Gastbeitrag von Florian Voß

Kita – Kinder – Krise

Seit die Kitas und dann auch die Spielplätze geschlossen wurden spielen die Kinder wieder auf den Straßen wie vor fünfzig Jahren. Sie rasen mit Rollern und Fahrrädern übers Pflaster, hüpfen durch Himmel-und-Hölle-Kästen, veranstalten Blödsinn mit Wasserpumpen (die gibt es in Berlin noch immer in fast jedem Kiez), verfolgen mit detektivischen Spürnasen obskure Erwachsene.

Nur die einst so populäre Klingelpartie wurde leider nicht von Kindergeneration zu Kindergeneration tradiert. Dabei sind ja zur Zeit alle zu Hause und Klingelstreiche hätten ein williges (oder auch weniger williges) Publikum.

Seit meiner eigenen Kindheit in den 70er Jahren habe ich nicht mehr so viele und so fröhliche Kinder auf den Straßen erlebt, oder in den Hinterhöfen, oder auf den noch so kleinsten Grünstreifen am Rande der, mittlerweile wenig befahrenen, Großstadtstraßen.

Und meine fünfjährige Tochter ist mittenmang dabei. Denn auch meine Tochter darf nicht mehr in die Kita, muss nicht mehr in die Kita.

Gestern, nach mehr als sechs Wochen Ausgangsbeschränkungen, habe ich sie gefragt, ob sie die Kita vermisst. Nein, hat sie geantwortet und den Kopf geschüttelt, gar nicht. Nur ihre beste Freundin vermisst sie. Aber die könnte sie ja auch außerhalb der Kita wiedersehen, auf der Straße, vor dem Spielplatz, im Park. Wenn da nur nicht die 1,5 Meter Abstand wären.

Kurz und gut, meine Tochter vermisst die Kita kein bisschen, ganz im Gegenteil, sie genießt es, tagaus tagein mit ihrer Familie zusammen zu sein. Sie ist gut gelaunt wie nie (meine Tochter neigt sonst zu Grimm und jähem Zorn), sie entwickelt sich prächtig.

Wenn meine Frau oder ich im Home-Office arbeiten beschäftigt sie sich selbst, hört Hörspiele, legt Puzzle, spielt mit Puppen, Pferden oder Schlümpfen – und seit Neuestem jagt sie Pokémon auf dem Nintendo DS ihres großen Bruders. Ein Vorteil des Ausnahmezustands ist für Kinder, dass sie plötzlich Sachen erlaubt bekommen, die ihre Eltern vor der Krise strikt abgelehnt hätten.

Doch von den japanischen Taschen-Monstern abgesehen: Seit Beginn dieser Krise ist unser Leben biedermeierlicher geworden. Es wird gebacken, was das Zeug hält, mein elfjähriger Sohn kann mittlerweile Pizza selbst herstellen, mit Teig und Soße und allem Drum und Dran.

Die Nähmaschine, die ein gutes Jahrzehnt auf dem Schrank einstaubte (nämlich vom Tage ihres Kaufs an) ist fast schon im Dauerbetrieb – meine Frau näht fluchend Masken und mein Sohn hat die Schneiderkunst für sich entdeckt, er arbeitet seit zwei Wochen an seinem ersten Kleidungsstück, einer Weste mit Taschen, Kragen und Reißverschluss. Noch ein bisschen schief das Ganze, aber das wäre 1840 nicht anders gewesen. Übung macht den Meister, wie die Altvorderen gesagt hätten.

Derweil meine Tochter Briefe an ihre Freundinnen schreibt. Und alle Freundinnen antworten mit ebenso liebreizenden Briefen. (Schade nur, das der Postillion nicht mehr auf seiner gelben Kutsche durch die Straßen Berlins fährt).

In dieses Bild würde natürlich gut passen, wenn ich, gehüllt in meinen Morgenrock, Gedichte schriebe, denn das ist ja meine Profession. Nur – leider, leider – komme ich nicht mehr dazu. Aber die Idylle strahlt auch ohne Poesie.

Nun könnte man sagen, schön für Sie, Herr Voß, ihre Kinder sind außergewöhnlich, ihr Hintergrund ist bildungsbürgerlich, Sie selbst haben einen halbwegs gut dotierten Job, den Sie im Home-Office erledigen können. Das alles ist eine große Ausnahme. Kinder sind sonst nicht so. Kinder gehören in die Kita, andernfalls werden sie unglücklich.

Das Problem ist nur, dass ich solche Geschichten von überall her höre. Den kleinen Kindern geht es fantastisch in ihren Familien, in der Krise, außerhalb der Kita. Die kleinen Kinder freuen sich ihres Lebens.

Ich will damit nicht sagen, dass Kitas nur kinderfeindliche Verwahranstalten seien, ganz und gar nicht. Die Kita, in die meine Tochter geht, ist der Traum von einer Villa mit großem Garten und eigenem Spielplatz. Die ErzieherInnen sind fabelhaft, liebevoll, voll bei der Sache. Das Mittagessen ist selbst gekocht und größtenteils Bio. Ich kann mir kaum eine bessere Kita für meine Tochter vorstellen. Und trotzdem … und trotzdem …

Sind kleine Kinder wirklich ideal Aufgehoben in Fremdbetreuung? Oder reden wir uns das nur mit Elan immer wieder ein? Weil wir arbeiten müssen (nein, eigentlich müssen wir Geld heranschaffen, das reine Arbeiten nutzt nichts, wenn es nicht entlohnt wird, womit wir bei einem weiteren Problem nicht nur der momentanen Krise wären). Weil nicht nur ein Elternteil arbeiten muss, um die Miete der Stadtwohnung zu bezahlen (von Eigentum wagen wir nicht mehr zu träumen), weil die Kinder mit gutem Essen, Kleidung, Spielzeug und Bildung, die über die der Schule hinausgeht, versorgt werden müssen.

Damit es den Kindern in den Familien gut geht, müssen sie also weg von den Familien, zumindest sechs, sieben, acht Stunden am Tag. Und jetzt müssen sie es eben nicht mehr, jetzt dürfen sie zu Hause bleiben, bei ihren Liebsten, bei Eltern und Geschwistern (die auch zu Hause bleiben dürfen). Und augenscheinlich sind sie glücklich dabei.

Doch ist es nicht aktueller Konsens, dass Kinder in der Kita für das Leben lernen, Resilienz aufbauen, soziale Skills einüben?

Das mag schon sein, doch würden sie das nicht auch außerhalb einer Fremdbetreuung tun? Mittlerweile ist das schwer zu beantworten, denn es gibt kaum Vergleichspersonen für Studien – die Kinder, die nicht mit spätestens drei Jahren in eine Kita gehen, die sind rar gesät.

Wir müssen also auf ältere Untersuchungen zurückgreifen, zum Beispiel auf die NICHD-Studie (National Institute of Child Health and Human Development), die im Jahr 1991 startete. Leider kann sie, wie fast alles, sehr unterschiedlich interpretiert werden. Worüber sich aber die meisten beteiligten ForscherInnen einig waren: knapp ein Fünftel der Kita-Kinder sind aggressiver, als Kinder, die in ihren Familien betreut wurden. (Andererseits ist die sprachliche Entwicklung der Kita-Kinder im Durchschnitt weiter gewesen. Auch diese Münze hat also zwei Seiten. Fragt sich nur, auf welche Seite der König geprägt ist.)

Der Initiator der NICHD-Studie, Professor Jay Belsky, drückte es so aus: „Wir wissen nur: Je mehr Stunden in Betreuung, desto aggressiver. Das ist wie bei einer Diät. Fett macht fett. Weniger Fett macht weniger fett.“

Also darum jetzt wieder mehr Biedermeier? Warum denn nicht? Nicht alles war schlecht im Biedermeier. Die Bücher waren gut und wurden gelesen, die Möbel hielten Jahrhunderte (wir haben noch immer zwei Stühle in der Küche stehen) und Kalle Marx schrieb zusammen mit Fritze Engels 1847/48 das Kommunistische Manifest. Ein paar Monate später brach die Revolution aus. Das Biedermeier war gar nicht so lahm, wie manch einer denkt.

Die nächste Revolution könnte dann nicht nur gegen die Ausbeutung gehen, sondern gleich gegen den Zwang zur Lohnarbeit, gegen den Zwang, seine Kinder in die Kita geben zu müssen, auch wenn man das nicht möchte.

Und vielleicht könnte man den Kindern dann auch empfehlen, Gedichte zu schreiben, dieses abseitige Tun gar als Beruf zu wählen, weil dann auch Dichter und Dichterinnen ein Auskommen hätten, nach der Zeitenwende.

Derweil, denn es ist ja Biedermeier und wir begehren nicht auf, wird bei uns gebacken, genäht und Briefe geschrieben. Der Siegellack ist schon bestellt … bei Amazon.

Und meine kleine Tochter hat heute endlich ein Makuhita gefangen, ein niedliches Pokémon mit Boxhandschuhen, dass sich den Weg aus jeder Krise freikämpft.

Ich bin fest davon überzeugt, dass es dieses Makuhita war, das die Kanzlerin überzeugt hat, die Spielplätze wieder zu öffnen.

 

Florian Voß

 

Anmerkung: Redaktion und Autor sind sich bewusst, dass es gerade zur Zeit viele Kinder in extremen Notlagen gibt und der Artikel nur einen bestimmten Ausschnitt beschreibt. Hilfe für Kinder in Not findet man hier auf der Seite des ZDF. Mehr dazu auch auf der Seite der deutschen Welle.