Gastbeitrag von Jeanne de Reine (Zutaten)

1

Adäquat ausgedrückt: ausgerückt ad+aequus, den Dingen zu Leibe gerückt:  ад  равенвста (russisch: Hölle der Gleichheit),  ад  рабства (russisch: Hölle der Knechtschaft),  Hölle, wo eins dem anderen dient. Austausch und Funktionalität (Materialschlacht, Wimmelbilder, Bosch). Sprache ist selbst der Motor der Angleichung, des Austauschs. Täuschung.

Wollen wir auch nicht vergessen, wer der Hauptprofiteur dieser Hölle der Funktionalität und ihrer Heirat mit dem Begriff ist. Und wer sie am Leben hält:

Ein Lob den Reichen

Und gesetzt – um vorab zu warnen –
dass uns Flugmeilen, Welten trennen
ich zum Lumpenpack zähle, aber
einen ehrlichen Platz einnehme

unterm Rad alles Ungetümen
und mit Buckligen, Krüppeln speisend
– für all das, ruf ich glockenstürmend
von den Türmen: Ich liebe Reiche!

Für die welkenden Wurzelbande
ihre achtsam verdeckten Wunden
fürs Hinein und Hinaus der Hände
die die Taschen zerstreut erkunden

für die Bitten – trotz leiser Stimme
wie auf Bellen befolgt mit Nicken –
für den Ihnen verschlossnen Himmel
für die Ihnen verwehrten Blicke

darum, weil ihnen stets Kuriere
den vertraulichen Brief zuführen
sie die Nächte voll Sorgen verbringen
(und sie küssen und trinken gezwungen)

und auch weil sie mit Gold, Glanz – Gähnen
mit Diskonten, Fonds, dergleichen
mich nicht kaufen – mich Laus nicht zähmen!
sag ichs gerne: Ich liebe Reiche!

Ja, auch trotz ihrer satten Glätte
(dem Geklimper folgt stets ein Zwinkern)
für den plötzlich so hündisch-matten
(Schatten-)Blick aus den Augenwinkeln:

– jetzt mit Hebel: Metall und Eisen?
ob die Bitcoins schon kirre werden?
und für dies: dass sie unter Waisen
die Verlorensten sind auf Erden.

Wie die Fabel uns einst erzählte:
ein Kamel kam durchs Öhr gekrochen …
für die Blicke: von Angst gequälte
und bei Krankheit vor Scham gebrochen

wie bankrott: „…muss es leihen…ich würde…“
für dies lippengepresste, bleiche
„in Karat war gerechnet, Bruder …“
mein Bekenntnis: Ich liebe Reiche!

30. September 1922

Marina Zwetajewa (übersetzt von Hendrik Jackson)

2

Alles geht auf Anerkennung aus: durch Besitz, Erfolg, Macht, sich selbst, Huld, Bewunderung – aber das allergeeignetste und stärkste, aber oft wenig beachtete Mittel ist das des Ausblendens. Auszublenden, was einen klein erscheinen ließe, bis zur Schädigung der eigenen Interessen. Bis zur Wahl des Henkers, wenn sich nur partizipieren lässt am Größeren und ausblenden, dass diese Partizipation rein virtuell ist. Auch, wenn dann manche Affirmation den Charakter selbsterfüllender Propheizeiungen gewinnt. Es schien so einfach!

Souverän ist, wer Relativierung absorbieren kann.
Wie man Exklusivität konstruiert: ausblenden. Wer Relativierung absorbieren kann, kann dies, weil seine Ausblendungen nicht tangiert werden (auch philosophisches Fragen kann Ausblendungen integrieren).
Wissen, wie einer sich Raum schafft, indem er alle durch die Gesellschaft, durch Not, Anfälligkeit, Austauschbarkeit erfahrenen Demütigungen ausblenden kann.

Macht, Verbesserungsstreben (was schon eine souveränere Haltung des Anerkennens der Bedürftigkeit voraussetzt), kleine Tätigkeiten, Ablenkungen, kulturelle Tätigkeit, Hilfe – was aber immer ausgeblendet werden muss, ist die prinzipielle Sinnlosigkeit dieses Tuns. Wisse, wie eine und eine sich in ihren kleinen Mittelpunkt zentriert und vor allem, was sie dabei ausblendet – und du weißt, wie du ihr und ihm begegnen darfst. Gehören Autarkie, Kooperation, Unterwerfung, Altruismus wirklich denselben Systemen der Anerkennungsgewinnung an? Dieser Frage auszuweichen, ermöglicht gerade den Feinden der Güte (gegen die wir immer opponieren werden, um für die Güte Partei zu ergreifen), ihre Unterschiede zu nivellieren. Demselben System anzugehören, heißt nicht, es in derselben Weise zu bedienen.

3

Hat nicht jede abwertende Kritik einen unheimlichen Grund? Angst, es würde nie jemals Gerechtigkeit hergestellt werden, die allein dem Konjunktiv aus der Zukunft her ja seine Berechtigung verleiht (ein Konjunktiv, der sich nicht dereinst auflösen lassen wird, ist desperat). Adorno sprach von dieser Beunruhigung, die erst gestillt werden würde, wenn auch dem letzten ungerecht Behandelten Gerechtigkeit widerfahren würde. Was selbst Lacan zutiefst beunruhigte, war die Möglichkeit einer jouissance ohne Urteilskraft, ohne Begründung, ohne Berechtigung. Intellekt: Rache für die Unzulänglichkeit seines Wertesystems (des kritischen, unterscheidenden Wertens selbst). Das unterschiedslose Genießen gebiert den Unterschied. Der diesem Kritischen immer innewohnende Argwohn, eben nur Rache zu sein, Bemächtigung des ungehemmten Re-Agierens, Versuch der Reoccupierung der Cupidopfeile. Die Möglichkeit des Vorrangs vollkommen anderer „Wert- und Wahrnehmungssysteme“ trifft und sitzt als Angstspitze im Nacken.

4

Grat, Grade der Absetzung: wie schwer gelingende Distinktion von sich nur ins Abseits manövrierender Distinktion distinkt zu unterscheiden ist (erst Recht, wenn sie als Antidistinktion auftritt), erläutert an folgendem Beispiel. Eine Diskussionsrunde: Sloterdijk im Gespräch mit einem aufstrebenden, ehrgeizigen Junggeisteswissenschaftler – warum zieht der Geist bei Menschen, die zwar klug, aber angestrengt sind (vor Ehrgeiz oder Willen, sich zu behaupten, „mitzuziehen“ etc) sogleich in die Flucht? Dieser entsetzliche Moderator, der zwar kluge Fragen stellt, sogar weiß, dass er sie nicht „abrattern“ darf, dass ein Moment des Widerständigen, nicht Geflissenen dazugehört, aber immerzu alles schlimmer macht, z.B. indem er nun tatsächlich ungehörig daneben tritt, sich sofort zurücknimmt, wieder vorprescht, plötzlich auffallend still ist (als ob er denken würde) – und obwohl all dies auch die Anzeichen eines echt eigenen „Charakterkopfes“ sein könnten, münden sie bei ihm, mit all ihren raffinierten Wendungen in Plattitüden oder phrasenhaft klingenden Sätzen, selbst wenn sie raffiniert sind. Ist doch alles Reden bei ihm von eigenartiger Hektik befallen, die Funktionalität des Gelingensollens grätscht noch in den kapriziertesten Gedanken, ohne dass man diese Nuance des fehlenden Taktes oder jener Eleganz, die sich in Bewegung setzendes Denken erst ermöglicht, näher bestimmen könnte. Er greift auf, ohne zu ergreifen. Er ergreift, aber wird des Gedankens zu schnell habhaft.

5

Scheitern mit schlingensiefersche Chupze zu feiern („ich will das auch machen“ = scheitern können). Gelingt etwas, indem es nicht gelingt? Das wäre doch zu einfach (auch das Nichtgelingen muss gelingen). Ambiguität, die nicht einlöst, aber verspricht. Freilich gehört, um das zu sehen, oder sich offenbaren zu lassen, eine gewisse Perspektive, in der die kleinen Ruckeleien, die kleinen Risse und Verunsicherungen mitempfunden werden, ganz gleich, um wen oder was es geht. Das Scheitern ließe sich fast überall feiern. So wusste man sich auch im Mittelalter gegenüber den hohen Herren zu helfen, mit Spottgesängen des Todes.

Aber wer kein Bewusstsein hat, der kann ja nicht scheitern. Finden wir hier ein Authentisches? Der Poet muss dumm sein, sagte Puschkin. Ist das Safranzusatz zum göttlichen Risotto? (Man denke an an den „primitiven“ Fußballer Ailton, der dank seiner vollkommenen Gedankenlosigkeit, auch in der 94. Minute beim Stand von 1:1 den Elfmeterschuss – Kugelblitz! – unter die Latte dreschen konnte, als wären die Götter selbst auf dem Spielfeld erschienen.)
Aber dann auch wieder die Frage: wer liegt hier fest, was gedankenlos ist? Wer ist für wen eine reine Projektionsfläche? Kann ein kluger Kopf nicht auf seine, reflektierte Weise gedankenlos hinter einer Zeitung lauern, sich selbst zumindest uneinsichtig in seiner Borniertheit?

Diese Leere im Zentrum des Sinns, diesen blinden Fleck zu füllen wissen. Und zwar nicht mit Distinktion oder Tradition oder Autoritätssimulation. Weshalb den Elitärsten immer eine Vorliebe für das Einfache bleibt: gerade die Abwesenheit des Distinktionssurplus, das z.B. Kunst so leicht verteilt und seine Falle ist (die unredlichere Weise, Distinktionsstreben vermeintlich ächtend, distinktionsgewinnlerisch zu sein), kann die einfachen Orte auszeichnen. Etwas, dem sich Paris Hilton in allen Folgen ihrer ersten Realityshow „the simple life“ (als sie noch tölpelige Prinzessin war) noch verweigerte. Inzwischen sucht sie gerade diese Orte auf, weil sich mit einfachen Menschen ein besonderes surplus erzielen lässt. Sollten wir auch in der Reflexion zu den einfachen Wahrheiten, die die Wahrheit sein lassen, zurückkehren?
Wenn die komplexen Verstehensprozesse doch offensichtlich Unterwerfungsstrategien sind, die sich nur in ihrem Scheitern erhalten können? Machen wir also, im Einfachen wie im Komplexen, dasselbe wie Paris Hilton? Dann hoffentlich auch genauso unbewusst.