Gastbeitrag von Lutz Steinbrück

Mystisches Raunen und Polit-Pop-Poesie: Ulf Miehes Lyrik im Wandel der Zeit

Als Literat machte sich Ulf Miehe (1940-1989) vor allem mit Kriminalromanen einen Namen. Kaum rezipiert – und bis dato weitgehend unerforschtes Terrain – sind hingegen Miehes Gedichte. Als Teil seines Frühwerks entstehen die ersten um 1958, als der 18-Jährige in Bielefeld eine Buchhändler-Lehre beginnt. In seinem Wirken als Künstler, dessen Fokus ab 1970 auf Filmen, Drehbüchern und Krimis liegt, bleibt die Lyrik mithin eine an den Zeitgeist der 1960er Jahre gebundene Etappe oder Zwischenstufe auf dem Weg zu anderen, ihm adäquater scheinenden künstlerischen Ausdrucksformen. Nichtsdestotrotz punktet Ulf Miehes Lyrik nicht nur im Kontext ihrer Entstehungszeit mit einer eindringlich-prägnanten, ausdrucksstarken Bildsprache, die über die Lektüre hinaus nachwirkt.

In den 1960er Jahren sind ihm Gedichte probates Mittel und eine passende Form, um sich literarisch zu äußern. 1962 erscheint ein erster schmaler, selbst publizierter 20-seitiger Lyrikband im so genannten „Sphinx Verlag“ (Bad Salzuflen) in sehr kleiner Auflage: „Gedichte von Gertrud Höhler und Ulf Miehe“. Beide steuern je sechs Texte bei. Gedruckt wird bei Miehes damaligem Arbeitgeber, dem Sigbert Mohn Verlag in Gütersloh.

Der Sound dieser frühen Gedichte ist im ersten Band verklärt-subjektivistisch und bildsprachlich an Naturlyrik orientiert: „Sag mir, wenn die Spur des Wildes im Sommer verweht ist, / so daß ich, / wahrscheinlich im Herbst, die Verfolgung aufnehmen kann, ohne zu erröten“ (Auszug, Seite 16). Die Publikation ist nur antiquarisch verfügbar und in der Nationalbibliothek nicht als offizielle Miehe-Publikation gelistet.

Unveröffentlicht blieb Miehes 1966 finalisierte Gedichtsammlung „In diesem lauten Lande“. Diese wurde seiner Witwe Angelika Miehe zufolge zwar mit Vorbestellungen von Freunden finanziert, aber nie herausgebracht. Es soll allerdings schon Probedrucke gegeben haben.

Das Licht der Öffentlichkeit erblickte hingegen sein 1969 veröffentlichtes Buch „Ab sofort liefern wir folgende Artikel auf Teilzahlung. Eine Politpornographie“ (Heinrich Bär Verlag, Berlin). Ein wilder, vom 68er-Zeitgeist inspirierter Mix mit Collagen aus Zeitungsartikeln, Comicszenen, autobiografischen Prosa-Fragmenten, mit eigenen Gedichten, Selbstporträts, Kleinanzeigen, jeder Menge nackter Brüste und Popstar-Fotos. Zitate von Kurt Georg Kiesinger und Heinrich Himmler sind neben Songtext-Auszügen und Porträtfotos von Bob Dylan montiert. Den verehrte Miehe so sehr, dass er ihm später sein Buch „Ich hab noch einen Toten in Berlin“ widmete und seinem Idol sogar eine US-Ausgabe persönlich überreichte.

Im Buch huldigt Ulf Miehe dem US-amerikanischen Songwriter und späterem Literatur-Nobelpreisträger auch in einem titellosen Gedicht von 1969, in dem es auf Seite 60 heißt: „Also: / Gedichte kann man nicht mehr machen. / Schön. / Gedichte müssen nicht sein. / Also: / Romane kann man nicht mehr machen. / Gut. / Romane müssen nicht sein. / Viel wichtiger ist: / Der Beschiß der CBS / Die eine neue Dylan-Platte verkauft / Auf der Dylan gar nicht singt / Verdammtnochmal! / Oder Michael Koser hat recht und / Dylan ist tot und / Sie haben einen Doppelgänger eingesetzt / Oder / Er ist es doch dann / Ist er allerdings ein Stimmchamäleon. / Lay Lady Lay / Ist trotzdem ein schönes Lied. / Nur zum Zuhören. / Um eine Platte aufzulegen. / Zuhören. / Einfach so. / Jetzt glaub ich doch / Er ist es.

Dylans Songs wird eine kulturelle Bedeutung zugewiesen, die jene von Gedichten und Romanen generell weit übertrifft. Mit diesem Befund formuliert Ulf Miehe eine klare Absage an die etablierte, bildungsbürgerlich akzeptierte und definierte schriftsprachliche literarische Hochkultur mit ihrem Überlegenheitsgestus gegenüber der Pop-Musik-Kultur. Es ist die Ironie der weiteren Geschichte, dass Dylan 2017 der Literatur-Nobelpreis zuerkannt wurde, was wiederum in heutigen Literaturzirkeln breit und kontrovers diskutiert worden ist – in Hinblick auf die Wertigkeit literarischer Texte und Kriterien für deren Qualität.

Vor allem aber ist Miehes Band die ungeschönte Bestandsaufnahme einer Gegenwart, deren Widersprüche und parallel behaupteten, einander ab- und ausgrenzenden Lebenswelten und Geisteshaltungen der 27-Jährige deutlich wahrnimmt und in Bildern und Aussagen zum Ausdruck bringt. Dabei bezieht er auch selbst Position. In den Collagen kontrastiert Miehe eine allgegenwärtige kommerzialisierte, sexualisierte Konsum-, Werbe- und Warenwelt mit tradierten Moral- und Ehrbegriffen und rassistischen Ansichten der Vätergeneration. In der persönlichen, politischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der bis dahin weitgehend tabuisierten NS-Vergangenheit der Väter zeigt sich Miehe als typischer Vertreter seiner Altersklasse.

Das Gegenprogramm zu den als spießig-verklemmt und konformistisch empfundenen Lebensentwürfen der vorbelasteten Elterngeneration setzt auf politischen und kulturellen Aufbruch. Dazu gehört in Miehes „Politpornographie“ ein klares Bekenntnis zu politischen Veränderungen am System bis hin zum Aufruf zur gewaltsamen Revolte: „man muß zu ‚unerlaubten‘ Mitteln greifen, wenn man etwas erreichen will“ (S. 67). Getreu dem Sponti-Spruch „Das Private ist politisch“, flankiert Miehe literarische Beschreibungen des Alltäglichen mit radikalen politischen Statements. Daneben finden sich zahlreiche popkulturelle Referenzen einer neuen, subversiven Gegenkultur: Musik, Literatur und Filme aus dem anglo-amerikanischen Raum geben dem jugendlichen Unmut Sounds und eine Sprache an die Hand, die das Lebensgefühl vieler Unter-Dreißig-Jähriger trifft – mit dem Versprechen von Freiheit und Abenteuer, inklusive Drogenrausch, freier Liebe und neuen Formen des Zusammenlebens.

Ulf Miehe hat 13 seiner Gedichte in die „Politpornographie“ eingebettet. Einige beschränken sich auf wenige Verse, die notizhaft in knapper sprachlicher Eindeutigkeit alltägliche Situationen aufgreifen und diese reflexiv und pointiert verdichten. Etwa in diesem titellosen Kurzgedicht: „Vom Fenster aus gesehen / ist der Schnee blau draußen. / Ich weiß, daß er weiß ist. / Kein Grund rauszugehen“ (S. 45; entstanden 1969). Oder aus dem gleichen Jahr, dialogisch im Frage-Modus: „Was ist denn / der tiefere Sinn dahinter? / Ich meine: Was soll das? / Was soll was?“ (S. 83)

Da er von 1965 bis 1969 in West-Berlin lebte und wirkte, befand sich Miehe nicht nur politisch am Puls der studentenbewegten Zeit, sondern entdeckte auch das Großstadtkneipenleben als Sujet für seine Literatur. Im Gedicht „Torpedo Definitiv Nr. 306 675“ (S.16/17; entstanden 1968), das ebenfalls 1969 in einer Beat- und Pop-Anthologie junger deutschsprachiger Autoren namens „Supergarde“ erschien, reihen sich einzelne Beobachtungen bzw. Wahrnehmungen wie im Film szenisch aneinander. Wie durch eine Kamera beobachtet das lyrische Ich eine Kneipen-Szenerie: „Ich sehe / eine Tischplatte mit Brandflecken / einen halbvollen Aschenbecher / ohne den Kopf zu heben / sehe ich / eine verfettete Hüfte / sie kommt wie sie sagt aus Wien (…)“. Die Stimme wird durch diesen Blickwinkel der Hüfte zugeschrieben, die auf diese Weise zum sprechenden Subjekt im Gedicht wird. Als Form szenischen Schreibens lässt sich in dieser Art von Lyrik auch ein Vorgriff auf Miehes spätere Berufung als Drehbuchschreiber und Film-Regisseur sehen.

An anderer Stelle heißt es in diesem Gedicht: „ich höre / die Kasse klingeln / den Flipper rappeln / die Gläser klirren / die Frau reden / die Kellnerin husten / den Neger lachen / den Ventilator summen“. Erst am Ende des Textes fällt der Blick des lyrischen Ichs auf sich selbst zurück: „(…) / ich fühle / ah wie ich mich fühle / hier / hier / hier / oder auch / hier / warum / hier / sperr / ich / Augen Ohren Nase / auf.“ Miehe bleibt, wie in den meisten der „Politpornographie“-Gedichte, konsequent narrativ und prosaisch im Beschreibungsmodus. Als Stilmittel wirkt das zuweilen statisch und vorhersehbar. Darin zeigt sich aber auch sein Bestreben, wahrgenommene soziale Realität unmittelbar und lebensecht in Sprache abzubilden und dafür auf Ausschmückungen und eine Ästhetisierung des Gedichts als Kunstform zu verzichten. Stattdessen entwirft er eine Bild-Text-Collage und durchbricht das Gedicht mit optisch aufreizenden Fotos von Bikini-Modells, Frauenbrüsten und Pop-Sängern bei Live-Auftritten.

Das poetische Programm, alltägliche Wahrnehmungen mit Blick für Details und Oberflächen zu notieren und unverstellt zum Gedicht zu machen, teilt Ulf Miehe zu jener Zeit mit seinem Altersgenossen und Schriftsteller Rolf-Dieter Brinkmann (1940-1975). Die beiden hatten sich bereits Anfang der 1960er im Zuge ihrer Ausbildung zum Buchhändler kennengelernt und angefreundet; Brinkmann lernte damals in Essen. Er arbeitet in den späten Sechzigern ebenfalls mit Text-Bild-Collagen und ist bestrebt, tradierte literarische Sprechweisen aufzubrechen und zu erweitern. Auch gab Brinkmann mit Ralf-Rainer Rygulla 1969 im März Verlag „ACID – Neue amerikanische Szene“ heraus. Darin sind US-amerikanische und englische Beat- und Pop-Autoren versammelt, die auch in der Lyrik eine schnörkellose sprachliche Direktheit an den Tag legen, welche junge Literaten in der Bundesrepublik begeistert und im Schreiben und ihrer Haltung beeinflusst. Viele von ihnen sind auf der Suche nach einem radikalen Gegenentwurf zu einer Sprache älterer Nachkriegsautoren, die ihnen mit bildungsbürgerlichen Referenzen negativ aufgeladen, verstellt und verbraucht erscheint. Sie wollen ihre Lebenswirklichkeit mit neuen Mitteln künstlerisch ausdrücken.

Beispielhaft für diesen Ansatz sind Aussagen von Nicolas Born (1937-1979). Im selbst verfassten Klappentext zu seinem Lyrikband „Marktlage“ (Kiepenheuer & Witsch, 1967) will er weg von „Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern; weg vom Ausstattungsgedicht, von Dekor, Schminke und Parfüm“. Stattdessen möchte er „rohe“ Gedichte, aus deren „roher, unartifizieller Formulierung“ wieder Poesie werde. Für Autoren gelte es, „Dinge, Beziehungen und Umwelt“ direkt anzusteuern und Poesie nicht mit Worten zu erfinden. Er beruft sich dabei auf ein Credo des US-Lyrikers Charles Olson: „Form ist nie mehr als eine Ausdehnung von Inhalt“. Von Miehe sind zwar keine Äußerungen zur eigenen Poetik überliefert, aber seine „Politpornographie“-Gedichte zeigen deutlich, dass er im Fahrwasser dieser literarischen Strömung agierte und sie als eine Grundlage seines damaligen literarischen Schreibens begriff.

In diesem Kontext ist auch die „Dirty Speech“-Bewegung zu erwähnen, die ebenfalls aus den USA der 1960er Jahre kam und in jungen westdeutschen Literaturzirkeln Einzug hielt. Ihre Vertreter setzten bewusst obszöne Sprache ein, um in Kombination mit Nacktfotos und Porno-Illustrationen gegen die künstlerische Norm einer etablierten Literatursprache zu protestieren. In Miehes „Politpornographie“ findet sich vulgäre Sprache allerdings nicht in den Gedichten, sondern vor allem in einmontierten Sex-Kleinanzeigen und seinen Prosa-Fragmenten.

Ebenfalls in diesem Buch enthalten ist eines der stärksten, eindringlichsten und wohl auch das bekannteste Gedicht Ulf Miehes. Auf Seite 69 findet sich „Eine Sorte von Vätern“, das bereits 1962 entstand. Später wurde es in der Bundesrepublik sogar zur Schullektüre.

 

Eine Sorte von Vätern

 

Gesichter:

Verschwommen, blass;

Gutsitzende Brille.

 

Eigenschaften:

Harmlos. Ihre Arglosigkeit

Übertrifft die

Gutmütiger Haustiere.

 

Ansonsten:

Gründlich.

Im Listenanfertigen

Für Sonnabendeinkäufe,

Steuererklärungen

Und Menschentransporte.

 

Erinnerungsvermögen:

Schwach.

Bauchschuß, Bluterbrechen

Total vergessen nach 20 Jahren –

Nur für den Stammtisch

Panzerabschüsse parat.

 

Die Regierung,

Von ihnen gewählt,

Ist ihnen ähnlich.

  

Auf der gegenüberliegenden Seite prangt ein fast ganzseitiges Portrait aus einer Zeitung: Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (mit Kapitänsmütze), der speziell in dieser politischen Funktion wegen seiner NS-Vergangenheit umstritten war. Die Bildunterschrift berichtet von seinem Besuch in Kiel auf dem Zerstörer „Bayern“. Die Botschaft ist klar: Hier erfüllt ein Mann in oberster Führungsrolle seine Pflicht. Unter dem Gedicht ist das Foto eines müden Bob Dylan zu sehen, der den Kopf in eine Handfläche gelegt hat und offenbar eingenickt ist.

In diesem Text setzt sich Miehe mit der Väter-Generation auseinander und nutzt knappe, treffende Zuschreibungen, um den Typus des NS-Mitläufers zugespitzt zu charakterisieren und bloßzustellen, der in der Bundesrepublik der 1960er Jahre weiterhin funktionstüchtig ihm zugeteilte Aufgaben erledigt. Auf Sekundärtugenden geeicht, ist dieser politisch unmündige, unauffällige Schreibtischtäter und Erfüllungsgehilfe ebenso gut für Sonnabend-Einkäufe wie zur einwandfreien Durchführung von Menschentransporten geeignet. Die Gräueltaten der Vergangenheit lauern hinter harmlosen und bürgerlichen Fassaden, die Arglosigkeit suggerieren. Verbrecherische Handlungen und Kriegsleid werden negiert. Es sind Stammtisch-Helden und Opportunisten in der Tradition von Diederich Heßling in Heinrich Manns „Der Untertan“ (1914/1918). Die Typisierung schließt die Mitglieder der damaligen Bundesregierung mit ein, deren Lebensläufe generationsbedingt in die NS-Zeit fielen. Ihre Vergangenheit können sie nicht abstreifen wie einen stinkenden, alten Umhang. Sie ist ein mit ihnen verwachsener Teil ihrer Biografie und holt sie nicht nur im Gedicht wieder ein, sondern auch in Form von Protesten an Universitäten und auf den Straßen westdeutscher Großstädte Ende der 1960er Jahre.

Mit klarer, prägnanter Bildsprache bringt Ulf Miehe in diesem Gedicht zugleich das Unbehagen vieler Gleichaltriger zum Ausdruck, die mit dem Schweigen ihrer Väter hadern. Sie können die gelebte Normalität ihres Familien-Alltags nicht mit den Schrecken des Nationalsozialismus in Einklang bringen. In den Personen der Väter aber manifestiert sich beides – meist ohne, dass die NS-Zeit thematisiert wird. In diesem Sinne hat Ulf Miehe mit „Eine Sorte von Vätern“ ein wichtiges Gedicht vorgelegt, das ihn als politischen Autor und Lyriker sowie als eine ausdrucksstarke literarische Stimme seiner Generation ausweist – im Kontext jener Jahre, aber auch darüber hinausweisend in die Vergangenheit und in die Zukunft.

Sein politisches Bewusstsein für Sprache in Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse zeigt sich auch im verschachtelten „Politpornographie“-Gedicht „Springer ist nicht Springer“ (S. 52; geschrieben 1962). Darin thematisiert Miehe eindringlich und unversöhnlich die Erbschuld der Väter aus NS-Zeiten sowie Freund- und Feindbilder deutsch-deutscher Beziehungen im Kalten Krieg der 1950er und 1960er Jahre:

 

Springer ist nicht Springer

 

Geschichte (wesentlich): Aufrechnungen,

Abrechnungen. Erbfeind erledigt in

kürzester Frist.

 

Situation (sentimental): Zwei Hälften,

Wachen, Türme. (Sachlich): Einer ist taub

Und immer ist Eines des Anderen Schuld.

 

Geschichte jüngeren Datums: Unangenehm.

Aber: Ich möchte noch mal zwanzig sein.

Widerspruch (großzügig): Gutmachen

 

Nicht Wieder gut zu Machendes: Einfache

Rechnung: Bezahlt ist bezahlt. Schwere

Träume: selten, auch die pharmazeutische

 

Industrie gehörte zum Deutschen Wunder -:

Tiefer, fester Schlaf ist garantiert.

Die Beherrschten üben Verblödung.

 

Die beiden letztgenannten Gedichte von 1962 belegen zweierlei: Zum einen war Ulf Miehe bereits vor seinen Berliner Jahren politisiert und fähig, starke politische, gesellschaftskritische Gedichte zu schreiben. Zum anderen ist diese frühe Lyrik anders als die oben erwähnten direkten, alltagsnahen, einfach gehaltenen Gedichte, die Miehe Ende der 1960er Jahre schrieb. Sie ist rhythmisierter, wertender, komplexer und reflexiver in der Benennung von Phänomenen und Widersprüchen.

Eine stilistisch wie inhaltlich gänzlich andere Tonart wiederum schlägt Ulf Miehe in Gedichten an, die an seinem Geburtsort Wusterhausen an der Dosse (Brandenburg) lokalisiert sind. Nur wenige davon wurden bislang veröffentlicht. Einige stammen aus seinem Nachlass und erschienen erst nach seinem Tod, etwa zur Ulf-Miehe-Lesung und Gedenktafel-Enthüllung am 2015 im Alten Laden des Herbst’schen Hauses in Wusterhausen. Hier wurde er 1940 geboren. 1945 geht er mit seiner Mutter nach Westfalen, besucht seine Großeltern im Ort seiner frühen Kindheit aber weiterhin bis in die 1960er Jahre hinein. Miehes Vater lebte nach dem 2. Weltkrieg ebenfalls in Westdeutschland und starb 1956.

In den 16 mir vorliegenden Gedichten, die Miehe in den späten 1950er und 1960er Jahren schrieb, geht es wiederholt um das Motiv des abwesenden Vaters und um die drängende Suche und Frage nach dessen und damit auch der eigenen Herkunft und Verortung an genau diesem Ort.

 

Dosse

 

Dosse, sprich mit mir, Fluss, sprich nur

vom Vater, hier hat er gelebt. Er spürte

dein Wasser immer, tief in den Jahren versunken,

ich weiß es, Dosse, ich weiß. Red

 

mit mir, Fluss, sag, wie ist er gewesen, er

spürte lang noch den Sand deiner Ufer zwischen

den Zähnen, knirschend sprach er, Wasser im

Mund, Sand in den Zähnen, die Augen ins Dunkle

 

gerichtet, weit: Dosse, mein Fluss, Sohn komm

dort hin, tauch deine Hände ins Wasser. Fluss,

Fluss, rede. Sag, wie ist er gewesen, der Mann.

Ich frage und frage.

 

Der konkret benannte Fluss, zugleich Metapher für das fließende Leben, ist Vertrauter und Mitwisser. Als solcher wird er angerufen, um der Vergangenheit des Vaters auf den Grund zu gehen, die der Fragesteller nicht kennt. Miehe findet einprägsame Bilder und erzeugt in Kombination mit einem prägnanten Sprachrhythmus eine beeindruckende Dringlichkeit.

Auch das Gedicht „KLEMPOW SEE ~ “ lässt sich als Teil einer solchen dringlichen Suche lesen. Darin wird eine Vaterfigur zum König über Flora, Fauna und Tierwelt verklärt. Der Text liest sich zudem als Ausdruck starker Sehnsucht des jungen Autors nach einer ursprünglichen Parallelwelt im natürlichen Gleichgewicht, deren Elemente quasi paradiesisch zusammenspielen:

 

KLEMPOW SEE ~

 

Sag ich im Schilf

deinen Namen,

löschen die Fischer

die Feuer am Ufer,

wo sie lagerten, nachts.

 

Ihre Fackeln werfen

Schatten im Wald.

Ihr Schritt knirscht

in sandigen Hängen.

Es ist Gesang in der Luft.

 

Hab einen Kranz

aus Schilf für dich

wenn du kommst

zum See, in der Nacht.

Leg ihn ins Haar dir,

Schilfkranz, lege dir an

die Krone; Rohrkolben das

Zepter, erklär dich der

schlafenden Rohrdommel.

 

Gut herrschen wirst du,

dein Freund ist der Faun,

sein struppig roter Bart

zittert im Wind, wenn er

sich neigt.

 

Sanft sprichst du zu den

Vögeln im Ried, gerecht mit

den Seetieren; bist den Tieren

des Waldes bekannt. Niemand

wird stören dein heimliches Reich.

Bei Vollmond ruft die Nacht

den Prinzen aus.

 

Im überschwänglichen, bedeutungsvollen Pathos schwingen in diesen Gedichten Anklänge mit, die auf den Einfluss zeitgenössischer deutschsprachiger Lyriker wie Peter Huchel, Ingeborg Bachmann oder Paul Celan schließen lassen.

Hier und in weiteren Gedichten mystifiziert Miehe sehnsuchtsvoll Naturphänomene und -elemente und komponiert bildhafte Fabelwelten. Die Natur und die Weite des Himmels wirken hier als magisch konnotierte Sehnsuchtsorte und Perspektiven einer (un-)möglichen Flucht. Ein mystisches Raunen der Landschaft schimmert durch in diesen Texten. Es steht im Kontrast zur häuslichen Enge des märkischen Dorfes, wie etwa das folgende Gedicht veranschaulicht:

 

Bei Priegnitz

 

„Wir haben Wurzeln geschlagen über Nacht.“

Philip Roth

 

Wir haben Wurzeln geschlagen

über Nacht im stickigen Zimmer

im Haus mit dem Wappen der Pferde.

 

Nacht trug uns empor zu den Kiefern

und Föhren, übern Giebel empor des

Hauses mit dem Wappen der Pferde,

 

Sah uns der Schäfer bei Priegnitz,

stand gehüllt im zerrissenen Schafspelz;

flogen wir, gingen wir, Sand stäubte,

Gras schnitt die Beine;

 

frag uns nicht, Schäfer.

Schweig, Kiefer und Föhre.

Keilschrift des Bussards

am Nachthimmel

wies uns den Weg.

 

Anmerkung: Dieser Text erschien im Frühjahr 2020 in fast identischer Form als Beitrag in: „Ulf Miehe – Facetten eines Autors, Eine Biografie in Bruchstücken“, herausgegeben von Horst Kløver, Angelika Miehe und dem Wegemuseum Wusterhausen, Norderstedt 2020. http://www.photeur.net/index.php/design/buch

 

Lutz Steinbrück