reine, abstrakte Formen reduziert sein will und mit der Bedeutungslosigkeit der Worte korrespondiert; andererseits erinnert das Kostüm an ein liturgisches Gewand. Ich irre mich sicher nicht, wenn ich sage, dass man die Rolle auf Balls Kopf auf den ersten Blick nicht als eine bedeutungslose Rolle, sondern als eine Art Mitra betrachtet.

Wenn Ball seine Lautgedichte liest, dann sitzt er nicht an einem Tisch mit Wasserglas, sondern er macht daraus eine kultische Handlung, die gleichwohl das Kultische nur auf formaler Ebene wiedergibt: die Worte sagen nichts, aber sie sind in Ihrem Un-Sinn absolut, das Kostüm besteht nur aus geometrischen Formen, aber es ist doch eine Art Priestergewand.

Der Katholik scheint also im Dadaisten Ball formal vorbereitet gewesen zu sein. Die Erkenntnis, dass das rein Formale auf Dauer nicht ausreichend ist – Du hast auf das kurze Bestehen des Cabaret Voltaire verwiesen –, führte konsequenterweise dazu, an die Leerstelle des bedeutungslosen Wortes das Dogma der Kirche zu setzen. An die Stelle des absoluten Un-Sinns tritt der absolute Sinn.

Herzlich aus Berlin
Tobias

 


 

Von: Marcus Roloff
Betreff: aus EINEM guss
An: Tobias Amslinger

lieber tobias,

genau, dieser zusammenhang sollte kenntlich gemacht werden, wenn man über den ’späten‘ ball redet: es ist eine aus EINEM guss geschmiedete existenz (eh daseinsprinzip), und die konversion nichts als in diesem sinn logische konsequenz. nicht der einbruch des ganz anderen, sondern unterschwellig angelegte muster formen sich da aus; was das allerdings für ball konkret heißt, können wir hier nur schlaglichthaft hersetzen.

es gibt ja eigentlich keine leere, das was sich dennoch auftut in jeder erfahrung, die leerstelle, die ist man selbst; DADA ist vielleicht schon eine art verzweiflung daran, dass sämtliche sinn-angebote (weit-und-breit) dieses ich und sein ‚innerhalb‘ nicht, aber auch nicht annähernd, ausfüllen können. balls mentalitätskritik (die ihm viele feinde beschert hat) grätscht da natürlich voll hinein, um aufzuzeigen, dass es nicht bloß um irgendein vor sich hin träumendes dichtendes oder sonst wie (un)glücklich handelndes ich geht, sondern um die klärung von zusammenhängen, die zurückliegen und auf eine art von geschichtsschreibung zurückgehen, die alles andere als sicher ist vor normierenden interesse(nten)gesteuerten zugriffen.

zurück zur konversion. sein aufsatz »DIE RELIGIÖSE KONVERSION« ist eigentlich die rezension eines religionspsychologischen werks, und das ist auch der aspekt, um den es sich argumentativ dreht: der frischgebackene freudsche vokabelschatz dient ball zur erhellung des kerngedankens ‚konversion ist gleich sublimation‘. kurz: entschlackung, hebung des triebkonglomerats in lichtere sphären. das ist ganz alt. zwischendurch hat es auch spinoza (vor nicht unähnlichem hintergrund, allerdings natürlich im versuch, allgemeingültig zu sein und natürlich auf keinen fall katholisch) in einer ganzen abhandlung auf den punkt gebracht. diese platonische intelligibilität ist raffiniert und soll das immertätige streben ankurbeln. nicht nachlassen. klar, ethik; du sollst die schau herstellen. und das heißt, du musst entsprechend leben: demut / armut / keuschheit. am relativen anfang steht augustinus: christus statt platon! (glaube – liebe – hoffnung.)

der dreh ins katholische nun bei ball ist mit rauschbegriffen eher nicht zu fassen: der der konversion zugrundeliegende höhere liebesbegriff sei AGAPE und nicht EROS; agape sei die eigentlich klassisch platonische liebe zur weisheit, die das ego überwindende, frei hin(auf)strebende liebe (zu gott). »Agape und Eros sind streng geschiedene Dinge, und wo das Wort Liebe im Katholizismus erhoben wird, bedeutet es entweder Inbrunst und Hingabe als eine der Durchdringung des offenbarten Geheimnisses dienende Leidenschaft, oder Mitleid und Barmherzigkeit als eine der Gesellschaft gewidmete Tugend, niemals aber persönliches Wohlgefühl im Sinne eines … Sinnesrausches.« das rauschhafte allerdings betrifft durchaus die mystische rede, das kopflos klare berichten von der schau …

dein toller satz »An die Stelle des absoluten Un-Sinns tritt der absolute Sinn« erscheint mir – zurückgekoppelt mit dada – komplett stimmig.

mit pfingstgrüßen!

herzlich, m.

 


Von: Tobias Amslinger
Betreff: back to the roots
An: Marcus Roloff

Lieber Marcus,

ich schrieb Dir kürzlich, was ich an Gedanken zu Balls kubistischem, priesterhaften Kostüm hatte. Klar, das ist seine Verkleidung. Aber wie verhält sich Ball in dieser Verkleidung? Wie trägt er seine Lautgedichte vor? Distanziert er sich ironisch davon, weil es eben eine Verkleidung ist? Oder gibt es doch ein Element, das man als mystisch/rauschhaft/feierlich/sakral bezeichnen könnte? Nun stieß ich auf eine Äußerung Balls über seinen ersten Auftritt im kubistischen Kostüm am 23. 6. 1916:

»Ich merkte sehr bald, daß meine Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden Preis) dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein. … Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen [!] des Morgen- und Abendlandes wehklagt. … und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als ein magischer Bischof [!] in die Versenkung getragen.«

(In: Die Flucht aus der Zeit., zit. n.: Der Künstler und die Zeitkrankheit, S. 435)

Das bestätigt die These, dass das Katholische in Balls Wesen latent immer vorhanden gewesen war, und dass die Kunstäußerung völlig nahtlos in eine quasi-sakrale Handlung übergehen kann. In »Die religiöse Konversion« spricht Ball im Übrigen davon, dass es keine »plötzliche Konversion« geben kann. Jeder Bekehrung gehe ein langer Entwicklungsprozess voraus (selbst bei Paulus, sagt er!). Und, das muss auch noch einmal betont werden: Wikipedia spricht zwar davon, dass Ball in einer »gutbürgerlich-pietistischen Familie« aufwuchs und dann später zum Katholizismus konvertierte, aber das ist natürlich Unsinn. (Meine Korrektur des Artikels wurde leider gleich wieder rückgängig gemacht.) Die Fakten sind: »B. wuchs in gutbürgerl. Verhältnissen einer streng kath. Familie[!] auf« (vgl. Killy, Bd. 1, S. 300); »Die Mutter sorgt für eine streng katholische Erziehung.« (Der Künstler und die Zeitkrankheit, S. 424) Ball selbst konstatiert: »die Konversionskrise ist nur eine Episode in einem meist bis zur Kindheit zurückführenden Ablauf.« (»Die religiöse Konversion«, S. 347).

Seine »Konversion« besteht also nicht darin, dass er vorher etwa protestantisch gewesen wäre. »Conversio« meint ganz allgemein die »Umkehr« vom falschen Weg, d. h. aus der Sünde (»Weil ich den rechten Weg verloren hatte«, heißt es bei Dante.) – Ausgangspunkt scheint eine Verirrung zu sein, auf jeden Fall aber ein »Schmerz« (im Falle Balls: die »Zeitkrankheit«?) Die Konversion ist eine Art Reinigung, die eine »Vereinfachung der seelischen Ökonomie« erzeugt (343), indem sie den »verdrängten Glauben« befreit (357).

Witzig, wie Ball in dem Aufsatz die Sprache von Freud und Konsorten aufgreift, und z. B. von »Infantilkomplexen«, also den ureigenen, kindlichen Glaubenskräften spricht. Der Glaube ist nichts, was dem Konvertiten neu gegeben wird, sondern etwas, das verschüttet war, und zu dem er nun zurückfindet. Und neben dem Glauben, das finde ich bemerkenswert, kann das wissenschaftliche Denken nach wie vor in aller Klarheit stattfinden. Ball verklärt nichts; er nimmt sogar die Halluzinationen der Mystiker auseinander. Diese seien nämlich gar keine Halluzinationen, sondern bloß nervöse Ausnahmezustände, die sich »bei 7,8 Prozent Männern und bei 12 Prozent Frauen« (374) fänden. Mystizismus ist keine Krankheit, nichts Absonderliches, sondern eigentlich etwas ganz Normales – findet man zu seinem Glauben zurück.

Der Mystiker hat außerdem erotisch aufgeladene Glaubenserlebnisse. Es gibt also wirklich ein rauschhaftes Element. Aber in Balls Augen ist das nicht das Entscheidende: »Bei dem wahren und endgültigen Konvertiten … ist der Sieg über den Eros eine Quelle neuer Aktivität und einer gesteigerten und gehobenen Lebensform.« (371) Das Ziel ist Sublimation.

Noch ein letzter Hinweis auf die Konversion speziell des Dichters, und dann soll es auch gut sein mit der Erbsenzählerei: »Ein Dichter [konvertierte], als er die letzte Gründe des Wortes in seine Wurzel verfolgte und sie im Logos des Evangelisten beschlossen fand.« (345).

Da ist sie wieder: Balls Suche nach der absoluten Bedeutung des Wortes.

Tobias

 


Von: Marcus Roloff
Betreff: mortifikation als springender punkt/erhebung
An: Tobias Amslinger

lieber tobias,

es ist wirklich fast komisch, wenn ball ‚physiologisch korrekt‘ versucht, die sog. mortifikation des körpers zu behandeln; den »genitalen Sekretions-Determinismus« gelte es zu durchbrechen, letztlich – und das ist dann keinesfalls komisch – gehe es um »die Steigerung des Normalen«, das ist der springende punkt. erotik ja, aber (strenggenommen) zweckentfremdet, als mittel sich in trab zu halten (körper als ernergiebündel) und gleichzeitig drüber hinaus zu kommen. die gedichtzeile, die mir da einfiel (»ich habe außer meiner sprache keine mittel meine sprache zu verlassen« (s. anderson)), formuliert abgewandelt, wenn man sprache durch ‚körper‘ ersetzt, glasklar das entsprechende mysti(zisti)sche programm.

im (unvollendet/unveröffentlicht gebliebenen) vorwort (1922) zum byzantinischen christentum gibt ball abseits von psycho-/physiologie über die motive seiner ‚umkehr‘ auskunft: er habe mit der »kritik der deutschen intelligenz« nur negation betrieben und stelle ihr mit b.c. das positive gegenstück an die seite, d. h. eine »berauschte [!] Theologie, eine Gotteslehre, in der ich alle höheren Werte zu sammeln und zu begründen suche, kommt überschwenglich zum Ausdruck. In autoritären Formen. […] Ich sehe [die Kirche] nicht mehr außerhalb der großkirchlichen [= katholischen, M.R.] Tradition […]«, zu dieser kehre er zurück, weil ihm »alle ‚evangelische‘ Rebellion der Reformatoren als eine willkürliche historische Konstruktion« erscheine, und diese tradition begründe sich in der zeit »der großen christlichen Kirchenväter«, im »Urchristentum« samt byzantinisch-östlicher ausrichtung, das einen ausgleich bedeute »zwischen christlichen und hellenischen Idealen«. auf dieser tradition beruhten nicht nur »unser edelster Besitz und unsere besten Güter«, sondern auch die »Einheit der Bildung, die Einheit Europas, die Einheit der Moral«.

ich denke, dass ball also keinesfalls als gescheiterter patron betrachtet werden darf, der – so die immerwiederkehrende, niemals müde werdende klassische wendung (für alle jene: verlaine und et cetera) – in den schoß der kirche zurückkehrte, sondern ein in höchstem maß stimmiges, ungemütlich bleibendes werk abgeliefert hat. es geht ihm eben nicht darum, sich »zugunsten einer willkürlichen Norm und einer in ihrem Behagen ungetrübten Banalität« (»Die religiöse Konversion«) einzurichten – auch mit etwelchem mystizismus nicht, mit rückzug in privat-esoterik nicht und verbasteltem, selbstvermessenem gottesbegriff nicht. sondern es geht ihm darum, dieses riesengebäude tradition, das verstaubt und durchlöchert, zerschossen und abgeräumt hinter uns steht, zu betrachten (sich ihm zuzuwenden) und wenigstens seinen bibliothekstrakt wiederaufzubauen. jenen einheitsgedanken stellt ball gegen eine diffus gewordene, in sich zerbrochene gegenwart, die weltkrieg eins bereits irreparabel zerstört hatte, und betont ihn nicht nur um des traditionellen willen, sondern weil sich hier am klarsten das thema der erhebung ausdrückt.

und natürlich übernimmt man dann den christlichen mythos (als ganzen: weltentstehung, gefallener engel, paradies etc), der das böse hier + jetzt auftreten lässt und nicht verbannt in ein irgendwo und damit die welt als gefährliches pflaster versteht. (exorzist als erster therapeut …)

das vorwortfragment zum Byzantinischen Christentum endet so:

»In den typischen Gestalten eines Mönches, eines Priesters und eines Engels stelle ich drei Stufen der moralischen und geistigen Erhebung dar, einer Rangordnung, die als Maßstab zur Beurteilung …«

drei punkte.

m.