Gastbeitrag von Arndt Trinko

Für manch junge „Westler“, die vor 30 Jahren nach der Perestrojka zum ersten Mal postsowjetischen Boden betraten, wurden Osteuropa und vor allem Russland zu den spannendsten Ländern der Erde. Was sie dort sahen, erinnerte sie am ehesten an Dinge, sie in alten Tagebüchern oder Romanen gelesen hatten. Aber mehr noch: sie erfuhren eine ganz anders (als im domestizierten Westen) geregelte, sich wie nach widersinnigen Gesetzen abspulende Welt des Haptischen, Rohen und Erdigen, zugleich aber Überbordenden und Beseelten. „Die Geschichten liegen auf der Straße“, wurde oft von den wenigen, aber umso gläubigeren slawophilen Reisenden kolportiert – und da war etwas dran, selbst wenn man manche Feier von Abgewracktem, manche Begeisterung an unfotogen-fotogenen Halden und Abrisshäusern, wie auch in Ostberlin damals, einem übersättigtem Wohlstandsgeist entsprungen war. Was ein Nobelpreisträger in Serbien an Besonderem, Authentischem zu finden glaubte, entdeckten andere in umso höhreren Dosen im noch entfernteren Russland, das darüber hinaus eine mythenumwobene Aura und die Widerständigkeit des Entlegenen für sich reklamieren konnte.

Doch die Literatur konnte mit dieser Wirklichkeit kaum Schritt halten, jedenfalls nicht, wenn sie wie der damals viel gefeierte Ingo Schulze dem aus solchen Erfahrungen abgeleiteten Fehlschluss eines „story-telling“-Revivals aufsass. So schön die Geschichten auch rührten, sie waren nur ein müdes Abbild der Wirklichkeit. Im Gegenteil wurde den Aufmerksamen hier vor Augen geführt, dass das Einzige, was mit diesem russischen Wahnsinn der 90-er Jahre-Wirklichkeit literarisch mithalten und ihn sogar noch überflügeln, weil „Pfähle in den Verstand“ (Chlebikow) rammen konnte, die wiederentdeckten Giganten der 20-er Jahre: Zwetajewa, Futuristen, Mandelstam – oder auch die sich Ende der 80-er formierenden „Metarealisten“ waren, die solch epischen Umbruch zu flankieren wussten mit den brummenden Fagotttönen der aus dem Untergrund und Vergessen Aufgetauchten. Man konnte in Russland ein Land entdecken, dass, vielleicht weil es erst einmal auf der Verliererseite stand, nicht nur Demut und Dunkelheit kannte, sondern auch, indem es in dieser Wahrheit der Verletztlichkeit und Aussichtslosigkeit des menschlichen Seins stand, verschwenderisch und edelmütig sein konnte, während doch überall zugleich Brutalität und schierer Überlebensinstinkt vorzuherrschen schien.
Diese Verschwendung, diese Dunkelheit konnten eine Befreiung sein, auch wenn die Erfahrung dieser oft mit Alltagsuntauglichkeit einherging. In diesem reichen russischen Panoptikum aus Lakonie und immer physisch geerdeter Metaphysik, egal ob man es in alltäglichen Gesten der Gleichgültigkeit oder in künstlerischen Werken voll schicksalsergebenem Pathos wiederfand, konnte man verloren gehen. 

Wer nun in dieses Land zurückkommt, wird erstaunt sein über die fast nahtlose Rückbildung der Gesellschaft in die Hingabe an Überwachung und Autorität. Denn gerade die neue, von allen bösen Geistern nahezu unbeleckte Generation müsste dem entgegenstehen, hätte man denken mögen. Aber sie erweisen sich als deren verlässlichste Stützen, sobald sie in die staatsstützende Kleinstruktur der Familie erfolgreich überführt worden sind – und darauf zielt alle russische Erziehung und Tradition noch immer – und mehr als je zuvor, seitdem Schulen und Medien in Erziehungsinstrumente staatstreuer Sittlichkeit zurückverwandelt werden.

Zuvor erfahren sie auf den Reisen die Welt durchaus als instabiles Gemengelage und eben nicht nur glorreiche Sehnsuchtsorte, in die emigrieren zu wollen in jede russische DNA eingeschrieben ist. Was sich im Ausland über die ersehnten Fassaden kultureller Folklore hinaus noch so bewegt und verändert, wird eher unter negativem Vorzeichen wahrgenommen. Der russische aufstrebende Mittelstand, so es ihn gibt, will aber nur das anerkennen, was erprobt, mit Siegel versehen und visuell ansehnlich ist. Gilt dem übersättigten Westen gerade das Alte, Abweichende, fast schon Vergessene und mit Patina Überzogene (bis hin zur im Eigenheim stehegenlassenen rauen Wand, dem am kecken Kinn wuchernden Dreitagebart) als das Authentische, ist im europäischen Osten oft gerade das echt, was, von Ikea bis zu Boss, industriell vereinheitlicht und als niet- und nagelneu staubfrei in die Fächer sortiert wurde. Dass zu diesem Neuen, um noch irgendwas Echtes zu haben, eine Prise Freiheit und Unerwartbarkeit gehörte, wird negiert. Damit sind Russen freilich nicht völlig allein, weltweit schnappen die zum Unmündigen mündigen BürgerInnen nach einem entfremdeten Arbeitstag gern in gesäuberte und bereitgestellte Schablonen ein; durchaus verständlich, will man nicht durch Reibung noch die letzten Ressourcen verlieren. Was kann auch schon jenseits der Trampelpfade auf einen warten? Vielleicht hat mancher sogenannte eindimensionale oder Durchschnittsmensch (wie auch immer er oder sie bezeichnet wird und was auch immer das sein soll) einfach einen wacheren Instinkt hinsichtlich dessen, was menschliche Kräfte vermögen. Abenteuer und Kriminalromane, die Gruseloptionen im (un?)beschädigten Leben der Konsumenten, dürfen jedenfalls nicht an die Substanz gehen und ernsthafte Zweifel aufwerfen an der Stabilität des menschlichen Seins. Solchen Grundpräferenzen gegenüber schrumpfen vermutlich alle kulturellen Unterschiede zu Geschmacksfragen. Oder doch nicht? Gibt es nicht eine Zivilgesellschaft, verschieden Formen von Freiheit und Sicherheit, kleinen Gemeinschaften des Zusammenhalts, regionale Besonderheiten? Und gibt es sie in Russland? Auf dem Land?    

In den großen Städten Russlands, also Petersburg und Moskau, handeln die globalen Märkte und Staaten jedenfalls unverdrossen so, als würden sie Adornos Analyse der Verblendungszusammenhänge wie ein munteres Präludium zu dem Entwurf einer schönen neuen Welt der totalen Dienstleistungsüberwachungsgesellschaft auffassen. Wenn das einst durch Technik und Ingenieurswesen zu Wohlstand gekommene Deutschland währenddessen immer noch in seiner, die eigene Ausbeutungsleistung kompensierenden Naturschwärmerei und Offline-Verehrung von diesem globalen framing, das sich in Russland von Beginn an „zur Kenntlichkeit entstellte“, nicht so gerne etwas mitbekommen will, hat das nicht viel zu sagen. China ist allen Geld- und Seelenräubern in Hinsicht staatlicher Legitimierungsverfahren Vorbild geworden und dorthin lohnt der Blick als auf das, was uns erwarten könnte. Das hat auch die russische Regierung verstanden und die westlichen Touristen- und Studentenströme durch die noch konformeren und an der russischen Gesellschaft ungefährlich vorbeifließenden chinesischen Reisegruppen weitestgehend ersetzt. Der rote Platz war jedenfalls bis zum Coronavirus ein Tummelplatz chinesischer Reisebusse und die Universitäten voll chinesischen Singsangs. 

Was früher Zuckerbrot fürs Volk war, sind nun die Dienstleistungsapps, die den gesamten öffentlichen Verkehr und Handel regeln. Die Peitsche hingegen ist eine Totalreglemetierung und Abstrafungsandrohung, die diejenigen, die jegliches Gefühl für die eigene Biographie jenseits eines staatlich zwar ausgeplünderten, aber minimal abgesicherten Lebens ohnehin verloren haben und das Glück in bildbearbeiteten Trauminseln und modellierten Körperbildern finden, nur als sanfte Zügelung empfinden werden. Eine Zügelung, die die ihrem Lebenswillen gerade genug Druck gibt, um ihn vom allem gefährlichen Aufbegehren abzulenken.
Die oft in westlichen Medien angerufene russische Opposition stellt sich hingegen bei genauerem Hinsehen als Wunschdenken von Portalen wie Spiegelonline heraus: Die Dienstleistungsrebellionen, die ab und zu aufflackern und, so dringend sie auch nötig sind und Verbesserungen zeitigen können, entbehren noch radikaler als die Proteste im Westen, wo das durchaus auch symptomatisch ist, jeglichen Vermögens zu einer wirklich kritischen Analyse. Es ist zuallererst ein Kampf um künftige Privilegien (im Westen um deren Erhalt). Dass wir nie bei Null anfangen, war gewusst, aber dass die Kinder manchmal auch die schlechten Wünsche der Eltern manifestieren und ausleben, die diese sich noch besser wissend verkniffen hatten, ist mit einzurechnen in den dann doch sich erschreckend gleich bleibenden Haushalt aus Progression und Regress. 

Dabei sollte eins nicht vergessen werden: Parallel zu dem globalen immerfort sich repetierenden Endsieg eines staatsgelenkten, mit Ressourcenkriegen angereicherten Akkumulations- und Effizienzstrebens, mündend in die Angleichung aller Lebensformen (von denen allerdings die winzigen und immer unter sich bleibenden Eliten ausgenommen werden), findet im Westen eine von zahlreichen Kulturkämpfen begleitete tiefgehende Änderung innerer Haltungen statt. Was vor allem in Westeuropa und Amerika, aber mit Ausstrahlkraft auf weltweite intellektuelle und emanzipative Diskurse, vor sich geht, ist umwälzend nicht nur auf den Ebenen der Entdiskriminierung (auch wenn sie Gegenreaktionen wie Rückschläge außerhalb und innerhalb der Bewegungen zeitigt) und Emanzipierung, sondern geht noch tiefer. Das hat vielleicht Benjamin als erster diagnostiziert in seiner Verteidigung der Allegorie. Wovon nun schon seit 200 Jahren Abschied genommen wird, mit unterschiedlichen starken Interruptionen und – wie bei einem Spielsüchtigen – desto stärkeren Rückfällen, je weiter dieser Abschied ingesamt doch diskursiv fortschreitet, ist das symbolisch-ganzheitliche Denken. Wer ihm noch angehört – es sind meist gerade die Harmoniebedürftigen, die diesen Bruch besonders schmerzhaft erleben – befindet sich tatsächlich in manchen Milieus in einer Art Meinungskorridor. Der aber ist nicht so beengend, weil ihm eine Gesellschaft so enge Grenzen setzen würde, sondern weil er im Klammern an Identität ängstlich die scharfe plurale Gegenmeinung als Grenze empfindet: Seine symbolische Vereinigungssehnsucht, die immer einhergeht mit Ausstoßungsfantasien des Fremdartigen, darf sich nicht mehr endlos blähen und alles nicht Inkludierbare ausschließen, ohne sich selbst aus der Blase der Relevanz auszuschließen. Die Klage über die Enge, wir begegnen dieser Figur oft, wenn Menschen anklagen, betrifft seine eigene Disposition. Da Russland seit jeher europäische Diskurse aufgreift, um sie zu seinen Gunsten zu wenden, wird man abwarten dürfen, welche Wendung diese letzte Verteidigungshaltung des Ganzheitlichen, die Russland von der Reaktion übernommen hat und die weitläufig eingesickert ist, dort noch nehmen wird. 

Denn keine Diktatur oder Ideologie und keine Ökonomie kann die Risse im modernen Bewusstsein mehr kitten und zusammenhalten, zumal letztere die Entsolidarisierungen der Gesellschaften immerzu antreibt. Das Faszinierende an Russland war vielleicht gegen Ende der Sowjetzeit, das hier tatsächlich noch einmal das symbolische Denken zu voller Blüte kam. Und dies in keinem Werk mehr als in dem des so außergewöhnlichen Andrej Tarkowskij, der doch zugleich gerade den Übergang vom Symbol (Spiegel) zur Allegorie (Nosthalghia) mitsamt dem Versuch der gewaltsamen Rettung des Ersteren (Opfer) noch einmal wie ein Membran an sich erlebte und für alle nachzeichnete, so lebendig wie vielleicht nie zuvor. Was danach kam, war der endgültige Triumph des Allegorischen, dessen filmischer Meister wiederum in Russland siedelt: Alexander Sokurow. Doch schon bei ihm deutet sich der verzweifelte Rückgriff auf große Zwacken wie Nation und Schicksal an, doch war er schon zu weit fortgeschritten im Denken des Zerfalls: Sein Filme sind eine einzige Apologie des Allegorischen und Morbiden, eine melancholische Landschaft der Versehrten und der Leibentseelten, aus der auch phänomenal behutsam inszenierte Liebeslichtblicke nicht hinausführen. Und erst Recht keine Anleihen an Präsidentenkult oder restaurative Petitionen, die Sokurov schon mal öffentlich zelebriert. Vielleicht, so deuten manche seiner eher östlich inspirierten Filme an, erwartet uns am Ende des langen Tunnels aus Zumutungen eine quasi zen-inspirierte Feier des Augenblicks.
Von solchen Erkenntnissen ist der Rest Russlands freilich weiter als je entfernt. Hier hat das Symbolische, aber als ein zum rein Repräsentativen verkümmertes, nationalstaatlich nicht nur zusammengehaltenes, sondern erstickend umklammertes Denken die medialen und mentalen Zugänge usurpiert.

Doch wird dies Denken von seinen Statthaltern und ausführenden Organen andererseits selbst nicht zu ernst genommen. Es ist wie bei einem Revival: das so beschworene Echte, die russische Identität wird nur noch simuliert. Öfter noch hat man den Eindruck, es gehe den alle größeren Hoffnungen entsagenden russischen StaatsbürgerInnen vor allem um kulinarischen Genuss, um eine ausbalancierte Adaption von Identität in einer Art oberflächlicher Vegetation, als läge im Fluchtpunkt aller Wünsche eine Art Schweiz. Schaut her: wir sind da und leben, auch wenn wir uns besser kaum rühren. Einstweilen muss die russische Gesellschaft aber mit dem nicht ganz unbedeutenden Unterschied leben, dass die Menschen in der Schweiz – überwiegend reich – diejenigen Wenigen wählen, die sie nicht an einem zufriedenen Leben hindern, während in Russland diejenigen Wenigen, die auf hohem Niveau leben können, allen anderen die Bedingungen diktieren, die das am besten ermöglichen. Wer ein Chalet und Mitbestimmung auf seiner Seite weiß, bewegt sich anders nicht. 

Überraschend daran ist, wie umstandslos sich alle in dieses Schicksal fügen. Am „slawischen Geist“ kann das nicht liegen, zeigt doch die Ukraine ein ums andere Mal, dass auch Menschen mit zumindest ähnlichen Gewohnheiten, Mahlzeiten, Traditionen zu immerwährendem Aufruhr und Revision ihrer gescheiterten Umstürze fähig sind, wenn auch mit ausbleibendem Erfolg. Die bösartigen plattitüdischen Erklärungen lauten so: die Russen seien die Ossis unter den Brüderländern. Immer bereit, zu jammern, aber nichts zu tun, immer bereit, statt das Leben in die eigene Hand zu nehmen, es einem anderen zu überantworten, der es noch schlechter macht. Die gutmütigen Deutungsversuche, nicht weniger nur an Symptomen entlangschlitternd, dürfte man ungefähr so umschreiben: aus lauter Weltfremdheit und Überdruss an der Vulgarität des Kapitalismus hat Russland es verschlafen, rechtzeitig seinen Staatsbanditen, die die Geldbanditen vermeintlich bändigten, Einhalt zu gebieten, gelähmt durch ein geopolitisches Erbe, das als Katastrophe wahrgenommen wurde. Welches Erklärungsmuster man auch immer anlegt: es hält nicht. Es ist alles noch viel komplizierter, zufälliger in seinen Erscheinungen und zugleich unabänderlicher in seiner „Geschichte“ der auf die weitreichenden diskursiven und demokratisch-bürgergesellschaftlichen Umwälzungen reagierenden Reflexe und Ressentimentverzweigungen. Der Geschichte einer Gesellschaft, die sich zugleich mit einer ungehemmten hegemonial-patriarchalen Politik der Selbstvergewisserung arrangieren, bzw sich ihr unterordnen muss. Das Resultat aber bleibt dasselbe. Aus dieser mindestens selbsterduldeten Langeweile können nur noch die russischen Menschen selbst sich retten – und dafür gibt es nicht die geringsten Anzeichen. Als hätte sie genug Geschichten und Katastrophen gehabt, arbeitet die russische Gesellschaft jetzt an einem unmagischen Realismus mit dem Namen „Hundert Jahre Eintönigkeit“. Konventionalismus liegt wie Mehltau auf der russischen Gegenwart.
Was das für die Gesellschaft bedeutet, vor allem aber für die Kultur, die momentan jegliches Futur abgeschrieben hat und sich einzig der Vergangenheit widmen mag, bleibt dabei allerdings radikal offen. Dieser Dämmerzustand nach den wilden Wirren wird sich vermutlich genau dann, wenn niemand mehr damit rechnet, schlagartig auflösen.

Arndt Trinko